Die dekoloniale oder postkoloniale – man sollte wohl eher sagen: gegenkoloniale Bewegung – ist nicht so neu, wie man in den westlichen Gesellschaften glaubt. Manche Beobachter vermuten, sie sei in den 2010er Jahren aus dem Abdriften der politischen Linken entstanden, und übersehen, dass ihr Ursprung viel weiter zurückreicht. Sie vernachlässigen die historische Perspektive oder stellen zumindest nicht die tiefgreifende Revolution in Rechnung, die unsere Gesellschaften seit den 1960er Jahren durchmachen – eine Revolution, die man sogar anthropologisch nennen könnte. Auch die Institutionalisierung dieser Bewegung an den Universitäten ist nicht neu. Das Aufkommen der subaltern studies an den nordamerikanischen Universitäten, die dort in der marxistischen Matrix formatiert sind, geht auf die 1980er Jahre zurück und führte zu einem ideologischen Fanatismus mit den ersten Formen dessen im Schlepptau, was man damals politische Korrektheit nannte. Heute ist dieser Fanatismus mit dem Wokismus verbunden, der den Kommunismus als neue politische Religion im Westen abgelöst hat.
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Diese randständigen Studien haben sowohl die Sozialwissenschaften als auch die Geschichtswissenschaft kolonisiert, wie die Arbeit von Patrick Boucheron zeigt, des einflussreichsten Öffentlichen Historikers im heutigen Frankreich. Boucheron hat sich des roman national (der identitätsstiftenden nationalen Meistererzählung, die etwa die Schulbücher prägt, Anm. der Red.) bemächtigt, um ihn zu untergraben – manche würden sagen, ihn zu verfälschen – und alles, was ihn bisher ausmachte, herabzuwürdigen. Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris 2024 stellte die politische und mediale Weihe dieser Instrumentalisierung dar, in der die Ästhetik der Diversität den Platz beanspruchte, den einst der sozialistische Realismus für sich forderte.
Identitätswandel zum Begleichen der „kolonialen Schuld“?
Doch der Kontext, in dem sich der dekoloniale Diskurs bewegt, hat sich verändert: Er ist nicht mehr nur mit dem akademischen Radikalismus verbunden, sondern hat mittlerweile eine demographische Grundlage. Damit meine ich, dass die aufeinanderfolgenden Einwanderungswellen, die die westlichen Gesellschaften erlebt haben, ihr Identitätssubstrat grundlegend verändert haben. Das sollte uns nicht überraschen: Ein Land kann seiner Bevölkerung nicht völlig gleichgültig gegenüberstehen. Dieser Wandel kann in zwei oder drei Generationen stattfinden, wie wir es in Frankreich gesehen haben, oder in einem Jahrzehnt, wie wir es jetzt in Irland sehen. Der Wandel der Menschen führt zu einem Wandel der Identität – unter den gegebenen Umständen könnte er sogar dazu führen, dass bestimmte europäische Länder bis zum Ende des Jahrhunderts von einem Zivilisationsmodell zu einem anderen übergehen, wie wir es in Belgien, London oder dem Département Seine-Saint-Denis sehen.
Diese Migration kann nicht allein als Folge natürlicher Einwanderung erklärt werden, so als ob menschliche Gesellschaften keine Kontrolle über die Bevölkerungsbewegungen hätten. Ein Teil der Regierenden im Westen, der davon überzeugt war, dass Bevölkerungen ohne Folgen beliebig verändert werden könnten, wünschte diese starke Einwanderung. Diese Regierenden betrachteten den Zustrom von Einwanderern als eine Form der versteckten Subvention für die Wirtschaft. Die „extreme Mitte“ (eine den Pluralismus verengende Form der politischen Mitte, Anm. der Red.) wollte diese Einwanderung, weil sie in der Veränderung des Menschen eine überlegene Form des Social Engineering sieht, geleitet vom quasi-religiösen Glauben an die Diversität und daran, dass die Gesellschaft nicht mehr durch die Existenz eines Staatsvolkes definiert werden muss, sondern durch vorgeschriebene „Werte“, die ein „Zusammenleben“ ermöglichen. Auch die radikale Linke wollte diese Einwanderung, weil sie der Meinung ist, dass die westliche Welt ihre Grenzen mittels eines missverstandenen Asylrechts für nicht-europäische Bevölkerungen öffnen muss, um ihre koloniale Schuld zu bezahlen. In der Vorstellung der radikalen Linken müssen die westlichen Nationen ihre mittlerweile vergangene Herrschaft über die Welt büßen, indem sie ihrem historischen Verschwinden und damit der Geburt einer neuen Menschheit zustimmen.
Dekonstruktion des Weißseins und Forderungen nach identitärer Selbstkritik
Diese etwas längeren Vorüberlegungen waren notwendig, um daran zu erinnern, dass der demographische Wandel, der mit der dekolonialen Revolution einherging, nicht ausschließlich eine Frage des historischen Schicksals war. Der demographische Wandel im Westen, ohne den der dekoloniale Diskurs marginal bliebe, war zumindest teilweise gewollt. Gleichwohl wäre es offensichtlich völlig absurd, diesen Wunsch für einen „großen Plan“ zu halten. Die dekoloniale Ideologie will aus diesem Wandel eine wichtige Konsequenz ziehen. Der Dekolonialismus lädt unsere Gesellschaften ein, eine Form der Identitätsdezentrierung zu praktizieren. Sie sollen ihre historischen Menschen – also ihre Ursprungsbevölkerung – als ein Element unter anderen innerhalb einer Diversität betrachten, die immer stärker erweitert werden soll.
Auf lange Sicht gipfelt der Dekolonialismus in einem impliziten oder expliziten antiweißen Rassismus. Die „extreme Mitte“ praktiziert ihn durch die Einführung einer Politik der positiven Diskriminierung, die den demokratischen Individualismus zugunsten der Quotenlogik abschafft und identitäre Herrschaftsräume nach dem Muster der ethnisch-sexuellen Segmentierung der Gesellschaft institutionalisiert, was nicht weit entfernt vom völkischen Konzept des Ethnopluralismus wäre. Die radikale Linke steht voll und ganz zu ihrer auf der Idee der „Rasse“ basierenden Feindschaft und fördert, wie man in den Vereinigten Staaten gesehen hat, eine Politik der Dekonstruktion des Weißseins. Die „Weißen“ müssen eine ständige identitäre Selbstkritik üben, um zu lernen, die notwendige Förderung der von Rassismus betroffenen Nichtweißen zu akzeptieren. In beiden Fällen rassifiziert die dekoloniale Logik die sozialen Beziehungen und will die soziale Ordnung durch eine Politik der Wiedergutmachung zugunsten der von Rassismus Betroffenen neu begründen.
Postkoloniale Angriffe auf Universalismus und repräsentative Demokratie
Tatsächlich wird die nationale Referenzidentität der westlichen Gesellschaften nur in dem Maße erwähnt, in dem sie dekonstruiert werden muss – und sich selbst dekonstruieren muss, durch eine Politik zur Förderung der Diversität. Das demographische Substrat der Gesellschaften wird sogar durch aufwändige theoretische Verrenkungen entstellt. In der postkolonialen Ideologie existiert der historische Franzose nur, um ausgelöscht zu werden – er wird nur negativ erwähnt, als Vertreter einer auslaufenden, kraft- und wertlosen Kultur, die ihre Erlösung nur in der Verschmelzung mit einer neuen Identität findet, die die „extreme Mitte“ als „Zusammenleben“ und die radikale Linke als „Kreolisierung“ bezeichnet. Jede Form des Widerstands gegen Masseneinwanderung, Multikulturalismus oder positive Diskriminierung wird selbstverständlich mit Rechtsextremismus gleichgesetzt.
Das diversitäre Regime, das die postkoloniale Ideologie politisch verkörpert, betrachtet sogar den Teil der Bevölkerung, der sich gegen das wehrt, was François Bayrou als „Migrationsüberschwemmung“ bezeichnet hat, als eine Art inneren politischen Feind, gegen den ein Cordon sanitaire errichtet werden muss, um zu verhindern, dass er die Bevölkerung mit seinen verwerflichen Vorlieben infiziert. Die Verteidiger der nationalen Identität, die doch das Fundament der demokratischen Erfahrung bildet, werden wie das Totholz der Menschheit behandelt. Der Postkolonialismus verurteilt den Universalismus zum Untergang. Er beschuldigt ihn, die Maske der Dominanz einer ethnischen Mehrheit zu sein. Er wirft ihm darüber hinaus vor, Minderheitengemeinschaften mit Migrationshintergrund unsichtbar zu machen, weil er unfähig sei, innerhalb seiner Parameter ihre kollektiven Forderungen und ihre spezifischen Bestrebungen zu formulieren. Die repräsentative Demokratie ist dem gleichen Vorwurf ausgesetzt: Ist sie nicht die Maske einer Tyrannei der Mehrheit, die nicht in der Lage ist, der wachsenden Heterogenität der Wählerschaft Rechnung zu tragen?
Die Postkolonialen begünstigen darum eine Übertragung der Souveränität auf die Gerichte, die die Macht haben, gesellschaftliche Forderungen im Dienst von Identitätsminderheiten zu zerlegen und traditionelle demokratische Macht zu neutralisieren. Und die diversitäre Technobürokratie wird dauerhaft mit der Aufgabe des Social Engineering betraut, um die gesellschaftlichen Beziehungen mit der Matrix der Antidiskriminierung neu zu erschaffen. Diese Matrix soll es dem Staat ermöglichen, seinen Interventionsspielraum zu erweitern, indem er die Welt der Wirtschaft, aber auch die der Intimität politisiert – das ist der Ansatz der Gleichheit, Vielfalt und Inklusion, der die unternehmerische Version des Wokismus darstellt. Im Namen des Kampfes gegen Hass und jetzt auch des Kampfes gegen Desinformation und Fehlinformation wird der Geltungsbereich der Zensur ausgeweitet, indem jede Form abweichender Meinung sanktioniert wird und es dem Staat sogar erlaubt wird, intime Gespräche zu regulieren und private Kommentare zu bestrafen.
Die Entwicklung Kanadas von einer französischen Kolonie zum postnationalen Staat
Diese ideologische Dynamik wirkt sich in Kanada und Frankreich natürlich nicht auf dieselbe Weise aus. Kanada ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Staat, der aus der europäischen Expansion hervorgegangen ist. Es nahm zunächst die Form der Nouvelle France an, in den fernen Tagen der französischen Kolonialisierung, bevor Großbritannien das Territorium zwischen 1759 und 1763 eroberte und seinem Empire einverleibte. Kanada wurde eine britische Kolonie, dann ein Dominion, bevor es allmählich unabhängig wurde. Bis heute ist es vom Konflikt zwischen seinen beiden europäischen Herkunftsvölkern durchzogen, zumal die Quebecer lange Zeit versuchten, Kanada durch den „Mythos“ der beiden Gründernationen neu zu begründen – ohne Erfolg zu haben und ohne die Unabhängigkeit zu erlangen. Dennoch blieb sich der Staat Kanada seiner europäischen Herkunft bewusst, und in der Matrix des französisch-englischen Dualismus entfaltete sich sein politisches Leben.
Ab den 1980er Jahren und noch mehr ab den 1990er Jahren erlebte Kanada jedoch einen echten politischen und ideologischen Wandel und definierte sich mehr und mehr als multikulturelles Land, was in der Verfassung von 1982 niedergeschrieben wurde. Vor allem seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre versteht sich Kanada zudem als postnationaler Staat. Die Logik war in erster Linie politischer Natur und spielte eine entscheidende Rolle bei der vereinheitlichenden Modernisierung Kanadas: Der Multikulturalismus sorgte für den symbolischen Niedergang Quebecs, das sich von einem Gründungsvolk zu einer ethnischen Gemeinschaft unter anderen im pluralen Kanada entwickelte. Der Postnationalismus ermöglichte es, die Legitimität des vom Volk Quebecs geforderten Rechts auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit in Frage zu stellen.
Folge der Entkolonialisierung Kanadas: Quebec widersetzt sich der gegenkolonialen Revolution
Doch diese beiden Ideologien machten sich ab den späten 1990er Jahren unabhängig von ihrer ursprünglichen strategischen Funktion und verbanden sich zu einer Art kanadischer Staatsideologie. In diesem großen Identitätsvakuum hatte die postkoloniale Ideologie die besten Voraussetzungen, zu gedeihen. Kanada wurde allmählich zum Labor der westlichen Welt für Diversitätsexperimente. Indem er darin seinem Vater treu blieb, radikalisierte Justin Trudeau diese Bewegung 2015 und erklärte der Washington Post, dass sein Land keinen eigenen kulturellen Kern habe, außer seiner Diversität und seinem Streben nach immer größerer Diversität. In seiner Regierungszeit erlebten wir, wie Kanada den islamischen Schleier und sogar den Niqab aus einer erstaunlichen Rationalität heraus förderte: Für seine Verteidiger wurde der Niqab zum Symbol für das Recht von Minderheiten, sich keine Identitätsnormen von der Mehrheit aufzwingen zu lassen, und für das Recht der Frauen, sich so zu kleiden, wie sie es wünschten, ohne sich dem Willen der Männer zu unterwerfen. Kanada richtete sogar nach dem Vorbild von Black Lives Matter ein öffentliches Förderprogramm ein, das schwarzen Unternehmern vorbehalten war – was auf die Institutionalisierung einer Form des staatlichen Rassismus hinauslief.
Kanada wirkte in vielerlei Hinsicht wie ein Land, das identitär schwebte und nicht historisch verankert war. Aber ein Land, das seine Grundlagen so weitgehend zerstört hatte, musste sich auf lange Sicht nach neuen umsehen, und das tat es, indem es seine präkolumbianische Vergangenheit wieder in den Vordergrund rückte. Die Indianer wurden innerhalb weniger Jahre zu den First Nations und später zu den First Peoples. Der Abschluss der Entkolonialisierung Kanadas bedeutete sogar, dass das Land als ein riesiges, nicht abgetretenes Gebiet dargestellt wurde. Seit der zweiten Hälfte der 2010er Jahre begannen die meisten öffentlichen Veranstaltungen mit der Rezitation einer Art Gebet, in dem die Kanadier anerkannten, dass sie sich in einem nicht abgetretenen Gebiet befanden, das sie unrechtmäßig besetzt hatten.
Aus einer postkolonialen Perspektive, die wir hier einnehmen, ist es nicht überraschend, dass die Neueinwanderer, zumindest die aktivsten unter ihnen, seit dieser Zeit sowohl den kanadischen Multikulturalismus als auch die selbstzerstörerische Illegitimität des kanadischen Staates als Vorwand nahmen, um sich nicht in die Kultur des Landes zu integrieren – und das vor allem in Quebec. Die Theorie des systemischen Rassismus hat in diesem Zusammenhang auch zur Dekonstruktion aller materiellen anthropologischen und kulturellen Normen beigetragen, ohne die eine politische Gemeinschaft unweigerlich zusammenbrechen muss. In diesem Zusammenhang hebt sich Quebec ab und neigt dazu, sich der gegenkolonialen Revolution zu widersetzen, indem es sich auf ein klassisches Konzept von Demokratie und Staatsbürgerschaft stützt, in dem sich nationale Identität und liberale Demokratie gegenseitig unterstützen. Das drückt sich auch in der Wiederbelebung des Kampfes für die Unabhängigkeit Quebecs aus.
„Gegen-Kolonisierung“: Die langfristigen Auswirkungen von Postkolonialismus und Dekolonisierung in Frankreich
Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die Dynamik in Frankreich nicht dieselbe ist wie in Kanada. Das französische Volk ist auf seine Weise ein indigenes Volk, und das ungeachtet dessen, was diejenigen denken mögen, die für die Bevölkerungen mit Migrationshintergrund den erstaunlichen Titel „Eingeborene der Republik“ beanspruchen. Aber die Unsichtbarmachung des französischen Volkes mit Hilfe der Kategorien des republikanischen Universalismus trägt gewiss nicht zur Assimilierung der Einwanderer bei. Denn man bietet ihnen nicht an, Anschluss an bestimmte Sitten und eine kulturelle Identität zu finden. Stattdessen fordert man sie auf, eher vage Werte zu übernehmen, die aus einer technokratischen Auffassung der Zugehörigkeit zur Nation herrühren. Man kann darin eine Form des Habermas’schen Verfassungspatriotismus à la française sehen.
In dieser Gemengelage hat der Dekolonialismus seit den 2000er Jahren zugeschlagen. Er radikalisierte den Antirassismus der 1980er Jahre, der bereits jede Form von substanzieller Zugehörigkeit zur Nation mit Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung gleichsetzte, wie der Soziologe Paul Yonnet in seinem bahnbrechenden Werk Voyage au centre du malaise français festgestellt hat. Das Ergebnis war vorhersehbar: Wenn ein Land mehr Einwanderer aufnimmt, als es integrieren kann, schafft es eine unausweichliche Tendenz zur Entwicklung von Parallelgesellschaften. Die Entstehung von Parallelgesellschaften ist unvermeidlich, wenn es in einer Gesellschaft Kulturen gibt, die sich gegensätzlich gegenüberstehen. Dieser Prozess führt bestenfalls zum Rückzug aus der Gesellschaft und schlimmstenfalls zu Spannungen. Sobald sich die Kulturen aber in einem historischen Gegensatz befinden und sich die Wirkung einer kritischen Masse mit einem starken religiösen und zivilisatorischen Gegensatz verbindet, sind alle Zutaten für eine starke konfliktträchtige Heterogenität, für den Zusammenprall der Zivilisationsmodelle, beisammen. Mit Blick auf diese Entwicklung muss man von Enklaven der Fremdheit sprechen. In ihnen hat die dekoloniale Bewegung ihre soziologischen und demographischen Unterstützer gefunden. Der Postkolonialismus hat diese Umkehrung der politischen Legitimität intellektuell verankert.
Es wäre jedoch ein Irrtum zu glauben, dass diese sezessionistische Logik sich selbst genügt. Tatsächlich handelt es sich nicht so sehr um eine Dynamik der Sezession, mit der wir konfrontiert sind, als um eine Dynamik der Eroberung – deshalb spreche ich hier von einer Gegenkolonialisierung, die zu einem großen Teil auf einer revanchistischen Erinnerung und auf der Energie eines Islam beruht, der sich wieder in einer Expansionsphase befindet. Aus diesem Grund habe ich diesen Artikel mit der Feststellung begonnen, dass der Postkolonialismus in Wirklichkeit ein Gegenkolonialismus ist. Aber diese Dynamik wäre zum Scheitern verurteilt, wenn sie sich nicht auf eine extreme Linke stützen könnte, die diese Eroberung feiert, indem sie sie im Gewand einer Erlösung verheißenden „Kreolisierung“ präsentierte. Der Süden macht sich auf den Weg nach Norden und die Forderung nach dem Ende der westlichen Hegemonie wird durch die Demontage des Systems der Nationalstaaten erfüllt. Der Kampf gegen die Laizität (die seit 1905 bestehende Trennung von Staat und Kirchen, Anm. der Red.) und die Normalisierung des Begriffs der Islamophobie gehen hier Hand in Hand. Denn in der Französischen Republik war die Laizität nie nur ein regulatives Ideal, sondern vollständig mit den Sitten verwoben. Vor diesem Hintergrund zielt das verbissene Streben nach der Normalisierung des Konzepts der Islamophobie letztlich darauf ab, die säkulare Kultur zu neutralisieren und die damit verbundene soziale Praxis zu zerstören. In Frankreich hat Jean-Luc Mélenchon, die Galionsfigur der linksextremen Partei La France insoumise, sogar den „großen Austausch“ des historischen französischen Volkes durch eine neue Bevölkerung gefeiert. Er macht sich damit einen Begriff zu eigen, der – nach der in den Medien üblichen Formulierung – einer „rassistischen und verschwörungstheoretischen Theorie“ entstammt. Für die extreme Linke in Frankreich und Kanada wird die Dekolonisierung, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann, anscheinend erst dann ein Ende finden, wenn die Menschen des Westens zu Hause Fremde und in ihren eigenen Ländern eine Minderheit sind.
Mathieu Bock-Côté ist Soziologe und Journalist aus Quebec. Er lebt und arbeitet in Quebec und Frankreich.