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Der sino-vietnamesische Grenzkonflikt: Ein vergessener Krieg?

von Niklas Beke-Bramkamp, Florian C. Feyerabend

Ein Rückblick auf den zehnjährigen Grenzkonflikt (1979 bis 1989) zwischen China und Vietnam und die Erinnerungskultur als Spiegelbild der bilateralen Beziehungen

Mehrfach musste sich Vietnam im leidvollen 20. Jahrhundert in kriegerischen Auseinandersetzungen mit Großmächten behaupten. Die in der vietnamesischen Geschichtsschreibung heroisierend dargestellten antikolonialen und antiimperialen Befreiungskriege gegen Frankreich (Erster Indochina-Krieg, 1946 bis 1954) und die Vereinigten Staaten sowie die von Washington unterstützte Republik Vietnam (Zweiter Indochina-Krieg, 1955 bis 1973/1975) dominieren nicht nur den geschichtlichen Blick von außen, sondern auch die staatliche Erinnerungskultur in Vietnam. Aus dem Blick gerät dabei die letzte kriegerische Auseinandersetzung Vietnams mit einer Großmacht: der Grenzkonflikt mit der Volksrepublik China (1979 bis 1989). Auch innerhalb Vietnams wurde das sensible Thema nach der Normalisierung der Beziehungen mit Peking (1991) jahrelang kaum thematisiert, Berichte zensiert, Ausstellungen in Museen vermieden explizit das Wort „Krieg“ und erwähnten China gar nicht. In den letzten Jahren hat sich diese Quasi-Tabuisierung des Krieges jedoch etwas gewandelt: mit dem aggressiveren chinesischen Vorgehen im Südchinesischen Meer veränderte sich in Vietnam auch (wieder) die Sicht auf das Nachbarland im Norden und den Umgang mit der schmerzvollen Vergangenheit. Das staatliche Gedenken ist somit Spiegelbild und Instrument in den bilateralen Beziehungen zwischen Hanoi und Peking.

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Hintergrund, Auslöser und Kriegsverlauf

Nur sechs Jahre nach dem amerikanischen Truppenabzug und der „Vietnamisierung des Vietnamkriegs“ sah sich Vietnam erneut mit einer Großmacht konfrontiert, dieses Mal freilich unter gänzlich anderen ideologischen Vorzeichen: Mit dem gewaltsamen Eindringen chinesischer Truppen in Nordvietnam am 17. Februar 1979 begann der dritte kommunistische Bruderkrieg im 20. Jahrhundert.[i] Hintergrund dieses Grenzkonflikts zwischen Peking und Hanoi war der stetig wachsende Einfluss der Sowjetunion in Vietnam und Chinas Befürchtung, Vietnam würde mithilfe der Unterstützung der UdSSR eine Hegemonialpolitik in Indochina verfolgen.

 

Bereits im Juli 1978 diskutierte das Politbüro der Kommunistischen Partei Chinas ein mögliches militärisches Eingreifen gegen Vietnam aufgrund sowjetischer Truppenstationierungspläne im südlichen Nachbarland. Im Juni 1978 war Vietnam dem von Moskau gesteuerten Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe beigetreten, im November des gleichen Jahres schließlich unterzeichneten Hanoi und Moskau einen Freundschafts- und Kooperationsvertrag.

 

Ausschlaggebend für den Angriff Chinas war jedoch der Einmarsch vietnamesischer Truppen (nach vietnamesischer Darstellung „Freiwilligenverbände“) ins benachbarte Kambodscha, seit 1975 bekannt als Demokratische Republik Kampuchea. Das Terror-Regime der Roten Khmer unter Führung von Pol Pot, die wiederum von der Volksrepublik China Unterstützung erhielten, wurde zunehmend genozidaler (wovon auch die vietnamesische Minderheit im Lande betroffen war) und es kam zudem häufiger zu Grenzverletzungen seitens Phnom Penhs. Vietnam intervenierte daraufhin im Dezember 1978 in Kambodscha, nur einen Monat später vertrieb Vietnam die Roten Khmer aus Phnom Penh und installierte Heng Samrin als Oberhaupt der neuen kambodschanischen Regierung. China sah sich dadurch in seinen Befürchtungen vor einer Einkesselung durch die Sowjetunion bestätigt und bereitete einen Angriff („Strafaktion“) an der südlichen Grenze zu Vietnam vor.

 

Am 17. Februar schließlich begann China seine Offensive. Als offizielle Kriegsbegründung nannte der chinesische Führer – der zum damaligen Zeitpunkt Stv. Ministerpräsident – Deng Xiaoping die Unterstützung für die Roten Khmer und das Ziel eines vietnamesischen Rückzugs aus Kambodscha. Auch der Umgang Vietnams mit der chinesischen ethnischen Minderheit innerhalb Vietnam spielte eine Rolle. Gleichzeitig warnte China die Sowjetunion vor einem militärischen Eingreifen zugunsten Vietnams, da China auch zu einem Krieg gegen die UdSSR bereit sei, und um dies zu untermauern verlegte Peking mehrere hunderttausend Truppen an die sowjetisch-chinesische Grenze. Während sich die Fronten zwischen Moskau und Peking somit verhärteten, näherten sich Washington und Peking aller ideologischen Gegensätze zum Trotz zeitgleich an. Nur zwei Wochen vor Einmarsch in Vietnam hatte Deng Xiaoping einen historischen Besuch in Washington absolviert (in Folge dessen diplomatische Beziehungen zwischen China und den USA aufgenommen wurden) – und seine Gastgeber auch über die Invasionspläne für Mitte Februar in Kenntnis gesetzt!

 

Nach Überquerung der vietnamesischen Grenze am 17. Februar gelange es den 85.000 bis 135.000 Mann starken Verbänden der chinesischen Volksbefreiungsarmee (Angaben hierzu schwanken) rasch bis zu 20 Kilometer in das Landesinnere Vietnams vorzudringen, die meisten Gefechte fanden in den Provinzen Cao Bang, Lao Cai und Lạng Son statt. Die vietnamesische Armee vermied es den Hauptteil seiner Divisionen zu mobilisieren, die für die potenzielle Verteidigung Hanois vorgesehen waren. Bereits am 6. März erklärten die Chinesen, ihr Kriegsziel erreicht zu haben und das nur knapp mehr 100km entfernte Hanoi theoretisch einnehmen zu können. Beide Seiten hatten zu diesem Zeitpunkt bereits signifikante Verluste zu beklagen. Sowohl China als auch Vietnam haben diese nie offiziell bestätigt, manchen Schätzungen zufolge starben alleine auf chinesischer Seite insgesamt mehr als 65.000 Soldaten innerhalb des ersten Kriegsmonats.[ii]

 

Während des inkrementell erfolgten Rückzugs verfolgte die chinesische Volksbefreiungsarmee eine „Politik der verbrannten Erde” und zerstörte auf ihrem Weg die lokale Infrastruktur und entzog der Region nützliche Ressourcen. Die betroffenen vietnamesischen Provinzen wurden dadurch stark geschädigt. Der Rückzug auf die chinesische Seite der Grenze erfolgte am 16. März 1979. Daraufhin erklärten beide Seiten den Sieg, die Chinesen als Unterdrücker der vietnamesischen „Aufmüpfigkeit“, die Vietnamesen als Bezwinger des chinesischen „Expansionismus“.

 

Zwischen Propaganda und Vergessen

Während der 1980er kam es immer wieder zu militärischen Auseinandersetzungen an der vietnamesisch-chinesischen Grenze, wobei sich der Schwerpunkt der Scharmützel und Grenzverletzungen ab 1984 in die vietnamesische Grenzprovinz Ha Giang verlagerte. Erst 1989 kam der in Vietnam als „Krieg zur Verteidigung der Nordgrenze“ bezeichnete gewaltsame Konflikt zu einem Ende.

 

In dieser Periode wurde der Krieg in Museen und Schulbüchern sowie in der vietnamesischen Gesellschaft thematisiert und klar als chinesische Aggression gesehen und auch als „Invasion“ benannt sowie in einen historischen Kontext eines „zweitausendjährigen Widerstands“ gegen den großen Nachbarn China gestellt. Dies ging so weit, dass in der Präambel der vietnamesischen Verfassung von 1982 China als „unmittelbare und gefährliche Gefahr“ bezeichnet wurde. Propagandistisch wurde der Grenzkonflikt für eine Mobilisierung der Gesellschaft und Förderung patriotisch-nationalistischer Gefühle genutzt.

 

Das von China nicht nur eine Gefahr für die Nordgrenze Vietnams ausging, zeigte das Gefecht von Gac Ma. Diese letzte größere Auseinandersetzung im sino-vietnamesischen Grenzkonflikt fand dabei fernab der Landgrenze am 14. März 1988 bei den Spratly-Inseln im Südchinesischen Meer („Ostmeer“ im Vietnamesischen) statt.  64 vietnamesische Soldaten kamen ums Leben. Zum damaligen Zeitpunkt noch nicht absehbar sollten die Spratly-Inseln im 21. Jahrhundert zur entscheidenden Arena der Gebietsstreitigkeiten zwischen China und weiteren Anrainerstaaten, darunter Vietnam, werden.

 

Im November 1991, als sich die internationalen Machtverhältnisse durch das Ende des Kalten Krieges verschoben hatten und ein vietnamesischer Truppenrückzug aus Kambodscha erfolgt war, gelang eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Hanoi und Peking. Plötzlich geriet der Krieg in Vergessenheit: Jahrestage fanden in den Medien keine Erwähnung, Ausstellungen wurden geschlossen. Mehr noch, Journalisten die versuchten über die Geschehnisse an der Grenze zu berichten wurden zensiert. Nach Ansicht des deutschen Historikers und Vietnam-Experten Prof. Martin Grossheim das Resultat einer gezielten Erinnerungskultur, die staatlichen Entwicklungszielen und einer außenpolitischen Annäherung untergeordnet wurde. Stabilität in den bilateralen Beziehungen und die Möglichkeit wirtschaftlich vom Aufstieg Chinas zu profitieren waren bestimmende Ziele. „Begrabe die Vergangenheit, öffne die Zukunft“ wurde zum Mantra.

 

Diese Haltung änderte sich erst wieder maßgeblich durch das zunehmend aggressivere Auftreten Chinas im Südchinesischen Meer ab der zweiten Hälfte der 2010er Jahre. Durch die Postulierung der sog. „9-Striche-Linie“ (welche 2016 durch den Ständigen Schiedsgerichtshof in Den Haag zurückgewiesen wurde) reklamierte China 80 Prozent des Südchinesischen Meeres für sich und vertrat fortan offensiv Gebietsansprüche, die sich mit denen anderer Anrainer, darunter Vietnam, überschnitten. Als China schließlich 2014 eine Ölplattform in die ausschließliche Wirtschaftszone Vietnams verlegte entflammten in Vietnam antichinesische Proteste.

 

Wurden die Landgrenze mit China als auch die maritime Grenze im Golf von Tonkin in den 2000er Jahren im gegenseitigen Einvernehmen demarkiert, so sieht sich Vietnam durch die von China offensiv vertretenen Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer in seiner nationalen Sicherheit bedroht. Dies ist zum einen begründet in dem militärischen Ausbau von künstlich errichteten Inseln in dem umstrittenen Gebiet, als auch zum anderen durch die Anwendung von sog. „Grauzonen-Taktiken“ Chinas, durch welche die Fischerei Vietnams als auch die Exploration von Rohstoffen be- und verhindert werden. 

 

Gleichzeitig interessieren sich vor dem Hintergrund dieser Spannungen die Menschen in Vietnam zunehmend für den vergangenen Konflikt mit der Volksrepublik China. Der einst vergessene Grenzkrieg von 1979 erlangte so plötzlich mehr Aufmerksamkeit in der vietnamesischen Gesellschaft, und Historiker forderten eine Überarbeitung von Schulbüchern und eine Thematisierung des Konflikts.

 

Die Rolle der Kriegsveteranen

In der Debatte um den Grenzkrieg mit China und der seit spätestens 2014 gesteigerten Wahrnehmung spielen die Veteranen des Krieges eine zentrale Rolle. Da die vietnamesischen Staatsmedien lange die Folgen des Krieges kaum thematisierten, begannen Veteranen auf eigene Faust auf das ehemalige Schlachtfeld in Vị Xuyen zurückzukehren und ihrer gefallenen Kameraden zu gedenken. Viele wünschten sich eine größere gesellschaftliche und staatliche Aufmerksamkeit für das Opfergedenken. Ebenso wurden noch die Überreste vieler der Gefallenen vermisst, was die Veteranen zu Eigeninitiativen veranlasste; mit Spendengeldern finanziert nahmen sie sich der Sache an und schufen auch auf dem ehemaligen Schlachtfeld eine Gedenkstätte. Ende 2013 erfuhr der damalige vietnamesische Präsident Truong Tan Sang von den Aktivitäten der Veteranen der Schlacht von Vị Xuyen und lud die Vertreter der Veteranen zu einem Gespräch ein. Daraufhin erhielten die Veteranen mehr Unterstützung, es wurde ein angemessenes Kriegsdenkmal gebaut und ein Gremium von ehemaligen Offizieren geschaffen, das als Sprachrohr für die Bedürfnisse der Veteranen dienen soll.

 

Seither hat sich die öffentliche Wahrnehmung des Krieges in Vietnam gewandelt. Die Berichterstattung in Vietnam, speziell anlässlich des 40. Jahrestages des Krieges 2019, hat sich elementar geändert. In den vietnamesischen Staatsmedien erschien eine ganze Reihe von Artikeln und Dokumentarfilmen über den Krieg sowie Interviews mit Veteranen. Es scheint, als hätten die Veteranen ihren Wunsch nach einer angemesseneren Auseinandersetzung mit den Folgen des Krieges durchgesetzt. Bereits in der Vergangenheit sorgten Kriegsveteranen für Durchbrüche bei der Neubewertung von Kriegen, etwa bei der Versöhnung zwischen Amerika und Vietnam.

 

Erinnerungskultur als Spiegelbild der bilateralen Beziehungen

Das offizielle Erinnern und ritualisierte Gedenken an den sino-vietnamesischen Grenzkonflikt von 1979 bis 1989 hat in den letzten Dekaden verschiedene Phasen durchlaufen, stets in Abhängigkeit staatlicher Entwicklungszielen und außenpolitischer Dynamiken. Die staatliche, selektive Erinnerungskultur ist somit auch ein Spiegelbild der bilateralen Beziehungen zwischen Vietnam und China. Der jüngste 35. Jahrestag des Gefechts von Gac Ma im Südchinesischen Meer am 14. März 2023 hat große mediale Aufmerksamkeit erfahren, auch ein staatlicher Gedenkakt fand statt, jedoch ohne Teilnahme der wichtigsten Führungspersönlichkeiten aus Staat und Partei – und mit spürbarer Zurückhaltung, was die explizite Nennung des Aggressors betraf.

 

Der 17. Februar als Tag des Ausbruchs des sino-vietnamesischen Grenzkonflikts hingegen blieb in diesem Jahr dagegen weitgehend unbeachtet. Das offizielle Erinnern und Gedenken im nächsten Jahr an den 45. Jahrestag des Kriegsbeginns zur „Verteidigung der Nordgrenze“ wird von daher auch als Barometer der bilateralen Beziehungen betrachtet werden.

 

Während nach Einschätzung politischer Beobachter die aktuelle vietnamesische Staats- und Parteiführung um bessere Beziehungen zu Peking und der kommunistischen Schwesterpartei bemüht ist, treibt China seine Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer unvermindert fort. Das Verhältnis zum großen Nachbarn bleibt somit ambivalent: einerseits verbindet Vietnam mit China – dem wichtigsten Wirtschaftspartner – eine „umfassende, strategisch-kooperative Partnerschaft“, andererseits sieht Vietnam in China auch die zentrale sicherheitspolitische Herausforderung. Dies begründet auch die Annäherung Vietnams an den anderen ehemaligen Kriegsgegner, die Vereinigten Staaten – allen ideologischen Gegensätzen zum Trotz.[iii] Auch wenn das  offizielle Erinnern und ritualisierte Gedenken an den sogenannten „American War“ die vietnamesische Erinnerungskultur bestimmen, so ist die Wahrnehmung der Vereinigten Staaten heutzutage weitestgehend positiv. Auch dies ist ein Spiegelbild der Entwicklung der bilateralen Beziehungen.

 

[i]       Nach dem chinesisch-sowjetischen Grenzkonflikt 1969 und dem Ende 1978 erfolgten Einmarsch als Freiwilligenverbände deklarierter vietnamesischer Einheiten in Kambodscha; Anm. d. Verf.

[ii]      Dies würde die amerikanischen Kriegstoten im gesamten Vietnamkrieg signifikant übersteigen; die Angaben beziehen sich auf Aussagen von Prof. Dr. Odd Arne Westad von der Yale University. Offizielle chinesische Zahlen sprechen hingegen von nur 6.900 Kriegstoten.

[iii]     1995 nahmen die Sozialistische Republik Vietnam und die Vereinigten Staaten diplomatische Beziehungen auf. Seit 2013 besteht eine „umfassende Partnerschaft“ zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern. Die Vereinigten Staaten sind zum wichtigsten Exportmarkt Vietnams aufgestiegen; es existiert auch eine verteidigungs- und sicherheitspolitische Kooperation. In einem Telefonat am 29. März 2023 zwischen US-Präsident Joe Biden und dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Vietnams, Nguyen Phu Trong bekannte sich beide Seiten zu einer Vertiefung der Partnerschaft.

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Kontakt

Florian C. Feyerabend

Florian Constantin Feyerabend (2020)

Leiter des Auslandsbüros Vietnam

florian.feyerabend@kas.de

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