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Essay

Pandemien und Geschichte

von Prof. Karl-Heinz Leven

Corona und Corona-Krise in medizinhistorischer Perspektive.

Die naturwissenschaftliche Bakteriologie ermöglichte nicht nur einzigartige Erkenntnisse und Entwicklungen, sondern fügte sich auch nahtlos in ein staatliches Konzept der Seuchenbekämpfung, das sich im 20. Jahrhundert zunehmend entwickelte. Dieser Prozess, der im 19. Jahrhundert begann, hat sich seither stets intensiviert und im frühen 21. Jahrhundert die Virologie in den Rang des auch politisch einflussreichsten medizinischen Fachs erhoben.

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Historische Prozesse laufen schnell und langsam ab; auf Phasen träger Entwicklungen folgen solche, in denen ein neu hinzutretender Faktor dramatische Veränderungen bewirkt. Seit Jahresbeginn 2020 sind Europa und die meisten Staaten der Welt mit der Pandemie des Corona-Virus konfrontiert, einem Ereignis, das bereits jetzt als Zeitenwende des 21. Jahrhunderts zu bezeichnen ist. In der Geschichtswissenschaft spricht man von „kontingenten“ Ereignissen, die nicht notwendigerweise, sondern „zufällig“ geschehen; hier stellt sich die Frage, ob und inwieweit Seuchen tatsächlich rein „zufällig“ auftreten oder durch die jeweilige Verfasstheit der Lebenswelt auch ermöglicht werden.

 

Fortschrittsoptimismus und „Rache des Regenwaldes“?

Vor wenigen Jahrzehnten war man in der naturwissenschaftlichen Medizin optimistisch, durch Impfungen, Antibiotika und Chemotherapeutika, ferner durch hygienische Maßnahmen und Schädlingsbekämpfung die ansteckenden Krankheiten beherrschbar zu machen oder gar vom Erdboden zu tilgen. Die Zwischenbilanz der Seuchengeschichte schien dies zu bestätigen. Die gefährlichen Pocken waren durch die Schutzimpfung mit Kuhpocken (Vakzination) 1980 offiziell ausgerottet. Es handelt sich bis heute um die einzige ansteckende Krankheit, bei der dies durch eine medizinische Maßnahme gelungen ist. In der naturwissenschaftlichen Medizin gab es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts systematische Versuche, den Erfolg der Vakzination auf andere Infektionskrankheiten zu übertragen. Die weite Palette der Impfungen gegen bakterielle und virale Krankheiten, die heute verfügbar ist und stetig vermehrt wird, lässt sich auf den initialen großen Wurf der Infektiologie, die Pockenschutzimpfung, zurückführen. Mit der AIDS-Pandemie seit den frühen 1980er Jahren ist die erwähnte optimistische Anschauung kollabiert. Die ursprünglich aus Afrika stammende, dann insbesondere auch in den USA und Europa verbreitete, gefährliche Infektionskrankheit, die für viele Jahre bei der Stellung der Diagnose als eine Art Todesurteil aufzufassen war, hat den Blick auf das Seuchengeschehen geschärft. Die häufigsten und schwersten Infektionskrankheiten wie Malaria, Tuberkulose, verschiedene virale Fieberkrankheiten der tropischen Länder aber auch vermeintlich banale Dysenteritiden, waren im Weltmaßstab zu keinem Zeitpunkt unter Kontrolle. Die Ausbrüche der vergangenen Jahre von Ebola, SARS und dem ebenfalls der Corona-Familie entstammenden Covid-19, haben zu einer neuen Sicht auf die Seuchenbedrohung geführt. Mikroben besitzen durch Mutation und Selektion die evolutionär angelegte Fähigkeit, menschliche Bekämpfungsstrategien zu unterlaufen. Anfangs glaubte man, recht bald einen Impfstoff gegen AIDS entwickeln zu können; dies ist in 40 Jahren AIDS-Forschung nicht gelungen, weil biologisch-technische Probleme unlösbar geblieben sind. In der Bekämpfung der Infektionskrankheiten wirken überdies ökonomische Faktoren. So stehen Infektionskrankheiten, die seit dem 19. Jahrhundert als „Tropenkrankheiten“ der ehemaligen europäischen Kolonien in Afrika, Südamerika und Asien aufgefasst wurden, auf der Forschungs-Agenda nicht an oberster Priorität.

Was das Auftreten und die Ausbreitung von Seuchen angeht, sei hier das Stichwort „Kontingenz“ nochmals aufgenommen. Anknüpfend an die Vorstellung, dass es in tropischen, meist ärmeren Ländern permanent recht gefährliche Seuchen gibt, ist die Globalisierung zu bedenken: primär wirtschaftlich konzeptualisiert im Sinne einer optimalen Wertschöpfungskette hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass Mikroben (leider) auch an der Globalisierung teilhaben und dass dies schon immer so war. Dies lehrt auch ein Blick in die Geschichte. Die Epi- und Pandemien der Geschichte sind daher nicht ganz so „zufällig“, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

Insgesamt kam es in jüngster Vergangenheit zu einer veränderten Wahrnehmung der weltweiten Seuchenbedrohungen. Die naturwissenschaftlich-medizinischen Fakten (Erreger, Namen der Krankheit, Gefährlichkeit, Verbreitungsart etc.) sind in ein neues weltanschauliches Erklärungsmuster, englisch „framing“, eingefügt. Seuchen verlangen stets nach einer Erklärung, die über das reine Geschehen hinausreicht und den „Sinn“ einer Heimsuchung erkennen lässt; in der Vormoderne wurde dieses Bedürfnis durch die Religion erfüllt. In der Moderne ist diese Erklärungsart nahezu bedeutungslos geworden, die Leerstelle wird, sit venia verbo, durch eine Ersatzreligion bzw. einen Religionsersatz gefüllt. Gemeint ist damit die Vorstellung, dass der Planet selbst, wahlweise vertreten durch den Regenwald oder das Klima, „zurückschlägt“ – und zwar im Sinne einer Züchtigung. Die Menschheit, so diese Vorstellung, die hier weder als falsch noch als richtig zu diskutieren ist, wird im Anthropozän durch eine höhere Instanz in die Schranken gewiesen. Die Hybris des Menschen zeitige die „Rache“ der Natur.

Die Pfeile Apolls und der Blick des Historikers

In der historisch zu überblickenden Menschheitsgeschichte sind Seuchen nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall. Schilderungen finden sich in der ältesten Literatur, beginnend mit der homerischen Ilias (8./7. Jh. v. Chr.), in der die Pest, hier im Sinne einer tödlichen Massenerkrankung verstanden, eine dramatisch entscheidende Rolle spielt. Ursache der Krankheit ist ein Frevel gegen den Gott Apoll, der mit Pfeilen, symbolisch stehend für den plötzlichen unterschiedslosen Tod, eingreift. Damit ist seuchenhistorisch ein fester Anker gegründet: die Pest als Strafe himmlischer Mächte prägt als Motiv bis weit in die Neuzeit die Deutung des Geschehens.

Handelt es sich bei der Pest vor Troja um ein Geschehen des Mythos, so schildern antike Geschichtsschreiber historische Seuchenausbrüche. Die „Pest in Athen“, dargestellt von Thukydides (ca. 460 – ca. 400 v. Chr.) in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges (Buch 2, Kapitel 47-54), ist in mehrfacher Hinsicht epochal: der Autor schildert eine selbst erlebte Krankheit in minutiöser Genauigkeit, die freilich literarisch stilisiert ist und keinesfalls mit einer modernen Kasuistik gleichgesetzt werden darf. Thukydides hat, so auch sein eigener Anspruch, den Typus einer multiperspektivischen Seuchenschilderung geschaffen; gesellschaftliche Zerfallsprozesse infolge der Ansteckungsgefahr, religiöse Deutungen und immunologische Beobachtungen gehen bei ihm Hand in Hand. An Thukydides orientierten sich nahezu alle folgenden antiken Autoren in einer im griechischen Bereich bis in das 15. Jahrhundert reichenden Tradition, aber auch moderne Autoren wie Albert Camus. Handelte es sich bei der „Pest in Athen“ um ein eher lokales Geschehen, wenn auch mit durchschlagender Wirkung, so finden sich in der Antike zwei Seuchenzüge, die als Pandemien zu bezeichnen sind. Die Rede ist von der „Antoninischen Pest“ (ab 165 n. Chr.) und der besonders verheerenden „Justinianischen Pest“ (ab 541 n. Chr.). Inwiefern die „Justinianische Pest“, vermutlich die erste Beulenpestepidemie der Geschichte, den Beginn des Mittelalters und damit eine neue Weltordnung bedingte, wird in der modernen Forschung gegenwärtig intensiv diskutiert. Am Ende des Mittelalters steht mit dem „Schwarzen Tod“ wiederum eine Beulenpest, die in der Geschichtswissenschaft als die schlimmste Katastrophe gilt, von der Europa je betroffen wurde. Erst im frühen 18. Jahrhundert wich die Pest aus Europa, um von anderen Pandemien abgelöst zu werden.

 

Transatlantischer Austausch von Erregern in der Frühen Neuzeit

Der Hammerschlag des „Schwarzen Todes“ traf Europa unvermittelt und ohne Gegenwehr. Aber gegen die Folgeepidemien, die periodisch wiederkehrend Europa heimsuchten, entwickelten die Obrigkeiten der italienischen Seestädte und nach ihrem Beispiel viele andere Städte und Länder Bekämpfungsmaßnahmen.Es wurde bereits erwähnt, dass die „Globalisierung“ kein Phänomen der Moderne ist. Die „Justinianische Pest“ war ebenso wie der „Schwarze Tod“ auf den weit über die Mittelmeerwelt ausgreifenden Handelswegen nach Europa gelangt. In der Frühen Neuzeit erreichte die „unification microbienne“ eine neue Stufe. Mit den Seefahrten des Columbus und anderer Konquistadoren erreichten die Erreger von in Europa endemischen Seuchen wie Pocken und Masern Amerika. Im Sinne eines „virgin soil encounter“, einer besonders heftig und häufig tödlich verlaufenden Epidemie auf jungfräulichem Boden, d.h. in einer Population, die zuvor niemals mit einem bestimmten Erreger Kontakt hatte, gab es Explosivepidemien unter den indianischen Nationen. Parallel zur bestialischen Grausamkeit der Eroberer bewirkten die Pocken eine Sterblichkeit, von der sich die Bevölkerung der Ureinwohner nie erholte und die nachhaltig zum Erfolg der europäischen Landnahme beitrug.

 

Cholera und Grippepandemien im 19. und 20. Jahrhundert

Während die Pocken in Amerika ihr Vernichtungswerk unter den Indianern anrichteten, wurden sie in Europa durch die eingangs erwähnte Vakzination zunächst eingedämmt und schließlich beherrschbar. Mit der Verdrängung der Pocken griffen andere Epidemien um sich. So wurde Europa im 19. Jahrhundert von vier Cholera-Epidemien heimgesucht, die wiederum im Kontext der zeitgenössischen Globalisierung zu sehen sind. Obwohl die Cholera insgesamt kaum eine demographische Wirkung entfaltete, bewirkte sie als „skandalisierte Krankheit“ einen Innovationsschub.

Am Ende des Ersten Weltkriegs, seit März 1918, forderte die Pandemie der „Spanischen Grippe“ eine enorme Zahl von Todesopfern, insbesondere in der zweiten Welle ab Herbst 1918. Die Schätzungen reichen bis zu 50 Millionen Opfer weltweit; gleichwohl ist diese Pandemie kaum im kulturellen Gedächtnis haften geblieben. Gründe sind, dass in den kriegführenden Mächten die Verluste durch den Weltkrieg jeweils viel höher waren, die Grippe in den letzten, besonders dramatischen Kriegsmonaten auftrat und vergleichsweise schnell vorbeiging. Die große Zahl der Opfer weltweit darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die durchschnittliche Mortalität zwischen 0,5 und 2,5 Prozent betrug; viele Menschen erkrankten, aber die meisten überlebten. Im 20. Jahrhundert gab es mit der „Asiatischen Grippe“ (1957/58) und der „Hongkong Grippe“ (1968/69) Pandemien, die rückschauend an die „Spanische Grippe“ erinnerten und erkennen ließen, womit in Zukunft zu rechnen sein würde. Die Corona-Pandemie 2019/2020 reiht sich epidemiologisch in diese Gruppe ein. Es ist nicht zu erwarten, dass virale Pandemien dieser Art damit ihr Ende gefunden hätten.

 

Vormoderne Erklärungsmuster für das Auftreten von Seuchen

Die naturwissenschaftliche Erklärung ansteckender Krankheiten entwickelte sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Stichworte sind Mikrobiologie, Bakteriologie und Erregerkonzept. Aus dem neuen Konzept ergaben sich bis heute fortwirkende Bekämpfungsstrategien. Seit der Antike gab es naturkundliche Erklärungskonzepte für Seuchen. Antike Mediziner vermuteten ein durch klimatische Einflüsse in die Luft gelangtes „Miasma“ („Unreinheit“) in der Atemluft, das bei allen Menschen gleichzeitig die gleichförmige Krankheit erzeuge. Hiergegen war kaum Abwehr denkbar bzw. möglich. Zu betonen ist, dass im Miasma-Konzept, das bis in das frühe 19. Jahrhundert fortwirken sollte, die Ansteckung von Mensch zu Mensch kaum eine Rolle spielte. Damit entfiel jeder Schuldvorwurf an einen Überträger. Allerdings war spätestens seit Thukydides bekannt, dass einige Krankheiten hochansteckend waren. Pestkranke, was auch immer der jeweilige Erreger aus moderner Sicht gewesen sein mag, waren gefährlich für die Angehörigen, für Ärzte und Nachbarn. Im Mittelalter wurde diese Anschauung als „Kontagionismus“ konzeptualisiert; ein Krankheitsstoff unbekannter Art, den man nie zu fassen bekam, sollte von Mensch zu Mensch übertragbar sein. In der Sache bestand zwischen Miasma-Lehre und Kontagionismus eine Verbindung, behaupteten doch beide Seiten die Existenz eines Stoffes nach der Art eines Giftes.

Aus einer Kreuzung der naturkundlichen Entstehungstheorien mit der religiösen Vorstellung der Gottesstrafe resultierte fatalerweise das Gerücht der Brunnenvergiftung. Erstmals erwähnt von Thukydides entfaltete es im Umfeld der Pest des 14. Jahrhunderts eine tödliche Wirkung und ist seither ein fester Bestandteil jedes Seuchengeschehens geblieben.

 

Quarantäne und Isolierungen als frühe Mittel der Seuchenbekämpfung

Die Bekämpfung von Epidemien folgte dem jeweils vorherrschenden Erklärungsmuster ihrer Entstehung. Wenn in der Vormoderne die Seuche als Strafe der Gottheit(en) für Sünde oder als himmlische Prüfung galt, waren naheliegender Weise Riten, Bußübungen und Bittprozessionen angemessene Mittel gegen die Krankheit. Die naturkundliche Miasma-Lehre bot gewisse Ansatzpunkte für Gegenmaßnahmen; da „Unreinheiten“ der Luft als ursächlich gesehen wurden, versuchte man, die Luft zu verbessern, etwa durch das Verbrennen von Aromata. Auch eine innere Abhärtung des Individuums durch eine Art Gegengift, dem seit der Antike beliebten Theriak, einer aus vielen Ingredienzen, darunter Schlangenfleisch, zusammengesetzten Arznei, sollte als Prophylaktikum wirken. Gegen die vom Kontagionismus vermuteten Ansteckungsstoffe, die von Mensch zu Mensch übertragen wurden, half Abstand, und wo dieser nicht möglich war, Reinigung durch Essig und andere Substanzen.

Die Medizin war gegen die Pest in der Vormoderne, abgesehen von Behandlungsversuchen in Individualfällen, praktisch machtlos. Die einzigen durchgreifenden Gegenmaßnahmen gingen von städtischen Gesundheitsbehörden aus, die sich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, während der Nachfolgewellen des Schwarzen Todes zunächst in italienischen Stadtrepubliken bildeten. Da Pest mit „Unreinheit“ zusammenzuhängen schien, gab es (proto-)hygienische Maßnahmen zur Stadtreinigung, etwa was den Umgang mit Fäkalien oder Tierabfällen anging. Hinzu kamen Abschließungsmaßnahmen, nach außen und nach innen: die Quarantäne (frz. quarantaine, ital. quaranta giorni, „vierzig Tage“) bedingte eine 40tägige Isolierung von aus fremden Häfen einlaufenden Schiffen, Mannschaften und Waren. Pestfälle in den Städten selbst wurden im 15. und 16. Jahrhundert in ihren Häusern isoliert, dieselben verschlossen und bewacht; Erkrankte wurden auch in spezielle Pesthäuser eingeliefert. In den periodisch auftretenden Pestwellen bildeten sich regelrechte Pestordnungen heraus, die in Seuchenzeiten routiniert in Kraft gesetzt wurden. Entscheidend für die Wirksamkeit war, dass die Exekutive entsprechende Zwangsmittel einsetzte und auch Strafen verhängte. Dass die Absperrmaßnahmen tatsächlich die Pest einzudämmen vermochten, wurde seit der Frühen Neuzeit vielfach deutlich; allerdings gab es immer Versuche, die Anweisungen der Obrigkeiten zu unterlaufen, da Quarantäne und Isolierung den Handel schädigten. Dass die erwähnten religiösen Vorstellungen mit den rational motivierten Hygiene- und Isolierungsmaßnahmen kompatibel waren, erkennt man daran, dass in den Pestordnungen auch moralische Anweisungen wie das Verbot des gotteslästerlichen Fluchens enthalten waren.

Erfolge im Kampf gegen Seuchen durch Impfungen

Die skizzierten unspezifischen Maßnahmen der Seuchenabwehr wurden im Fall der Pocken im frühen 18. Jahrhundert überwunden bzw. auf eine neue Stufe gehoben. Die von Lady Mary Wortley Montagu (1689–1762), der Frau des britischen Botschafters in Konstantinopel, 1721 aus der Türkei nach England mitgebrachte Methode der „Variolation“ (von variola, „Pocken“) oder Inokulation, zeitgenössisch als „Einpropfung“ (engl.: engrafting) bezeichnet, bot eine erste spezifische Abwehrmaßnahme, die allerdings noch recht gefährlich war. Hingegen war die von dem englischen Landarzt Edward Jenner (1749-1823) seit 1796 entwickelte Kuhpockenimpfung („Vakzination“, von lat. vacca, „Kuh“) ein sicheres und nahezu ungefährliches Prophylaktikum. Mit dieser Methode, so Jenner zutreffend prophetisch, ließen sich die Pocken ausrotten. Bemerkenswert ist, dass die phänomenal effektive Vakzination auf einer vormodernen, aus naturwissenschaftlicher Sicht unzutreffenden Hypothese basierte. Jenner glaubte, die Pocken seien durch ein „Gift“ (engl.: poison bzw. lat. virus) verursacht, das durch Ansteckung von Mensch zu Mensch weitergegeben würde.

Gesundheitsbehörden in Europa erkannten rasch den Wert der Vakzination, die vielerorts gesetzlich vorgeschrieben wurde. Das von Jenner geschaffene Instrument der Vakzination erwies sich als eines der wenigen spezifischen und hochwirksamen Mittel der Aufklärungs-Medizin und wurde von Herrschern und Regierungen in Europa nachdrücklich gefördert. Daran knüpfte sich im gesamten 19. Jahrhundert und bis heute fortdauernd ein erbitterter Streit zwischen Impfbefürwortern und Impfgegnern. Die Impfung wurde nun eine staatliche Maßnahme, die notfalls mit polizeilichen Mitteln durchgesetzt werden konnte. Wichtig war, dass die Mehrheit der Ärzte, insbesondere die Universitätsmedizin, ebenso auch die Kirche, die Impfung unterstützten. Medizinische Expertise war mit der Pockenimpfung im Aufstieg begriffen; die Deutungsmacht für Gesundheit, Krankheit und Heilmaßnahmen wuchs der mit dem Staat verbundenen akademischen Medizin immer stärker zu. In diesen Kontext sind auch die Errungenschaften der Mikrobiologie und Bakteriologie einzuordnen.

 

Fortschritte durch Weiterentwicklung der naturwissenschaftlichen Bakteriologie

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurden in der neuen naturwissenschaftlich geprägten Medizin die Seuchenerkrankungen als spezifische Infektionskrankheiten konzeptualisiert. Die Identifikation der jeweiligen Erreger führte zu Versuchen spezifischer Bekämpfungsmaßnahmen. Noch vor der Entwicklung von Chemotherapeutika nach Art des Salvarsans, das 1909/1910 von dem Nobelpreisträger Paul Ehrlich synthetisiert wurde, gab es die passive Immunisierung gegen die Diphtherie, entwickelt von Emil (von) Behring, der für diese Leistung den Nobelpreis erhielt und in den erblichen Adelsstand erhoben wurde. Die naturwissenschaftliche Bakteriologie ermöglichte nicht nur einzigartige Entdeckungen und Entwicklungen, sondern fügte sich auch nahtlos in ein staatliches Konzept der Seuchenbekämpfung, das sich im 20. Jahrhundert zunehmend entwickelte. Dieser Prozess, der im 19. Jahrhundert begann, hat sich seither stets intensiviert und im frühen 21. Jahrhundert die Virologie in den Rang des auch politisch einflussreichsten medizinischen Fachs erhoben.

Die Mikrobiologie bildete um 1900 die Speerspitze der fortschrittsorientierten Medizin  und steht bis heute in dieser Tradition. Gleichwohl war es auch in den rauschhaften Zeiten spektakulärer Entdeckungen stets so, dass die therapeutischen Durchbrüche mitunter Jahrzehnte auf sich warten ließen. Das gegen zahlreiche Infektionskrankheiten wirksame Penicillin stand erst seit den 1940er Jahren gegen Krankheiten zur Verfügung, deren Erreger man seit 1900 identifiziert hatte. Auch die wirksame Therapie von AIDS wurde erst zwei Jahrzehnte nach dem Ausbruch der Pandemie verfügbar. „Neue“ Krankheiten haben auch die erfolgsverwöhnte Mikrobiologie stets vor Probleme gestellt. Gleichwohl ist der Fortschrittsoptimismus auf diesem Feld der Seuchenbekämpfung, wenn auch in vernünftig reduzierter Form, weiterhin angemessen.

 

Das Gerücht der „Brunnenvergiftung“

Doch gilt es hier, durchaus im Kontrast zu den zuvor geschilderten rationalen Bekämpfungsmaßnahmen von Seuchen, auf die dunkle Seite der Medaille hinzuweisen. Dass Verschwörungstheorien zur Seuchengeschichte von Anbeginn dazu gehören, wurde schon erwähnt. Zu fragen ist, ob auch diese Erklärung spezifische Reaktionsformen bedingte. Im Zuge des „Schwarzen Todes“ (1347–49) wurden Judengemeinden in Mitteleuropa, insbesondere der Schweiz und Deutschland, unter dem Vorwurf der „Brunnenvergiftung“ systematisch ausgerottet. Dem Zug der Pest vorauseilend wurden unter der Folter Geständnisse von den Juden erpresst, wonach sie im Sinne einer weltweiten Verschwörung die Quellhäuser mit giftigen Pulvern verunreinigt hätten. Dieser von zeitgenössischen Ärzten als töricht bezeichnete Vorwurf hatte für die Zeitgenossen gleichwohl eine gewisse Glaubwürdigkeit, da man allgemein die Pest für eine Art Vergiftung hielt. Die verhassten Juden waren willkommene Sündenböcke; ihre Ermordung bot zudem den städtischen und landesherrlichen Obrigkeiten die Möglichkeit, ihre Gläubiger zu beseitigen und sich das Judenerbe anzueignen. Der im Mittelalter dämonologisch geprägte Glaube an Brunnenvergifter säkularisierte sich in der Frühen Neuzeit. Während der Pest in Mailand 1630, so die auf Quellen beruhende Schilderung von Alessandro Manzoni (1785-1873) in seinem Roman Die Verlobten (1827) und seiner Dokumentation Die Schandsäule (1840), wurden in einer hysterisch aufgeladenen Atmosphäre „Pestsalber“ (ital. untori) als vermeintliche Verbreiter der Pest gejagt. Es kam zu Lynchaktionen und Justizmorden. Während der Choleraepidemien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerieten von Sankt Petersburg bis Paris städtische und staatliche Behörden, insbesondere solche der Gesundheitsverwaltung und Apotheker in Verdacht, die Seuche unter den Armen zu verbreiten. Im Zuge des Terrorismus der jüngsten Vergangenheit hat sich die Figur des vormodernen „Brunnenvergifters“ als kultureller Wiedergänger erwiesen. Der tatsächliche oder imaginierte Feind des Westens ist ein von Endzeitvorstellungen geprägter Fanatiker, der auf dem neuesten Forschungsstand der Medizin Tod und Verderben verbreiten will. Hinzu kommen Gerüchte über die Freisetzung von tödlichen Erregern aus Biowaffenlaboratorien der einschlägig bekannten Großmächte. Auch hier ist ein Quentchen Glaubwürdigkeit vorhanden, das für jedes Gerücht wesentlich ist. Gerüchte sind im Kontext der Seuchengeschichte eine anthropologische Konstante. Eine aktuelle Google-Suche zum Stichwort „Corona Verschwörung“ erbringt 854.000 Suchergebnisse (Stand: 3. Juni 2020).

 

Corona 2020

Betrachtet man die im Jahr 2020 herrschende Corona-Pandemie im Kontext der Seuchengeschichte, so ergeben sich einige interessante Befunde. Wie so viele Seuchen entstammt auch Corona einem nicht kontrollierbaren Tierreservoir; es wird daher auch künftig derartige Epidemien geben. Corona ist also einerseits als kontingentes, „zufälliges“ Ereignis aufzufassen, aber auch als determiniert durch die Globalisierung. Medizinisch scheint es sich für die meisten Länder, zumindest in Europa und Amerika, um ein „virgin soil encounter“ zu handeln. Die Zahlen für Morbidität, Letalität und Mortalität von Corona bewegen sich, verglichen mit historischen Seuchenausbrüchen aber auch verglichen mit aktuellen epi- und pandemischen Infektionskrankheiten, in einem niedrigen Bereich. Gleichwohl sind die Reaktionsweisen auf die Corona-Bedrohung heftig, geradezu historisch singulär, sowohl hinsichtlich ihrer Radikalität als auch in ihrer weltweiten Anwendung. Entscheidend war hier die offizielle Ausrufung eines „Public Health Emergency of International Concern“ durch die WHO am 30. Januar 2020.

Die nahezu überall ausgeführten strikten Absperrmaßnahmen nehmen das Seuchenregiment der Frühen Neuzeit auf; in der Corona-Pandemie schlägt die Stunde der Exekutive. Seuchenbekämpfung ist in erster Linie Politik, die sich zur Durchsetzung ihrer Maßnahmen auf die Polizei stützt. Eindrucksvoll stellt sich die Rolle der Leitwissenschaft Virologie dar, deren Erkenntnisse von der Politik als Handlungsanweisungen aufgenommen werden, obwohl die beteiligten Mediziner dies zu keinem Zeitpunkt direkt gefordert haben. Mit dem auch moralisch grundierten Motto, dass es um „Leben und Tod“ gehe, hat die Gesundheitspolitik alle Anstrengungen, nach einem inzwischen in Europa bekannten Prinzip – „whatever it takes“ – gebündelt und auf das eine Ziel ausgerichtet, die Zahl der Erkrankungen einzudämmen, um die Versorgung der manifest an Covid-19 Erkrankten sicherzustellen. Dies geht einher mit der Einschränkung von grundgesetzlich garantierten Rechten und Freiheiten, wofür in Deutschland das 2001 in Kraft getretene Infektionsschutzgesetz eine entsprechende Handhabe bietet. Zur Erklärung der Heftigkeit und Radikalität der Abwehrmaßnahmen taugt das Konzept der „emotionalen Epidemiologie“; es besagt vereinfacht ausgedrückt, dass die Wahrnehmung bestimmter Infektionskrankheiten hoch emotionalisiert ist, medial entsprechend aufbereitet und verstärkt wird und nicht immer der tatsächlichen Bedrohung entsprechen mag.

Die Absperrmaßnahmen haben, vergleichbar den Zeiten der Pest, die Epidemie zur Jahresmitte 2020 vielerorts effektiv eindämmen können. Dies ist auch historisch als bedeutender Erfolg zu werten, denn es gibt, ähnlich wie in der Geschichte anderer Seuchen, kein spezifisches Therapeutikum gegen die Corona-Erkrankung. Absperrmaßnahmen wurden auch im 16. Jahrhundert als hinderlich empfunden und wenn möglich umgangen. Die Absperrmaßnahmen der Corona-Pandemie sind neuzeitlich-technisch perfektioniert und werden wesentlich effektiver überwacht.

Ob Seuchen in der Geschichte entscheidende Weichenstellungen bewirkt haben, ist hier nicht im Einzelnen zu erörtern. Auf die „Justinianische Pest“ folgte das Mittelalter, auf den „Schwarzen Tod“ die glanzvolle Renaissance und der bis 1914 ununterbrochene Aufstieg Europas. Es handelte sich jeweils um Pandemien mit einer geradezu ungeheuren Sterblichkeit, um demographische Einbrüche, die Jahrhunderte nachwirkten. Die Corona-Pandemie lässt sich mit historischen Seuchenereignissen kaum vergleichen; auffällig ist vielmehr, was neu ist. Unerhört neu ist die Entschlossenheit der Gesundheitspolitik, die Herausforderung medizinisch zu meistern. Das gesamte Gesundheitssystem wurde innerhalb von Wochen kurzfristig auf die Bekämpfung dieser einen Krankheit umgestellt. Damit einher gehen wirtschaftliche Folgen, die nach dem Stand Mitte des Jahres 2020 Europa über zwei Generationen belasten werden. Die möglichen sozialen und politischen Verwerfungen in vielen Ländern sind nicht entfernt abzuschätzen. Die zuweilen verbreitete Vorstellung, dass eine Impfung demnächst die Rückkehr zum „Normalzustand“ ermöglichen werde, dürfte eine Illusion sein. Es wird eine „neue Normalität“ sein.

Die Entscheidung, gegen die Corona-Bedrohung eine medizinische Abwehrlinie zu bilden und diese um jeden Preis zu halten, ist aus medizinhistorischer Sicht nicht zu bewerten, sondern zu beschreiben und zu analysieren. Die Reaktionsweise Europas und der Welt auf die Corona-Pandemie ist weder „falsch“ noch „richtig“, sondern zeitspezifisch. Wir führen jedoch keinen „Krieg“ gegen eine Krankheit oder ein Virus; diese mancherorts zu hörende Vorstellung gehört einem vergangenen Jahrhundert an. Der Mensch ist in ein komplexes Ökosystem eingebunden, in dem auch Mikroben ihre Funktion haben. Individuelle Erkrankungen und Seuchen sind dynamische Prozesse, die sich auf ein neues Gleichgewicht richten. Sicher ist, dass es im Zuge der Corona-Krise und ihrer rückschauenden Analyse Überraschungen geben wird, auch unangenehme.

 

Erschienen am 28. Juni 2020.

 

Prof. Dr. Karl-Heinz Leven ist Professor für Geschichte der Medizin und Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg.

 

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29. November 2021
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