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Haus der Geschichte Baden-Württemberg
Essay

Zum 150. Geburtstag Matthias Erzbergers

von Dr. Christopher Dowe

Von Zeitenwenden und Lernen in der Politik

Erinnerung als Spiegel politischer Gegenwart: Anlässlich des 150. Geburtstags von Matthias Erzberger zeichnet Christopher Dowe den Lebensweg eines Wegbereiters der deutschen Demokratie nach. Erzberger war nicht nur Reformer und Parlamentarier, sondern auch Zielscheibe antidemokratischer Hetze – bis hin zu seiner Ermordung durch Rechtsterroristen im Jahr 1921. Der Artikel beschreibt seine politische Biografie unter den Perspektiven des „lernenden Politikers“ und der „Möglichkeitsfenster“, um Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Demokratiegeschichte sichtbar zu machen.

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Matthias Erzberger als Reichsfinanzminister, 1919/20. Haus der Geschichte Baden-Württemberg
Matthias Erzberger als Reichsfinanzminister, 1919/20.

Im Blick auf die Geschichte spiegelt sich oft die Gegenwart. Das gilt auch und gerade für das Erinnern an einen Wegbereiter der deutschen Demokratie. Matthias Erzberger, der vor 150 Jahren geboren und 1921 von Rechtsterroristen ermordet wurde, ist dafür ein gutes Beispiel. In der Weimarer Republik war der öffentliche Streit um die Deutung seiner Person aufs Engste mit der Haltung zur Demokratie verbunden. Erzberger zu würdigen, war Teil einer demokratisch-republikanischen Erinnerungskultur. Für die rechten Feinde der Weimarer Republik stand er hingegen stellvertretend für die verhasste Demokratie. Die Nationalsozialisten beendeten schließlich mit Gewalt ein positives Erinnern an Erzberger – mit Folgen bis weit über 1945 hinaus.

 

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Der deutsche Südwesten, Baden-Württemberg, bildete die regionale Verankerung für das bundesrepublikanische Erinnern an Erzberger, das lange Zeit mit der Stelle seiner Ermordung im Schwarzwald bei (Bad Peterstal-)Griesbach und seinem Grab in Biberach an der Riß in Oberschwaben verbunden war. Hans Filbinger (CDU), damals Innenminister von Baden-Württemberg, würdigte  Erzberger 1961 in Griesbach als „redlichen Kämpfer für Frieden und Recht“ und verglich die Situation nach dem Ersten mit der nach dem Zweiten Weltkrieg:  „Eine totale Niederlage hat Deutschland die Probleme erspart, an denen er [Erzberger] zugrunde ging.“ Filbinger wies auch darauf hin, wie sehr die Hetze gegen Erzberger und Vorbehalte gegen Berufspolitiker und den Parlamentarismus in der Bundesrepublik nachwirkten und einer angemessenen Würdigung des Ermordeten im Wege stünden.[1]

Zehn Jahre später erinnerte der sozialdemokratische Bundesfinanzminister Alex Möller in einem kleinen Büchlein an Erzbergers finanzpolitische Leistungen und betonte dessen großen Einsatz für die Demokratie. Wolfgang Schäuble (CDU) setzte sich über Jahrzehnte als Bundesminister wie als Bundestagspräsident dafür ein, an Erzberger zu erinnern und schlug dabei Brücken zur jeweiligen Gegenwart. Desgleichen gilt für Norbert Lammert (CDU) als Bundestagspräsident oder den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD), die Erzberger als Wegbereiter deutscher Demokratie und seinen Kampf für die Weimarer Republik würdigten. Ausgehend von der Hetze gegen Erzberger und seiner Ermordung warnten beide vor Gefährdungen der deutschen Demokratie. Nachdem 2019 der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) von einem Rechtsextremisten erschossen worden war, fand der Verweis auf diesen politischen Mord Eingang in das Erzberger-Erinnern. Einmal mehr zeigt sich an diesem Beispiel, dass der Umgang mit der Vergangenheit Herausforderungen und Probleme der Gegenwart widerspiegelt.  

Dieses Kaleidoskop ließe sich zu einem systematischen rezeptionsgeschichtlichen Zugriff ausbauen, der einem Durchgang durch die letzten gut 120 Jahre gleichkäme. Anlässlich des 150. Geburtstags Erzbergers am 20. September 2025 soll jedoch hier seine Biografie im Vordergrund stehen. Ich möchte unter zwei Perspektiven auf Erzbergers Leben schauen und danach fragen, inwiefern er als „lernender Politiker“ beschrieben werden kann und welche Rolle besondere Möglichkeitsfenster für sein politisches Wirken spielten. Damit meine ich kurze Zeiträume, in denen sich vorher und nachher nicht oder nicht in gleicher Weise vorhandene Handlungsmöglichkeiten auftun. Beide Blickwinkel ermöglichen es, so meine These, Brücken zur Gegenwart zu schlagen.

 

Zeitenwenden

„Zeitenwende“, Kriege in Europa, Umbrüche in der internationalen Ordnung, das Infragestellen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, Klimawandel und mediale und technische Revolutionen sind eine Anfechtung dessen, was wir bisher als Realität betrachtet haben.  Umbruchzeiten sind stets mit der besonderen Herausforderung verbunden den Wandel zu erfassen, darauf zu reagieren und das eigene Verhalten neu auszurichten.

Auch Erzberger lebte in einer Zeit beschleunigter Umbrüche. Vier Jahre vor seiner Geburt entstand 1871 mit dem Kaiserreich der erste deutsche Nationalstaat. Während seines Lebens wandelte sich die deutsche Gesellschaft von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft. Mit der Verbreitung von Foto und später Film vollzog sich eine Medienrevolution, die Politik, Gesellschaft und Kultur tiefgreifend veränderte. Imperialismus, Kolonialismus und Industrialisierung prägten die erste Globalisierung. Mit Blick auf die deutsche Gesellschaft lassen sich obrigkeitsstaatliche Strukturen und Elemente einer Klassengesellschaft ebenso beobachten wie inkludierende und exkludierende Prozesse der Nationalisierung und eine sehr weitreichende Fundamentalpolitisierung. Schließlich sind die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges und der Novemberrevolution 1918/19 kaum zu überschätzen.

In dieser Welt wuchs Erzberger auf. Aus einfachen Verhältnissen auf der Schwäbischen Alb stammend, ermöglichte eine Ausbildung zum Volksschullehrer dem Katholiken einen sozialen Aufstieg ohne Abitur und Studium. Zunächst minderjährig als Hilfslehrer tätig, verließ er 1896 gerade volljährig geworden den Schuldienst, um sich als politischer Journalist beim Organ der württembergischen Zentrumspartei und ehrenamtlich beim Aufbau des katholischen Vereins- und Verbandswesens zu engagieren. Von Stuttgart aus reiste er an den Wochenenden unentwegt durch die katholischen Teile des mehrheitlich protestantischen Württemberg. 1903 gewann er für die Zentrumspartei den oberschwäbischen Wahlkreis Biberach, Leutkirch, Waldsee, Wangen und zog in den Reichstag ein. Bis zu seiner Ermordung im Jahr 1921 gehörte er dem deutschen Nationalparlament an. 1918 übernahm er in der letzten kaiserlichen Regierung unter Reichskanzler Max von Baden ein Ministeramt und unterzeichnete am 11. November 1918 als Leiter der deutschen Delegation den Waffenstillstand von Compiègne, der für Deutschland den Ersten Weltkrieg beendete. Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches in der Revolution 1918 übernahm Erzberger weiter Ministeraufgaben und gehörte bis 1920 allen Regierungen an. 1919 war er Vizekanzler. Als energischer Streiter für die Demokratie stand Erzberger spätestens ab Sommer 1919 im Zentrum der antirepublikanischen Hetze. Der evangelische Theologe und Politiker Ernst Troeltsch bezeichnete ihn nicht ohne Grund als den „bestgehaßten aller deutschen Politiker“.[2]

 

Matthias Erzberger am 6. Februar 1919 vor dem Großherzoglichen Residenzschloss in Weimar. Haus der Geschichte Baden-Württemberg
Matthias Erzberger am 6. Februar 1919 vor dem Großherzoglichen Residenzschloss in Weimar.

Politische Öffentlichkeitsarbeit

Schon als junger Redakteur war es Erzberger wichtig, Menschen an Politik heranzuführen, ihnen politische und gesellschaftliche Zusammenhänge zu erklären und sie zu ermuntern, eigene Rechte wahrzunehmen und vorhandene Partizipationsmöglichkeiten zu nutzen. „Hilfe zur Selbsthilfe“ war seine Devise. Ehrenamtlich begleitete und beriet er katholische Handwerker, Bauern und Arbeiter in ganz Württemberg. Erzberger gab Hilfestellung bei der Gründung von katholischen Bauernvereinen und half bei der erstmaligen Aufstellung von Listen zur Handwerkskammerwahl. Zudem übernahm er beim reichsweiten Zusammenschluss der christlichen Gewerkschaften eine wichtige koordinierende Rolle.

In Stuttgart hatte Erzberger bis 1903 intensiv über den Landtag in Württemberg berichtet und aus einer föderalen Perspektive auf den nationalen Politikbetrieb geschaut. Er identifizierte drei Faktoren, die immer stärker Politik und politische Wirksamkeit prägten: die Präsenz am Ort der politischen Entscheidungen, eine gute Vernetzung und die Fähigkeit, Themen öffentlich zu setzen oder schneller als andere zu kommentieren. Auch wenn es noch keine sozialen Medien gab: Große Tageszeitungen erschienen zunehmend drei Mal am Tag. Daraus zog er für sich Konsequenzen und verlegte seinen Wohnsitz nach Berlin, nachdem er 1903 in den Reichstag gewählt worden war. Dadurch war der parlamentarische Newcomer immer zur Stelle, während führende Zentrumspolitiker erst aus dem Rheinland, aus Württemberg oder Bayern anreisen mussten.

Da es 1903 noch keine Diäten für Reichstagsabgeordnete gab, betrieb Erzberger von Berlin aus eine eigene Nachrichtenagentur, um sein Leben als Berufspolitiker zu finanzieren. Er verschickte insbesondere an kleinere süddeutsche Zeitungen Meldungen und Berichte aus dem politischen Berlin. Berichterstattung und Selbstvermarktung gingen dabei Hand in Hand. In wenigen Jahren entwickelte sich Erzberger so vom Hinterbänkler zu einem international bekannten Abgeordneten, denn er begriff schnell, wie sich die Öffentlichkeit als politische Waffe einsetzen ließ. Ab 1905 prangerte er mit großer Wirkung Missstände und Verbrechen der deutschen Kolonialpolitik an. Erzberger wandte sich dabei gegen staatliche Vertuschung und Korruption und kämpfte für die Ausweitung der Rechte des Reichstages gegenüber Kaiser und der Exekutive.

In seiner Fraktion fand Erzberger für seine regierungskritische, Parlamentarisierung und Demokratisierung fördernde Agenda nur eingeschränkt Rückendeckung. Umso wichtiger war die Unterstützung durch seine süddeutschen Wähler und Anhänger, mit denen er engen Kontakt hielt. Er beantwortete nicht nur jeden Monat unzählige Briefe, sondern reiste während der Sitzungspausen des Reichstags auch durch Württemberg. Dabei besuchte er nicht nur zahlreiche Veranstaltungen, sondern hielt in Gasthäusern eine Art mobiler Sprechstunde für alle Interessierten ab, um ein offenes Ohr für Ängste, Wünsche und Bedürfnisse zu haben.

 

Krieg und Waffenstillstand

Im Ersten Weltkrieg fuhr der Reichstag als Zeichen nationaler Einheit seinen politischen Betrieb zurück. Erzberger versuchte über eine besondere Nähe zum Reichskanzler und andere Verantwortliche, die deutsche Politik weiter mitzubeeinflussen. Doch wie andere Abgeordnete auch scheiterte er damit. Die Parlamentarier entwickelten daraufhin den Hauptausschuss des Reichstags zu einer Art Ersatzparlament und Erzberger spielte darin eine wichtige Rolle. Im Juli 1917 eröffnete sich Erzberger ein Möglichkeitsfenster, als er eine Friedensresolution des Reichstags anregte, die wenig später erfolgreich verabschiedet wurde. Damit sprach sich nicht nur eine Mehrheit der Volksvertreter dafür aus, einen Frieden durch Verhandlungen (und nicht durch Niederringen des Kriegsgegners) zu erreichen. Angeregt durch Erzberger warf der Reichstag auch die Frage der Machtverteilung im Innern auf, gehörte doch die Entscheidung über Krieg und Frieden damals verfassungsmäßig nicht zu den Parlamentszuständigkeiten. Im Sommer 1917 gelang es Kaiser, Militär und den politischen Kräften, die eine Parlamentarisierung des Kaiserreiches strikt ablehnten, den Vorstoß des Reichstages stark abzuschwächen. Der Streit um die deutschen Kriegsziele und die politische Ordnung und Machtverteilung im Innern das Deutsche Reich sollte jedoch bis zum Kriegsende anhalten.

Erst das Kabinett Max von Badens, das angesichts der militärischen Niederlage des Deutschen Reiches im Oktober 1918 gebildet wurde und dem Erzberger als Minister[3] angehörte, setzte Verfassungsänderungen und den Primat der Politik gegenüber dem Militär durch. Doch bevor das Kaiserreich zu einer parlamentarischen Monarchie umgewandelt wurde, brach es in der Revolution von 1918 zusammen. Am 11. November 1918, zwei Tage nach der Ausrufung der Republik, unterzeichnete Erzberger in Nordfrankreich den Waffenstillstand und beendete damit für Deutschland den Ersten Weltkrieg.

Wie die politische Zukunft Deutschlands aussehen würde, war völlig unklar, als Erzberger wieder in Berlin eintraf. Die neuen revolutionären Machthaber übertrugen ihm die Aufgabe, sich als Minister um die Umsetzung des Waffenstillstands zu kümmern und den Kontakt zu den Kriegsgegnern zu halten, da offiziell keine diplomatischen Beziehungen mehr bestanden. Erzberger gehörte zu denjenigen, die den Realitäten der deutschen militärischen Niederlage ins Auge schauten. Trotz der Härten des Waffenstillstands und später des Versailler Vertrags kämpfte er vehement für eine Außenpolitik, die auf Verständigung mit den Kriegsgegnern setzte. Hatte er in der ersten Kriegshälfte noch das Völkerrecht – verbreiteter deutscher Propaganda folgend – als Waffe Großbritanniens gegen Deutschland abgelehnt, beschäftige er sich in der zweiten Kriegshälfte immer stärker mit rechtsbasierten Vorstellungen für eine zukünftige internationale Ordnung und befürwortete schon vor Kriegsende die Schaffung eines Völkerbundes. Parallel dazu unterstützte er die katholische Friedensbewegung. Diese außenpolitische Orientierung, die auch sein Eintreten für die Annahme des Vertrages miteinschloss, machte ihn für rechte Nationalisten zum Ziel ihres Hasses. Verbale Hetze und Gewalt gingen Hand in Hand.

 

Belgien, Spa.- Mitglieder der deutschen Waffenstillstandskommission, vlnr: General Hans von Hammerstein-Gesmold, Matthias Erzberger, Freiherr Ernst von Langwerth-Simmern (1919). Bundesarchiv Bild 183-R10390
Belgien, Spa.- Mitglieder der deutschen Waffenstillstandskommission, vlnr: General Hans von Hammerstein-Gesmold, Matthias Erzberger, Freiherr Ernst von Langwerth-Simmern (1919).

Eintreten für die deutsche Demokratie

In der unübersichtlichen Situation nach der Novemberrevolution erkannte Erzberger die Möglichkeit und Notwendigkeit, aus den Trümmern des deutschen Kaiserreichs eine parlamentarische Demokratie zu schaffen. Sowohl Forderungen nach einer Räterepublik wie nach einer autoritären Herrschaft von rechts erteilte Erzberger scharfe Absagen. Die Wahl einer Nationalversammlung in geheimen, gleichen Wahlen durch Männer und erstmals auch Frauen war sein Ziel. Dafür mobilisierte er politische Unterstützung im Katholizismus – auch gegen zögerliche oder Bedenken tragende Stimmen. Für die Realisierung seiner politischen Ziele setzte er auf eine Koalition mit Sozialdemokraten (MSPD) und Liberalen (DDP) und knüpfte damit an die positiven Erfahrungen an, die er seit der Friedensresolution 1917 im Hauptausschuss gesammelt hatte.

Erzberger vertrat die Zentrumspartei als Minister und zeitweise Vizekanzler in den ersten drei Regierungen der Weimarer Republik. Immer wieder warb er für die Demokratie und erklärte deren Grundlagen. Gegen Stimmen, die Kompromisse als Verrat betrachteten, betonte Erzberger, dass man „mit dem Eintritt in die Koalition [...] keine Grundsätze“ aufgebe. Man müsse in einem Regierungsbündnis jedoch bereit sein, „Opfer zu bringen [...], um Gegenwerte einzutauschen.“ Denn „das Wesen der Koalition“ zwinge, „Ausgleiche herbeizuführen.“[4]

 

Reichsminister der Finanzen 1919–1920

Energisch nutzte Erzberger ab Ende Juni 1919 die Möglichkeit, das deutsche Steuer- und Finanzsystem, das in Folge des Krieges ruiniert war, grundlegend umzugestalten. Eine Neuverteilung der öffentlichen Einnahmen, die Schaffung einer effizienten Steuer- und Finanzverwaltung, reichsweit einheitliche Steuern und ein Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Kommunen waren wesentliche Bestandteil der Reichsfinanzreform von 1919/20, die Erzberger in enger Abstimmung in der Regierungskoalition und mit Reichspräsident Friedrich Ebert gegen massive Widerstände durchsetzte. Gemeinsames Ziel war es, der gerade verabschiedeten Weimarer Reichsverfassung eine tragfähige finanzielle Grundlage zu verschaffen und so der durch Angriffe von Links- und Rechtsaußen gefährdeten ersten deutschen Demokratie eine Überlebenschance zu eröffnen – und das innerhalb von nur neun Monaten. Wesentliche Elemente dessen, was Erzberger damals politisch erwirkte, haben bis heute Bestand, weshalb der Ökonom Stefan Bach die Reichsfinanzreform als Jahrhundertreform einordnet.

 

Mord Erzberger - Als Täter sind ermittelt: der Kaufmann Heinrich Schulz und stud. jur. Heinrich Tillessen. Plakat September 1921, Verlag Dr. Wildsche Buchdruckerei Gebr. Parcus, München. Bundesarchiv Plak 002-009-021
Mord Erzberger - Als Täter sind ermittelt: der Kaufmann Heinrich Schulz und stud. jur. Heinrich Tillessen. Plakat September 1921, Verlag Dr. Wildsche Buchdruckerei Gebr. Parcus, München.

Hass, Hetze, Mord

Mit seinem kämpferischen Eintreten für die Weimarer Republik bewegte sich Erzberger im Zentrum zentraler politischer und gesellschaftlicher Konflikte, die die deutsche Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten. Rechte Gegner der Weimarer Republik sahen in ihn eine Verkörperung der verhassten Demokratie und versuchten, mit Angriffen auf ihn die neue Staatsordnung zu treffen und zu zerstören.

Verbale Hetze, die sprachliche Entmenschlichung seiner Person und die Anwendung von Gewalt kulminierten, bis er am 26. August 1921 von Mitgliedern der antirepublikanischen „Organisation Consul“ ermordet wurde. Die nationalistischen Terroristen hatten mit ihrer Tat die Demokratie erschüttern und den Auftakt für einen Umsturz von rechts geben wollen.

Die Reaktionen auf die brutale Ermordung Erzbergers zeigten einmal mehr die tiefen Verwerfungen der deutschen Gesellschaft. Rechte Gegner der Demokratie feierten öffentlich den Mord und fanden Zustimmung bis in die Mitte der Gesellschaft. Die Befürworter der Weimarer Republik waren hingegen entsetzt und gingen reichsweit zu Großdemonstrationen auf die Straßen, um politischer Gewalt eine Absage zu erteilen und für die Demokratie einzutreten.

Rechtsextreme Kreise der bayerischen Polizei halfen den Tätern, in das Ausland zu fliehen und sich den Ermittlungen der badischen, württembergischen und preußischen Behörden zu entziehen. Die Nationalsozialisten feierten ab 1933 die nach Deutschland zurückgekehrten Mörder Erzbergers. Erst nach 1945 wurden die Attentäter vor Gericht gestellt und zu Freiheitsstrafen verurteilt. Auch der juristische Umgang mit dem Erzberger-Mord war ein Teil deutschen Umgangs mit Demokratie.

 

Erinnern und Nachdenken über die Demokratie

Jenseits der geschichtspolitischen Entscheidung, ob man an Erzberger als „Wegbereiter deutscher Demokratie“[5], „einen der Gründerväter der Weimarer Republik“[6] oder als „Märtyrer der Demokratie“[7] erinnert, bietet die Beschäftigung mit Matthias Erzberger zahlreiche Möglichkeiten, über Demokratie, ihre Grundlagen und ihre Herausforderungen in Umbruchzeiten nachzudenken. 2011 und 2021 bildeten anlässlich der Jahrestage des tödlichen Attentats auf Erzberger die Themen Hass, Hetze und Mord als Gefahren für die Demokratie eine wichtige Brücke zur Gegenwart. Vor dem Hintergrund von „Zeitenwende“ und der technisch-medialen Revolution durch KI kann der Blick auf den „lernenden Politiker“ und „Möglichkeitsfenster“ als Teil von politischen Prozessen zu einem vertieften Verständnis von Demokratie beitragen.

 

Dr. Christopher Dowe ist Historiker und Teamleiter Ausstellungsorte beim Haus der Geschichte Baden-Württemberg

 

 

Anmerkungen:

[1] Zum Gedächtnis Matthias Erzbergers. Ansprache von Innenminister Dr. Filbinger auf der Erzberger-Gedächtnisfeier im Bad Griesbach am 2. September 1961, [Stuttgart 1961] (Haus der Geschichte Baden-Württemberg Inv.Nr. 2009/1650).

[2]Ernst Troeltsch, Spectator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918–1922 [Neudruck], Aalen 1966, S. 79

[3] Damals noch „Staatssekretär“ genannt.

[4] Offizieller Bericht des Ersten Reichsparteitages der Deutschen Zentrumspartei. Tagung zu Berlin vom 19. bis 22. Januar 1920, Berlin [o.J.].

[5] So der Untertitel der Dauerausstellung der Erinnerungsstätte Matthias Erzberger in Münsingen-Buttenhausen. Vgl. www.erzberger-museum.de.

[6] https://hlz.hessen.de/themen/detailansicht/26-august-1921-100-todestag-von-matthias-erzberger/.

[7] Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) in: Südwestpresse vom 10.9.2021 (www.swp.de/lokales/reutlingen/buttenhausen-gedenken-kretschmann-ueber-erzberger-ein-maertyrer-der-demokratie-516029.html).

 

Literatur:

  • Christopher Dowe: Matthias Erzberger. Ein Leben für die Demokratie. Stuttgart 2011.
  • Christopher Dowe: „Das Erzberger-Attentat, Deutschland 1922, 1946“, in: Kurt Groenewold/Alexander Ignor/Arnd Koch, Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/erzberger-attentat/ (zuletzt aufgerufen am 28.8.2025).
  • Benjamin Dürr: Erzberger, der gehasste Versöhner. Biografie eines Weimarer Politikers. Berlin 2021.
  • Klaus Epstein: Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie. Berlin 1962.
  • Geschichtsverein der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Verbindung mit dem Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.): Matthias Erzberger. Für Demokratie und gegen den Obrigkeitsstaat. Stuttgart 2023.
  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.): Matthias Erzberger. Ein Wegbereiter deutscher Demokratie. Stuttgart 2011.
  • Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.): Matthias Erzberger. Ein Demokrat in Zeiten des Hasses: Karlsruhe 2013.
  • Christoph E. Palmer/Thomas Schnabel (Hg.): Matthias Erzberger 1875–1921, Patriot und Visionär. Stuttgart 2007.

 

"Geschichtsbewusst" bildet eine Bandbreite an politischen Perspektiven ab. Der Inhalt eines Essays gibt die Meinung der Autorin oder des Autors wider, aber nicht notwendigerweise diejenige der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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