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Reportage sui paesi

Kommunitarismus in Frankreich: das Ende des Integrationsmythos?

di Dr. Norbert Wagner, Philippe Crevel
Anfang Juli 2004 sorgte Marie L. für Schlagzeilen. Die junge Frau hatte wegen eines antisemitischen Übergriffs, der ihrer Phantasie entsprungen war, Anzeige erstattet. Dieser Vorfall illustriert die hektische Befangenheit der französischen Gesellschaft gegenüber kommunitaristischen Bewegungen. Wie die Zeitung „Le Monde“ danach zugab, reagierten die Medien und die politische Klasse völlig überspitzt. Ohne das Ergebnis der Ermittlungen abzuwarten, verurteilten Politiker und Medien einstimmig die angeblichen Ausschreitungen, die Marie L. zu erleiden hatte. Die muslimische Gemeinschaft betrachtet sich als Opfer der falschen Beschuldigungen der jungen Frau. Ist damit das Integrationsmodell am Ende?

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2001 war bei einem Fußballspiel zwischen Frankreich und Algerien das Bild des geeinten Frankreichs durch Pfiffe gegen die Nationalhymne und Besetzen des Fußballfelds empfindlich gestört worden. Bei einem Endspiel der französischen Meisterschaft hatten korsische Schlachtenbummler mit Buhrufen auf die Marseillaise reagiert.

Der Sieg der französischen Nationalmannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1998 war der Höhepunkt des französischen Integrationsmodells, symbolisiert durch die multiethnische Zusammensetzung der Mannschaft . Die Niederlage der Franzosen bei der Weltmeisterschaft 2002 und der Europameisterschaft 2004 scheint das Ende des Integrationsmodells einzuläuten. Das Gesetz über die Laizität, die Zunahme von rassistischen Handlungen zeugen vom tiefen Unbehagen der französischen Gesellschaft und scheinen das System der Assimilation in Frage zu stellen.

Die WM 98 hatte eine seit über 20 Jahren bestehende Realität überdeckt. Die zweite und insbesondere die dritte Generation, die Kinder und Enkel der Zuwanderer aus den sechziger Jahren, fühlen sich abgelehnt und lehnen selbst den französischen Schmelztiegel ab.

Die Integration von Zuwanderern ist Teil des republikanischen Gedankenguts. Der Begriff der Integration hat etwas Mystisches. Das laizistische Schulsystem, die Armee und der Wehrdienst hatten den Auftrag, das französische Volk unter dem Dach der Werte der Republik zusammenzuführen.

Der Kommunitarismus steht im Widerspruch zum Republikanischen Gedanken. Die Einheit der Republik akzeptiert keine Kasten, organisierte Gruppen und Gemeinschaften. Artikel 3 der Verfassung von 1958 besagt: “Die nationale Souveränität liegt beim Volk; dieses übt die nationale Souveränität durch seine Vertreter und durch Volksentscheide aus. Die Ausübung kann nicht von einem Teil des Volkes oder durch eine Einzelperson beansprucht werden.“

Auch mit der Devise „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und der Präambel zur Verfassung wird die Nichtanerkennung von Gemeinschaften illustriert.

Heute gibt es keinen Wehrdienst mehr und das öffentliche Schulsystem ist seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen. Die Integration von Zuwanderern aus Spanien, Portugal, Italien oder Polen war problemlos, mit den Kindern und Enkeln von Immigranten aus dem Maghreb oder Afrika funktioniert die Immigration nicht oder nur teilweise und stößt sich an zivilisatorischen Hindernissen.

Ghettos und rechtlose Zonen sind in Frankreich kein neues Phänomen, in den sechziger Jahren gab es die Elendsviertel und in den siebziger Jahren die suburbanen Zonen des sozialen Wohnungsbaus; in den achtziger Jahren wurde wiederholt in Berichten darauf hingewiesen, daß eine Reihe von Stadtvierteln für die Polizei nicht mehr zugänglich seien. Neu jedoch ist die Tatsache, daß diese Viertel mittlerweile von religiösen Gruppen oder organisierten Banden beherrscht werden.

Der französische Nachrichtendienst bestätigt diese Zustände und auch die Ausbreitung von kommunitaristischen Bewegungen. Nachrichtendienst-lichen Erkenntnissen zufolge gibt es in der Hälfte der überwachten kritischen Wohnviertel Zeichen der „Abkapselung in eine Gemeinschaft“. Antisemitische Stellungnahmen wurden eher durch den 11. September ausgelöst, da der völlig haltlose, aber weit verbreitete Glaube besteht, die Attentate seien das Werk der Juden.

1. Das französische Integrationsmodell – Definition und Entstehungsgeschichte

  • Schlüsselfaktor des republikanischen Pakts

    Die Integration von Ausländern, die sich in Frankreich niederlassen, hat sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem Schlüsselelement des republikanischen Pakts entwickelt, der den Politikern in Frankreich sehr am Herzen liegt.

    Das französische Integrationskonzept unterscheidet sich vom angelsächsischen, das stärker kommunitaristisch geprägt ist. Die Einheit der Republik und der universalistische Begriff des Bürgers werden durch die Integration bestimmt. Die Eingliederung von Ausländern ist Teil des Mythos der Revolutionskriege und der Napoleonischen Kriege (1789/1814).

  • Demographischer Faktor, wirtschaftliche und militärische Notwendigkeit

    In Frankreich sank die Fertilitätsrate früher als in den Nachbarländern, nämlich bereits um 1800. Im Gegensatz zu Deutschland, Italien, Irland oder England öffnete sich Frankreich bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit folgender Zielsetzung der Immigration:

    °Aufstockung der verfügbaren Arbeitskraft,

    °Erhöhung des Rekrutenpotentials,

    °Steigerung der Geburtenzahlen.

    Frankreich unterstützte deshalb lange Zeit die Ansiedlung von Zuwanderern mit Familienzusammenführung und Assimilation. Seit 1889 besteht das „jus soli“: auf französischem Boden geborene Kinder ausländischer Eltern sind dadurch Franzosen. Das öffentliche Schulsystem und die Armee mit dem Wehrdienst sollten Kinder unterschiedlichster Herkunft an die Werte der Republik heranführen.

    Für katholische Zuwanderer aus Europa war das Modell erfolgreich, bereits die zweite Generation war gut in die französische Gesellschaft integriert.

    Seit den siebziger Jahren versagt dieses Assimilationsmodell jedoch angesichts der Probleme durch die Immigration aus Afrika und dem Maghreb.

    Im Gegensatz zu Italienern, Spaniern oder Portugiesen stammen die Immigranten aus Afrika und der Maghrebregion aus einem anderen Kulturkreis als die Franzosen. Außerdem hinterließ die Kolonialgeschichte tiefe Spuren: Die Franzosen fühlen sich angesichts der Geschehnisse der Vergangenheit schuldig und die Zuwanderer positionieren sich als Opfer der Geschichte (ihre Großeltern litten unter der französischen Besatzung und sie selbst werden durch eine sie ablehnende Gesellschaft marginalisiert).

  • Die Grenzen des französischen Systems sind seit langem erkannt

    In den Kolonien wurde das Modell der gleichberechtigten Integration nicht angewendet. Die Kriege der Entkolonialisierung und insbesondere die Kriege in Indochina und Algerien haben gezeigt, wie schwer Frankreich die Integration von Menschen aus anderen Kulturen fällt.

    In Frankreich verlief die Integration von Spaniern, Polen, Portugiesen und Italiener auch nicht immer friedlich, es kam zu Pogromen, Ausschreitungen, Hetzkampagnen.

  • Die Zeichen der Nichtassimilation

    Die Zuwanderung aus dem Maghreb und Afrika erfolgte hauptsächlich in den sechziger und siebziger Jahren. Als Letzteingetroffene wurden sie von der Krise 1973 besonders getroffen. Zusätzlich zu ihrem anderen kulturellen Hintergrund und der Ghettoisierung in den Vorstädten der großen Städte erschwerte das schwache Wirtschaftswachstum ihre Integration.

    Der Marginalisierungsprozeß setzt sich von Generation zu Generation fort.

  • Arbeitslosigkeit

    Immigrantenfamilien leiden auf Grund der seit 30 Jahren andauernden Krise an hoher Arbeitslosigkeit. Kinder und Enkel von Zuwanderern sind besonders von der Arbeitslosigkeit betroffen. In der Altersgruppe 16 – 25 Jahre liegt die Arbeitslosenquote für junge Menschen maghrebinischer Herkunft bei 40%, unter gleichaltrigen Jugendlichen französischen Ursprungs bei knapp 20%.

    25 bis 33% der Männer algerischen Ursprungs sind arbeitslos, dreimal soviel wie französischstämmige Männer.

  • Wohnungsangebot

    Ende der sechziger Jahre gab es in Frankreich viele Elendsviertel. Mit zunehmender Immigration wurde die Anlage von suburbanen Wohnvierteln beschlossen und zahlreiche Riesenwohnblöcke bescheidener Bauqualität gebaut, die kaum instand gehalten wurden. Diese Wohnanlagen wurden von den französischstämmigen Bewohnern verlassen und mutierten allmählich zu rechtlosen Ghettos. Die Trabantenstädte Evry und Cergy, Mantes-la-Jolie und viele Vorstädte im Departement Seine-Saint-Denis sind von dem Phänomen des Kommunitarismus betroffen.

  • Schulausbildung

    Das Scheitern der Schullaufbahn ist zugleich Ursache und Folge der Ghettoisierung einer Bevölkerungsgruppe.

    Ursache, da die betroffenen Kinder und Jugendlichen durch ihr Scheitern aus dem allgemeinen Sozialisationsprozeß ausgeschlossen werden; Folge, weil die Schule als Kontrollinstrument der Weißen über muslimische Bevölkerungsgruppen betrachtet wird. Außerdem finden die jungen Leute die Rolle des Dealers finanziell reizvoller als die Rolle des guten Schülers. Die soziale Anerkennung in den Vorstädten wird eher über äußere Zeichen des Wohlstands erreicht (teure Uhren, Kleider, Autos) als über schulischen Erfolg.

    In einigen Schulen im Departement Seine-Saint-Denis gibt es bis zu 80% muslimische Schüler.

2. Die Erkenntnisse des Nachrichtendienstes

Anfang Juni 2004 übergab die Direction Centrale des Renseignements généraux (DCRG), die der Polizei angegliedert ist, dem Innenminister Dominique de Villepin einen alarmierenden Bericht über die „Abkapselung in Gemeinschaften“ in den Vorstädten. Darin wird beschrieben, daß Teile des französischen Territoriums durch Verhaltensweisen, Gewalttätigkeit, religiösen Fanatismus und Beziehungen zwischen Mann und Frau geprägt sind, die sie vom allgemein gültigen Recht abtrennen.

Die DCRG überwacht rund 630 brisante Wohnviertel; in über 300 sind mehr oder weniger ausgeprägte Anzeichen von kommunitaristischer Abkapselung erkennbar. Betroffen sind Wohnviertel überall in Frankreich mit einer Bevölkerungszahl von rund 1,8 Mio. Menschen.

Kritische, wegen auffälliger urbaner Gewalt überwachte Wohnbezirke werden von der DCRG an Hand von acht Kriterien auf Kommunitarismus geprüft: hoher Anteil von Zuwandererfamilien, teilweise mit Vielehe; ein auf die Gemeinschaft konzentriertes Verbandsleben; ethnisch ausgerichtete Geschäfte; hohe Anzahl muslimischer Gebetsstätten; Bevölkerungsanteile mit orientalisch und religiös geprägter Kleidung; antisemitische und antiwestliche Graffitis; Schulklassen mit vorwiegend nicht französischsprachigen Schülern (Neuzuwanderer); sinkender Anteil an französischstämmigen Bewohnern. Bestätigen sich mehrere der genannten Kriterien, betrachtet die DCRG den Wohnbezirk als kommunitaristisch gefährdet.

Dieser Bericht wurde nicht offiziell veröffentlicht. Die Zeitung „Le Monde“ erhielt nur eine Kurzfassung. Außerdem hat der Bericht keine wissenschaftliche Aussagekraft, da er nicht auf eindeutigem statistischem Material beruht. Der Bericht möchte nur einen Trend aufdecken, der in ganz Frankreich vorhanden ist und auf zahlreichen, vom Nachrichtendienst gesammelten Beispielen aus den suburbanen Vierteln basiert.

Klare Anzeichen für den wachsenden Einfluß dieses radikalen Islams sind nach Aussage des Nachrichtendienstes das Tragen religiöser Kleidung und die Geringschätzung der Frauen, vor allem von maghrebinischen Frauen mit europäischem Lebensstil, die „regelmäßig Opfer von Beleidigungen und Gewalt sind“. Außerdem ist die Schule „ein wahres Vergrößerungsglas der Auffälligkeiten“, die in manchen Bezirken festgestellt werden. Lehrkräfte berichten von der „Radikalisierung der Religionsausübung (Ramadan, verbotene Nahrungsmittel), von der Infragestellung des Geschichtsunterrichts, der naturwissenschaftlichen Fächer und des Sportunterrichts und dem Verschleierungs-Druck, den männliche Schüler auf ihre Mitschülerinnen ausüben.“ Auch am Arbeitsplatz wird religiöser Druck ausgeübt. So stellten Autohändler fest, daß immer öfter Forderungen für die Einrichtung von Gebetsstätten und die Anpassung der Arbeitszeiten an religiöse Vorschriften gestellt werden. In Euro-Disneyland Paris wurden rund zehn illegale Gebetsstätten entdeckt.

3. Der Vormarsch des Kommunitarismus

Der Kommunitarimus greift um sich. Dieser Umstand wird jedoch vom Staat teilweise kaschiert, weil er dem republikanischen Gedanken widerspricht.

So gibt es im staatlichen Statistikamt INSEE keine Angaben über die Anzahl von Franzosen ausländischen Ursprungs oder über die Anzahl von Muslimen in Frankreich. Seit 1872 ist es verboten, Menschen nach ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zu differenzieren. Deshalb gibt es darüber praktisch keine statistische Datensammlung. Das Statistikamt begnügt sich mit allgemeinen Daten über die Zuwanderung, aus denen sich keine schlüssige Analyse über die ethnische Zusammensetzung der französischen Bevölkerung ableiten läßt.

Kommunitarismus beschränkt sich nicht auf die Probleme in den Vorstädten und die Integrationshemmnisse der ausländischen Mitbürger. Frankreich sieht sich mit einer allgemeinen Infragestellung seines Wertesystems konfrontiert. Das zunehmende Gewicht der homosexuellen Gemeinschaft, die dem Staat einen Rechtsrahmen für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften abverlangte, der bleibende Einfluß der feministischen Komponente, die ihrerseits 50%-Quoten bei der Benennung von Kandidatinnen bei den Wahlen durchsetzte und die regional-orientierten Bewegungen mit dem besonders brisanten Beispiel Korsika zeugen davon, daß die Werte der Republik im Umbruch sind.

Der Unternehmer und Intellektuelle Alain Minc schrieb 2003 ein Pamphlet gegen diese stille Revolution „Epitres à nos nouveaux maitres“ (Episteln an unsere neuen Meister). Darin prangert er die angelsächsische Entwicklung Frankreichs an „Wer hätte sich vor einer Generation vorstellen können, daß das quasi perfekte Modell einer Staatsnation, die Heimat der schwarzen Husaren der Republik, das Land der Revolution, das Frankreich von Napoleon und De Gaulle den Kurs eines multikulturellen Staats nach amerikanischem Vorbild ansteuern würde?“

  • Muslimischer Kommunitarismus gegen jüdischen Kommunitarismus

    Seit der Intifada (1. und 2.) vermehren sich in Frankreich die Anzeichen von Antisemitismus. Der 11. September und der Irakkrieg verschärften diese Entwicklung weiter. Eine Reihe von Publikationen verbreiteten Gerüchte, die Attentate am 11. September seien von jüdischer Hand gesteuert worden, um Amerika zum Krieg gegen die arabische Welt zu veranlassen; diese Gerüchte fielen in den Vorstädten auf fruchtbaren Boden.

    Viele Muslime sind der Auffassung, daß die jüdische Bevölkerung Frankreichs eine Vorzugsbehandlung erhält: Gesetze zur Ahndung von antisemitischen Äußerungen und Handlungen, polizeilicher Schutz der Synagogen, anspruchsvolle Privatschulen etc. Die Bevölkerung der Vorstädte ist deshalb vielfach anti-jüdisch eingestellt.

    Der jetzige Konflikt zwischen der muslimischen und jüdischen Gemeinschaft schürt erneut die Spannungen, die bereits vor der Entkolonisierung Algeriens bestanden. Viele Juden stammen aus Algerien. Sie verließen Algerien 1962, wo sie seit 1870 bis zur Unabhängigkeit die gleichen Rechte genossen wie die Franzosen (Erlaß Crémieux).

    Die jüdische Gemeinschaft in Frankreich wird auf 600.000 bis 700.000 Personen geschätzt. In einigen Vorstädten leben Juden und Muslime Tür an Tür (Departement Seine-Saint-Denis und Val-d’Oise). Letztes Jahr emigrierten zwei- bis dreitausend Juden nach Israel. Am 18. Juli dieses Jahres appellierte der israelische Ministerpräsident Scharon an die französischen Juden, nach Israel auszuwandern, da antisemitische Ausschreitungen in Frankreich deshalb zunehmen, weil „10% der Franzosen Muslime sind“.

  • Palästinensische Liste für die Europawahlen

    Anlässlich der Europawahlen im Juni dieses Jahres wollte die im Pariser Großraum aktive Liste „Euro-Palestine“ Kampagne gegen die Politik von Scharon und für Palestina machen. Insgesamt erhielt die Liste nur 1,63%, in einigen Gemeinden, beispielsweise in Mantes-la-Jolie, jedoch über 5%.

  • Mehr antisemitische Handlungen

    Der beratende nationale Ausschuß für Menschenrechte (CNCDH) registrierte 2003 insgesamt 558 antisemitische Handlungen, fünfmal mehr als in den achtziger Jahren.

    Im Zeitraum Januar bis Juni 2004 wurden 135 antisemitische tätliche Angriffe gemeldet, im gesamten Vorjahr 125. Die antisemitischen Handlungen und Angriffe wurden zumeist in brisanten Vorstädten von maghrebinischen Jugendlichen begangen.

  • Muslime in Frankreich

    Die Zahl der muslimischen Bürger in Frankreich ist Anlaß zur Diskussion. Die Angaben schwanken zwischen 3,7 und 8 Mio..

    Nach Auskunft des Instituts für Demographie gibt es in Frankreich 4 Mio. Muslime, zumeist maghrebinischen Ursprungs (Quelle: Institut de la Démographie, Studie von Michèle Tribalat), im Vergleich dazu waren es im Jahr 1982 2,5 Mio. Muslime.

    Der Hohe Rat für Integration beziffert die Anzahl von Muslimen auf 3 Mio. im Jahr 1993.

    Das Sekretariat für die Beziehungen mit der islamischen Welt ging 1996 von 4,2 Mio. aus. Der damalige Innenminister Charles Pasqua sprach - ebenfalls 1996 - von 5 Mio. Muslimen, davon 1 Mio. gläubige, 50.000 Fundamentalisten und 2.000 Radikale.

    Nicolas Sarkozy bezifferte im Jahr 2003 die Anzahl der Muslime auf 6 Mio. (Quelle: Innenministerium). Nach Aussage der rechtsextremen Partei gibt es 8 Mio. Muslime in Frankreich.

    Die Studie von Michèle Tribalat wurde mit einer Population von 380.481 Personen durchgeführt und ist sicher bis dato die vollständigste Erhebung dieser Art.

    Nach dieser Studie sind von den insgesamt 3,7 Mio. Muslimen 1,7 Mio. Zuwanderer, 1,7 Mio. Kinder von Zuwanderern und 300.000 Enkel von Zuwanderern. Die Studie besagt außerdem, daß 23% der Bevölkerung Frankreichs, d.h. insgesamt 14 Mio. Menschen, ausländischen Ursprungs sind. 6,9 Mio. davon stammen aus Europa, 3 Mio. aus dem Maghreb und 700.000 aus Afrika südlich der Sahara. Der algerische Bevölkerungsanteil einschließlich der nachgeborenen Generationen ist kleiner als der italienische und vergleichbar mit dem spanischen Bevölkerungsanteil. Auffällig ist die hohe Anzahl von jungen Menschen in der algerischstämmigen Gruppe.

    Nach einer 1995 durchgeführten Studie definiert sich ein Drittel der Muslime als praktizierende Gläubige; bei den Katholiken liegt diese Zahl bei rund 10%.

    Im Zeitraum 1965 bis 1982 verdreifachte sich die Anzahl an Eheschließungen zwischen Algeriern und Französinnen, die Eheschließungen zwischen Franzosen und Frauen aus dem Maghreb stiegen um das Zehnfache.

  • Re-Islamisierung

    Seit einigen Jahren ist in Reaktion auf die westliche Welt eine Re-Islamisierung feststellbar. Seinen Ausdruck findet dieses Phänomen in einer verstärkten Religionsausübung, insbesondere während des Ramadan. Die „Kopftuchfrage“ hat enormen Symbolcharakter, da ausschließlich junge Menschen Gegenstand dieser Diskussion sind. Die muslimische Gemeinschaft in Frankreich lehnt westlich ausgebildete Elitegruppen und damit letztlich auch das dorthin führende Bildungssystem ab. Junge Muslime beschuldigen ihre Eltern, diese hätten einerseits ihre Herkunft verraten und seien andererseits nicht integriert. Erkennbar sind die Suche nach eigener Identität und der Wille zu Aufruhr.

  • „Krieg“ zwischen den Liberalen und Extremisten in der muslimischen Glaubensgemeinschaft

    Nach Auffassung einiger Spezialisten dient Frankreich als Austragungsort der Konfrontation zwischen liberalen und extremistischen Muslimen.

    Da die Ausübung des islamischen Glaubens in Frankreich ein relativ neues Phänomen ist, werden die Moscheen, Schulen, und Organisationen von anderen Staaten oder ausländischen Strukturen finanziert. Die Moschee von Paris steht unter algerischem Einfluß, der nationale Verband der Muslime in Frankreich unter der Kontrolle Marokkos.

    Der tolerante Islam wird in Frankreich durch die „Große Moschee“ von Paris repräsentiert, allerdings beschränkt sich ihr Einfluß auf die muslimische Elite.

    Der extremistisch orientierte Islam wird in Frankreich durch Gruppen vertreten, die den „Moslem-Brüdern“ nahestehen, beispielsweise die Vereinigung der islamischen Studenten in Frankreich (AEIF) oder die Union der islamischen Organisationen in Frankreich (UOIF). Letztere hat den größten Einfluß. Sie kontrolliert zahlreiche Gruppen sowie die Moscheen in Lille, Bordeaux und Nantes.

    Der nach seiner Fernsehdiskussion mit dem damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy berühmt gewordene Universitätsprofessor Tariq Ramadan ist einer der Wortführer der UOIF, die über umfangreiche Finanzmittel verfügt und Ausbildungszentren für Imams betreibt.

    Die zweite Bewegung heißt Tabligh. Die Vertreter des Tabligh wollen junge Menschen in den „Schoß des Islam“ zurückführen, sind jedoch politisch nicht aktiv. Die Salafisten verfolgen das gleiche Ziel, sind allerdings viel extremistischer und finden gerade in den Vorstädten großen Widerhall.

    Außerdem gibt es noch das islamische Wohlfahrtswerk (Association des Projets de bienfaisance islamique en France, AIPBIF), dem einer der Attentäter vom 11. September angehörte.

  • Unentschiedenheit des Staates

    Der Begriff „Kommunitarismus“ wird in Frankreich seit den achtziger Jahren kritisch für jegliche Form von Ethnozentrismus oder Soziozentrismus, von Selbstüberhöhung einer Gruppe mit einhergehender Abkapselung von der Gesellschaft verwendet.

    Immer wieder verweisen die öffentlichen Entscheidungsträger auf die Gefahr einer solchen Abschottung.

    Trotzdem scheint der Wille zu bestehen, die nicht konformen Verhaltensweisen bestimmter Gemeinschaften durch die Anerkennung ihrer Existenz regulieren zu wollen.

  • Der Conseil Français du Culte Musulman (CFCM, Franz. Rat für Islamischen Kultus)

    Nicolas Sarcozy veranlaßte 2003 die Gründung des CFCM und vollendete damit das Projekt von Jean-Pierre Chevènement, der von 1997 bis 2000 Innenminister der Jospin-Regierung war.

    Im CFCM sind die Muslimischen Verbände Frankreichs vertreten. Bei der Wahl der Mitglieder zeigte sich der zunehmende Einfluß der Extremisten.

    Der CFCM besitzt keine wirkliche Handlungsbefugnis; er entstand vor allem, um dem Wunsch des Staates nach einem repräsentativen Ansprechpartner entgegenzukommen. Der Rat bietet außerdem auch den radikalsten Minderheiten eine Tribüne.

  • Die Laizität als Instrument für die Bekämpfung des Kommunitarismus

    Die Regierung ließ 2003 ein Gesetz verabschieden, das in öffentlichen Räumen und insbesondere in den Schulen das Tragen von religiösen Zeichen verbietet. Hauptsächlich sollte durch dieses Gesetz die Kopftuchfrage gelöst werden, die über mehrere Jahre immer wieder im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion stand.

    In den problematischen Wohnvierteln kommen Mädchen verschleiert zur Schule und weigern sich, am Sportunterricht teilzunehmen.

    Das von der UMP geforderte Gesetz beruhigte die öffentliche Meinung, löst das Problem an sich aber nicht, sondern erhöht das Risiko, daß Kinder verstärkt in islamistische Schulen geschickt werden.

    Angesichts der Zunahme von rassistischen Handlungen (wiederholte Schändung von Gräbern im Elsaß, in Verdun, Gewalttätigkeit gegen Juden) bezog Präsident Chirac konsequent Stellung. In seiner Rede am 8. Juli 2004 wandte er sich gegen Intoleranz und prangerte die Zunahme der antisemitischen und rassistischen Übergriffe an. „Alle Mitbürger, egal welcher Herkunft oder welchen Glaubens, haben Anrecht auf Respekt. Die Laizität ermöglicht jedem, in Sicherheit seine Religion auszuüben und zu leben. Sie ermöglicht dem öffentlichen Schulsystem, das für den Erwerb und die Vermittlung unserer gemeinsamen Werte zuständig ist, allen und allen Sensibilitäten offenzustehen … Das öffentliche Schulsystem muß geschützt sein vor Einflüssen und Leidenschaften … Die Republik ist unser aller Gut, sie gehört jedem Bürger mit den gleichen Rechten und den gleichen Pflichten … Ich fordere den Bildungsminister und alle Lehrer auf, mehr denn je darauf zu achten, daß unsere republikanischen Grundsätze, unser Recht und unsere Geschichte allen jungen Franzosen und Französinnen vermittelt werden.“

  • Positive Diskriminierung

    Das Thema der positiven Diskriminierung wird in Frankreich heftig diskutiert und ist angesichts der Multiethnizität der französischen Gesellschaft aktueller denn je. Positive Diskriminierung bedeutet allerdings, daß bestimmte Personengruppen besondere Vorteile erhalten, um bestehende oder vergangene vermeintliche Ungleichbehandlungen auszugleichen. Diese personendifferenzierte Behandlung steht im Gegensatz zum Gleichheitsprinzip der Republik, demzufolge alle Menschen gleich behandelt werden sollen.

    Frankreich wendet gleichwohl seit langem und ohne große Diskussionen positive Diskriminierung an. Im Steuerrecht werden zahlreichen Bevölkerungskategorien und Familien besondere Vorteile eingeräumt. Teile des französischen Hoheitsgebiets (Korsika, Übersee, sogenannte strukturschwache Räume) genießen Steuervergünstigungen.

    Die französische Verfassung wurde im Jahr 2000 revidiert, um positive Diskriminierungsmaßnahmen für Frauen möglich zu machen. Nur so konnte das Wahlquotengesetz verabschiedet werden.

    Die positive Diskriminierung im Zusammenhang mit der Zuwanderung gibt Anlaß zur Diskussion, auch innerhalb der Regierung. Im November 2002 erklärte der damalige Innenminister Sarkozy im Fernsehen, er unterstütze positive Diskriminierung zugunsten von Bevölkerungsgruppen mit Zuwanderungshintergrund. Staatspräsident Chirac sprach sich gegen diese, dem republikanischen Gedanken widersprechende Konzeption aus, ernannte aber gleichzeitig im Jura sehr medienwirksam einen Präfekten muslimischen Glaubens.

  • Positive Diskriminierung als Experiment in der Hochschule Sciences Politiques

    2001 wurde eine Vereinbarung getroffen, um Abiturienten aus sogenannten prioritären Schulzonen und sozial schwachen Familien den Zugang zu Sciences Po ohne Aufnahmeprüfung zu ermöglichen. Normalerweise kommen die Studenten dort aus Familien hoher Staatsbeamter oder des Bildungsbürgertums.

4. Schlußbemerkung

Kommunitarismus und Islam sind Fragen, die seit Anfang der achtziger Jahre die politische Diskussion beherrschen. Jean-Marie Le Pens Präsenz im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 2002 zeugt davon, daß die französische Gesellschaft eine schwere Krise durchlebt. Die Franzosen scheinen angesichts der Globalisierung, der Erweiterung der Europäischen Union und der Zunahme bislang marginaler Religionen die Orientierung zu verlieren. Auch der ständige Großmacht-Anspruch Frankreichs, das sich nicht mit dem Platz einer mittelgroßen Macht zufriedengeben möchte, trägt zu dieser Orientierungslosigkeit bei. Frankreich betrachtet sich als Träger universeller Werte und erträgt keine interne Infragestellung dieser Werte. Dieser Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit prägt schon seit einiger Zeit die französische Außen- und Europapolitik. Nun wird dieser Konflikt auch auf dem Feld der Innenpolitik zunehmend offenkundig.

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