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Andauernde Massenproteste fordern grundlegende Bildungsreform in Chile

kohta Dr. Martin F. Meyer, Winfried Jung

Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei

Die bereits seit mehreren Wochen in Chile stattfindenden Schüler- und Studentenproteste haben auch im Monat August nicht nachgelassen und zuletzt sogar noch einmal an Intensität gewonnen. Bei der aktuellen Protestbewegung handelt es sich um die größten Demonstrationen seit dem Ende der Militärdiktatur im Jahre 1990. Mehrere Male in der jüngsten Vergangenheit gingen bis zu 100.000 Schüler, Studenten und Dozenten auf die Strasse, um ihren Unmut gegenüber dem chilenischen Bildungs- und Erziehungssystem zum Ausdruck zu bringen.

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Ferner sind seit Wochen zahlreiche Gebäude von staatlichen Schulen und Universitäten besetzt, weshalb der Unterricht an vielen Bildungseinrichtungen nur noch begrenzt stattfinden kann. Die bisher ins Spiel gebrachten Reformvorschläge der Mitte-Rechts-Regierung von Präsident Sebastián Piñera, wie etwa die Schaffung eines Bildungsfonds in Höhe von rund vier Milliarden Dollar, werden von den Anführern der Protestbewegung bisher abgelehnt. Sie fordern freie und kostenlose Bildung als ein Grundrecht für alle Chilenen. Piñera, dessen Popularitätswerte in den letzten Monaten rapide gesunken sind, lehnt diese Forderung kategorisch ab.

Bereits im vergangenen Mai war es eine Woche vor der jährlichen Rede des Präsidenten zur Lage der Nation zu Massendemonstrationen gekommen. Damals gingen in der Hauptstadt Santiago rund 15.000 Studierende und Dozenten auf die Straße, um eine grundlegende Bildungsreform zu fordern. In den letzten Wochen hat sich die Anzahl der Protestierenden eindrucksvoll vervielfacht. Die aktuellen Proteste übertreffen bei weitem die letzte große Mobilisierung im Bildungssektor vom Jahre 2006, als die Sekundarschüler des Landes während der so genannten „Revolution der Pinguine“ (in Anspielung auf ihre schwarz-weißen Schuluniformen) für eine bessere und gerechtere öffentliche Schulbildung auf die Straße gingen. Die aktuelle Bewegung zählte zuletzt über 100.000 Personen in ganz Chile. Auch die allgemeine Öffentlichkeit scheint sich vermehrt hinter die Protestbewegung zu stellen. In den letzten zwei Wochen schlugen viele Bürger abends um 21:00 Uhr auf Töpfe und Pfannen, um mit dem Lärm ihre Solidarität mit den Demonstrationen zum Ausdruck zu bringen. In den achtziger Jahren hatten die Chilenen mit diesen „cacerolazos“ gegen die Diktatur von Augusto Pinochet protestiert.

Zuletzt kam es am Rande der zum größten Teil friedlich verlaufenden Demonstrationen auch vereinzelt zu schweren Ausschreitungen und gewaltsamen Zusammenstössen. So eskalierten die Proteste am 4. August, nachdem die Regierung eine geplante Demonstration auf der Hauptverkehrsader der Hauptstadt angesichts der negativen Auswirkungen auf den Berufsverkehr nicht genehmigt hatte. Polizeikräfte und Demonstranten lieferten sich heftige Auseinandersetzungen. Zahlreiche vermummte Randalierer errichteten an Kreuzungen in der Hauptstadt Barrikaden aus brennenden Autoreifen und setzten Geschäfte und Autos in Brand. Zusätzlich stürmten rund 200 Demonstranten das Gebäude des privaten TV-Senders Chilevision, um eine vierzigminütige Protestbotschaft mit ihren Anliegen auszustrahlen.

Camila Vallejo, Präsidentin des chilenischen Dachverbands der Studentenorganisationen (Confech), distanzierte sich von dem gewalttätigen Mob. „Wir demonstrieren friedlich, Gewalt geht von unserer Protestbewegung nicht aus”. Nach Polizeiangaben wurden seit Beginn der Demonstrationen rund 800 Personen festgenommen. Die Mitte-Links-Opposition machte vor allem Innenminister Rodrigo Hinzpeter für die Ausschreitungen verantwortlich, da dieser die Demonstration verboten hatte, und reichten im Parlament eine Verfassungsbeschwerde gegen ihn ein. Die jüngste Demonstration am vergangenen Dienstag, den 9. August, zählte erneut mehr als 100.000 Menschen, verlief jedoch ohne größere Zwischenfälle. Der nächste große Protestmarsch („paro nacional“) ist für den 18. August geplant.

Hintergrund der aktuellen Proteste sind die laut den Protestierenden niedrigen Staatsausgaben für öffentliche Schulen und Universitäten sowie die unzureichenden öffentlichen Mittel für Studenten aus ärmeren Schichten. Obwohl es in den letzten zwanzig Jahren im chilenischen Bildungswesen viele positive Entwicklungen geben hat – so ist z.B. der Anteil der Bevölkerung, der heute über eine höhere Schulbildung verfügt, von 52 auf 80 Prozent gestiegen –, herrscht nach wie vor eine hohe Korrelation zwischen dem Familieneinkommen und dem Bildungsniveau der Schüler. Kinder aus reichen Familien gehen fast ausnahmslos auf private Schulen und Universitäten, Kinder aus armen dagegen auf staatliche – mit großen qualitativen Unterschieden zwischen den einzelnen Einrichtungen, da öffentliche Schulen und Universitäten vom Staat nur wenig Geld bekommen. So bezieht etwa die Universidad de Chile lediglich 10 Prozent ihres Etats vom Staat, weshalb an der größten Hochschule des Landes im Jahr Studiengebühren von umgerechnet mehreren tausend Euro fällig werden.

Angesichts der hohen Gebühren, die selbst von staatlichen Universitäten erhoben werden, sind viele Chilenen auf Darlehen angewiesen, und verschulden sich mit einem Studium auf Jahrzehnte hinaus. Laut einer Studie der OECD ist das Studieren im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen fast nirgendwo auf der Welt so teuer wie in Chile – rund 80 Prozent der Kosten eines Studiums müssen von den Studenten selber finanziert werden. Während OECD-Mitgliedsländer durchschnittlich 9.195 US Dollar pro Schüler ausgeben, liegt dieser Betrag in Chile unter 4.000 US Dollar. Des Weiteren ist die Verteilung der Bildungsinvestitionen zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Bildung sehr unterschiedlich. Der Hauptanteil entfällt auf die Hochschulbildung. Grund- und Mittelschulen beziehen dagegen wesentlich weniger finanzielle Mittel. Aufgrund der wirtschaftsliberalen Ausrichtung der Bildungspolitik in den letzten Jahren konnten private Schulen mit beträchtlichen finanziellen Reserven oftmals die besten Lehrer für sich gewinnen, sodass die Bildung an öffentlichen Schulen vielerorts seit langem ungenügend ist.

Laut Kritikern geht ein Großteil dieser mangelhaften Zustände auf die neoliberale Bildungspolitik der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet von 1973 bis 1990 zurück. Ende der siebziger Jahre wurde unter Pinochet die Verantwortung für die Administration der öffentlichen Schulen vom Staat auf die Gemeinden übertragen. Dieser Schritt hat jedoch nach Meinung der Betroffenen zu einer sehr unterschiedlichen Qualität der Schulbildung im Lande geführt, da die finanziell schlechter gestellten Gemeinden sich im Wettbewerb mit den anderen Kommunen nicht behaupten konnten. Ein wesentliches Anliegen der aktuellen Bewegung ist daher die Forderung, die Verantwortung für die öffentlichen Schulen von den Gemeinden wieder auf den Staat zurück zu verlagern. Ferner hat Pinochet in den achtziger Jahren großzügige Subventionierungen von Privatschulen eingeführt, um den Sektor interessanter für private Investoren zu machen, was jedoch eine Fokussierung des chilenischen Bildungssystems auf die Privatwirtschaft und den Ausbau privater Bildungseinrichtungen zur Folge gehabt hat. In der Tat hat Chile laut OECD prozentual gesehen einen der größten privaten Bildungssektoren weltweit – nur noch zu vergleichen mit Korea und Japan.

Fairerweise muss man jedoch anerkennen, dass Präsident Piñera, erstes Staatsoberhaupt der Mitte-Rechts-Parteien seit dem Ende der Militärdiktatur Pinochets und der Rückkehr zur Demokratie im Jahre 1989, viele der aktuellen Probleme im Bildungssektor von seinen Vorgängern geerbt hat. Auch die letzten zwanzig Jahre der Mitte-Links-Regierungen der Concertación haben nicht viel am grundlegenden Charakter des Systems geändert. Schon früh hatte Piñera die Verbesserung des Erziehungssystems als Mittel zur Erlangung von mehr Chancengerechtigkeit als eine Priorität für seine vierjährige Amtszeit ausgemacht. Zu diesem Zweck wurden von der Regierung bereits im Jahre 2010 mehrere Gesetzesentwürfe zum Thema Bildungsreform präsentiert, mit denen die Qualität des chilenischen Erziehungswesens verbessert werden soll. Diese Reformen wurden Ende Januar 2011 im Kongress mit großer Mehrheit und breiter Zustimmung seitens aller Parteien abgesegnet.

Nach anfänglicher Zurückhaltung hat Piñera angesichts der andauernden Proteste kürzlich eine Reihe weiterer Maßnahmen und Reformen in die Wege geleitet. So verkündete er in einer Fernsehansprache am 5. Juli die Schaffung eines 4 Milliarden Dollar Hochschulfonds, um Universitäten und sozial benachteiligte Schüler und Studierende stärker fördern zu können. Zusätzlich legten der Präsident und der im letzten Monat zum neuen Bildungsminister ernannte Felipe Bulnes Anfang August ein 21 Punkte umfassendes Gesetzespaket vor, das „zentrale Forderungen“ der Schüler und Studenten aufgreift. So ist unter anderem geplant, den Staat per Verfassung dazu zu verpflichten, ein Recht auf qualitativ hochwertige Bildung für alle Bürger zu gewährleisten. Hierzu sollen demnächst eine Reihe von Behörden geschaffen werden, die sich dem Thema der Schul- und Bildungsqualität annehmen werden. Zudem soll es eine Erweiterung der vorschulischen Bildung geben, eine Erhöhung der Subventionen für öffentliche Schulen und Universitäten sowie eine Ausweitung der Zahl der Stipendien für technische Studiengänge von 70.000 auf 120.000.

Den protestierenden Gruppen gehen diese Vorschläge nicht weit genug. Es gehe nicht um ein paar Pesos mehr oder weniger, kommentierte ein Sprecher der Bewegung, sondern um die grundsätzliche Forderung „Freie Bildung in ganz Chile“. Die Vorschläge Piñeras würden weiterhin auf der gleichen marktorientierten Ideologie als Grundlage des Bildungssystems basieren. Ein weiterer zentraler Kritikpunkt laut Vertretern der Protestierenden ist, dass das Erzielen von Profit beim Betreiben von Bildungseinrichtungen, das trotz gesetzlichen Verbots gängige Praxis sei, aufhören müsse. Da die Regierung offenbar nicht in der Lage sei, auf ihre Forderungen adäquat zu antworten, verlangen die Schüler und Studierenden die Durchführung einer Volksabstimmung.

Vertreter der Regierungsparteien äußerten sich deutlich ablehnend gegenüber dieser Forderung, da ein Plebiszit eine Verfassungsreform erfordern würde und in erster Linie der Kongress für die Klärung von Fragen von nationalem Interesse zuständig sei. Der Forderung nach kostenloser Bildung erteilte Piñera eine klare Absage: „Wir alle hätten gerne, dass die Bildung, die Gesundheit und viele andere Sachen für alle kostenlos wären. Ich möchte jedoch daran erinnern, dass nichts im Leben kostenlos ist. Letztendlich muss jemand dafür bezahlen.“

Die monatelangen Proteste haben der Regierung immensen Schaden zugefügt. Laut der jüngsten Meinungsumfrage des renommierten Centro de Estudios Públicos (CEP) (durchgeführt im Zeitraum Juni/Juli 2011) lag die Zustimmung der Regierung von Sebastián Piñera zuletzt bei lediglich 27 Prozent, die Ablehnung hingegen bei 52 Prozent. Und dass, obwohl es Chile paradoxerweise in makroökonomischer Hinsicht sehr gut geht – das Wirtschaftswachstum lag zuletzt bei 7 Prozent. Angesichts der fallenden Umfragewerte und andauernden Demonstrationen vollzog Piñera deshalb am 18. Juli 2011 eine mit insgesamt acht Neubesetzungen tiefgreifende Umstrukturierung seines Kabinetts. Versetzt wurde unter anderem der angesichts der Studentenproteste stark unter Druck geratene damalige Bildungsminister Joaquín Lavín (UDI), der in ein weniger konfliktreiches Ressort, nämlich in das für soziale Entwicklung zuständige Planungsministerium, berufen wurde – sicherlich auch, um seine Chancen als möglicher Präsidentschaftskandidat der Regierungskoalition bei den nächsten Wahlen nicht zu schaden (Piñera selbst darf laut Verfassung nicht direkt wiedergewählt werden).

Angesichts der öffentlichen Ablehnung gegenüber der Regierung überrascht es umso mehr, dass das oppositionelle Mitte-Links-Bündnis der Concertación bisher überhaupt keinen Profit aus der Lage ziehen konnte: In der letzten CEP-Umfrage wurde sie mit einer Zustimmung von lediglich 17 Prozent sogar noch schlechter bewertet als die aktuelle Regierungskoalition.

Sowohl Opposition als auch Regierung schieben sich was die Studentenproteste angeht gegenseitig die Schuld zu. Laut Vertretern der Regierungskoalition hätten die Vorgängerregierungen 20 Jahre Zeit gehabt, das Erziehungssystem zu verbessern, während man in der Concertación erwidert, dass die politische Rechte über Jahre hinweg jede grundsätzliche Reform des Bildungssektors blockiert habe. Die Protestierenden scheinen hingegen die gesamte politische Klasse für die Situation verantwortlich zu machen. Die jüngsten Proteste sind daher zweifelsohne auch ein Indiz für die in den letzten Jahren gestiegene Verdrossenheit und allgemeine Unzufriedenheit der jüngeren Bevölkerung gegenüber der Politik.

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