Am 12. Juni 2025 fand in Oestrich-Winkel die zweite Veranstaltung der Reihe „Rheingauer Gespräch zu Recht und Staat“ in Kooperation mit der EBS Universität statt. Im Mittelpunkt stand die Diskussion über das neue Bundestagswahlrecht, das bei der letzten Bundestagswahl dazu führte, dass 23 Wahlkreissieger – davon fünf aus Hessen – nicht ins Parlament einziehen konnten. Die Veranstaltung beleuchtete historische Entwicklungen, aktuelle Reformen und die praktischen Auswirkungen des Wahlrechts.
Teil 1: Historische Entwicklung des Wahlrechts
Prof. Dr. Fabian Michl eröffnete die Veranstaltung mit einem Vortrag zur Entwicklung des deutschen Wahlrechts von der Mehrheits- zur Verhältniswahl. Er führte durch die zentralen Etappen seit dem 19. Jahrhundert: Beginnend mit dem Personenwahlrecht ohne Parteien, über die Impulse der Paulskirchenwahl 1849, bis hin zur Etablierung politischer Parteien im Kaiserreich. Das Verhältniswahlrecht wurde zunächst theoretisch diskutiert, fand aber mit der Weimarer Republik und der Einführung gebundener Parteilisten im Reichswahlgesetz von 1918/1920 seine konkrete Umsetzung.
Nach der Nachkriegszeit etablierte sich das Zweistimmensystem der Bundesrepublik Deutschland, das eine „personalisierte Verhältniswahl“ darstellt. Die Reform 2023 markiert eine Zäsur: Die Personenwahl wurde offiziell als sekundär erklärt, während das Verhältniswahlprinzip in den Vordergrund rückt. Prof. Michl betonte, dass Wahlrecht nie neutral sei, sondern immer Ausdruck politischer Aushandlungsprozesse.
Teil 2: Schwächen des aktuellen Wahlrechts
Prof. Dr. Bernd Grzeszick thematisierte die aktuellen Herausforderungen des Wahlrechts. Die Dominanz der Zweitstimme schwäche die direkte Verbindung zwischen Wählerinnen und Wählern sowie den Abgeordneten. Wahlkreiskandidaten hätten jedoch eine eigenständige legitimatorische Bedeutung: Sie treten häufig selbstbewusster auf und sind eher bereit, gegen die Parteilinie zu stimmen. Problematisch sei es, wenn Wahlkreissieger aufgrund der aktuellen Regelungen nicht ins Parlament einziehen – eine Situation, die sowohl die Legitimation als auch die föderale Integrationskraft des Systems beeinträchtige.
Grzeszick warnte, dass die geplante Verkleinerung des Bundestags ein politisches Argument sei, das die Responsivität des politischen Systems nicht zwingend verbessere. Nur die tatsächliche Vertretung der direkt gewählten Abgeordneten könne dauerhaft das Vertrauen der Wählerschaft sichern.
Teil 3: Podiumsdiskussion
In der Podiumsdiskussion, moderiert von Dr. Stephan Klenner (FAZ), diskutierten Michl, Grzeszick und die ehemalige Bundestagsabgeordnete Dr. Astrid Mannes die Auswirkungen der Wahlrechtsreform. Zu Beginn hob Michl hervor, dass viele Parteien nach der Wahl eine große Enttäuschung verspürten, da das Gefühl fehle, dass sich der Wahlkampf tatsächlich auszahle. Er plädierte dafür, das neue Wahlrecht nicht nur im Vergleich zum alten zu bewerten, sondern die verfassungsrechtlichen Grundsätze als Maßstab heranzuziehen.
Ein zentraler Streitpunkt waren Überhangmandate und die Legitimation der Wahlkreissieger. Mannes bewertete die Reform der 19. Wahlperiode als verpasstes Projekt. Sie betonte die besondere Verbindung zwischen Abgeordneten und ihrem Wahlkreis und warnte vor Politikverdrossenheit, wenn diese Beziehung geschwächt werde. Die Diskussion behandelte auch mögliche Reformoptionen wie Ersatzstimmen, Präferenzlisten oder Stichwahlen zur Stärkung der demokratischen Legitimation. Die Diskussion griff auch die Situation in Ostdeutschland auf, wo es nach Ansicht von Grzeszick darum gehe, demokratische Kräfte zusammenzuhalten.
Abschließend wurde deutlich, dass das Wahlrecht weiterhin Spannungen zwischen Parteienmacht, direkter Repräsentation und föderaler Integration aufweist, das aktuelle Wahlrecht bietet hier noch keine optimale Lösung.
Fazit:
Die Veranstaltung bot einen umfassenden Einblick in die historische Entwicklung und die aktuellen Reformdebatten des deutschen Wahlrechts. Deutlich wurde, dass Wahlrecht nicht nur ein technisches Instrument ist, sondern stets das Zusammenspiel politischer Interessen und demokratischer Legitimation widerspiegelt. Die Reformen der letzten Jahre haben das Verhältniswahlprinzip gestärkt, zugleich aber Fragen der direkten Wahlkreisvertretung, Legitimation und Systemverantwortung offengelassen.
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