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KAS / Michael Braun
Жеке бет

Über Koffer, Lückenglück und behütende Schönheit

Prof. Dr. Michael Braun

Bücher der KAS-Literaturpreisträger zu Weihnachten

Von der „Nähe eines sichren Glücks“ und den „schweren Herzen“ der Armen erzählt Walter Benjamins Weihnachtsgeschichte in der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert . Auch von den Literaturpreisträgern der Konrad-Adenauer-Stiftung kommen neue Texte von Glücksnähe und Herzensanliegen, von Fluchtkoffern und Licht.

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Das Schöne behütet: Herta Müllers Hörspiel über Fluchterfahrung und Sprachkraft

Die Welt schaukelt und du willst glücklich sein: Das ist ein unverwechselbarer Herta Müller-Titel. Die Autorin (Literaturpreis der KAS 2004) hat 2015 begonnen, Text-Bild-Collagen zum Thema Flucht und Exil zu erstellen. Sie entstehen aus ausgeschnittenen Wörtern, die in unterschiedlicher Schriftgröße, Buchstabenfarbe und Designschriftart auf Postkartengröße zusammengefügt werden und sich zu einer merkwürdigen Geschichte bilden. Das lautet dann so: „Zum Ärger Moskaus bedient am Kiosk für die Totenscheine an einem lebensbedrohlichen Hubschrauberlandeplatz der kleine abgehalfterte Journalist, verheiratet mit einer Ballerina, die in Gedanken hie und da nah bei ihm ist“. Diese lange vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine entstandene Collage eröffnet das Hörspiel, das am 11.10.2025 im Deutschlandfunk gesendet wurde und seitdem in der ARD-Audiothek verfügbar ist. Gesprochen und gesungen werden die Texte von der Schauspielerin und Autorin Valery Tscheplanowa. Sie handeln vom Aufbruch aus einem verkommenen Land, von Koffern im Kopf, von Verhörern und Wahrsagern, für deren Lüge man zahlt, vom Gerne-Schweigen und Schreiben-Müssen über die Heimat am Horizont. Auf einen Sinn, der einfach zu haben ist, setzt dieses Hörspiel nicht. Aber es belohnt mit einer Schönheit und Klarheit der Sprache, die, nicht nur im Reim, schwere Herzen leichter macht, wie Herta Müller im Gespräch „Der Koffer im Kopf“ (auch in der ARD-Mediathek) sagte: „Wenn der Satz reicht, wird mir die Zunge leicht“.

 

Eine Reise durchs Werk: Thomas Hürlimanns Koffer-Geschichten

Neben der Katze ist wohl der Koffer das auffälligste Motiv im Schreiben von Thomas Hürlimann (Literaturpreis der KAS 1997). Mit seinen galizischen Vorfahren wanderte der alte schwere Koffer in die Schweiz ein, begleitete Hürlimann in die Klosterschule, beim Studium und auf seinen Lebensstationen und steht heute im Berner Literaturarchiv zwischen den Wanderschuhen von Kurt Marti und Hesses Überseekoffer. Der „Galizier“ ist ein wunderbares Beispiel für Hürlimanns Kunst, reale Dinge in literarische Geschichten zu verpacken. Aus sechs Jahrzehnten hat die Münchner Dramaturgin und Übersetzerin Fedora Wesseler Texte, Bilder und Dokumente Hürlimanns, in denen dieser Koffer vorkommt, versammelt. In märchenhaftem oder regional-realistischem Sound kommen diese Texte daher. Auf munterste Weise handeln sie von Familie und Gesellschaft, von Literatur und Politik, von Kirche und Medien. Patron der Koffer-Stories ist der Großvater des Erzählers. Er hat dem Jungen, der, entschlossen, ein Bösewicht zu werden, den Dreiradsattel seiner Cousine mit Leim betropft, die Weißwäsche der Nachbarin beschmiert und eine Ameisenstraße umgeleitet hat, etwas Wichtiges beigebracht: dass man mit der Wahrheit allein nicht durchs Leben komme. Zum Beweis macht der Großvater nun selbst allerhand Streiche, hängt das Dreirad in den Apfelbaum, versenkt den Schlüpfer des Dienstmädchens im Aquarium und zerschneidet die Wäscheleine. Der Junge, zur Rede gestellt, beschuldigt rechtens den Großvater, gibt dann aber, zur Erleichterung des Vaters, der ihn der Lüge bezichtigt, die ‚Taten‘ zu. Und der Junge, aus dem später ein Schriftsteller wird, lernt: So entstehen gute Geschichten.

 

Flottierend wie eine Flipperkugel: Michael Köhlmeiers Roman einer Biografie

Michael Köhlmeiers neues Buch hat den Titel Dornhelm. Dornhelm? Aus dem Klappentext erfährt man, dass es sich um einen rumänischen Regisseur handelt, Robert Dornhelm, mit dem Köhlmeier eine jahrzehntelange Freundschaft verbindet. Beide haben das Drehbuch für einen Film über die rumänische Revolution 1989/90 geschrieben (Requiem auf Dominic). Genug Stoff für einen faszinierenden Dialog über Erzählen und Film, über Dornhelms Weg zum Film und seine Begegnungen mit Kinogrößen. An 13 Tagen sprechen der Schriftsteller (Literaturpreis der KAS 2017) und der Regisseur über die Künste des filmischen und des literarischen Erzählens. Sie kommen vom Hundertsten ins Tausendste, von Anekdoten über Grace Kelly und das postklassische Hollywood bis zu der osteuropäischen Fluchtgeschichte von Dornhelms jüdischer Familie. Es ist eine helle Freude, den Gedankensprüngen, Umlenkungen und Abschweifungen zu folgen und den, so der Untertitel des Buches, „Roman einer Biografie“, entstehen zu sehen. Ein Gespräch, das sich selbst zum Buch hocherzählt, in einem hochgradig spannenden Prozess des Aus- und Nachfragens, auch mit flipperkugeligem Humor. Denn beide Gesprächspartner halten es mit Woody Allen, den an der Inspiration allein die Nähe zum Zentrum und die Öffnungszeiten interessierten.

 

Zwischen den Künsten: Neues von Daniel Kehlmann

Ein literarischer Tausendsassa ist Daniel Kehlmann (Preisträger der KAS 2006). Immer wieder tummeln sich zwischen seinen Romanen elegante Essays, fulminante Filmdrehbücher über Kafka und zuletzt die deutsche Übersetzung von Ayad Akhtars KI-Drama Der Fall McNeal, das derzeit im Düsseldorfer Schauspielhaus und im Deutschen Theater Berlin aufgeführt wird. Jetzt hat er eine Auswahl von Texten von Mascha Kaléko zusammengestellt. Die Autorin, 1907 geboren und seit 1918 in Berlin lebend, prägte das literarische ‚Fräuleinwunder‘ der Weimarer Republik: mit schnoddrigen Gedichten voller Ironie und Melancholie. Als jüdische Autorin bekam sie von den Nazis Publikationsverbot und emigrierte 1938 nach New York, mit Zorn über die Deutschen, die ihr Verlag und Publikum geraubt hatten. 1960 zog sie nach Jerusalem, den Fontane-Preis lehnte sie ab, weil einer der Juroren ein SS-Mitglied war. Obwohl die Zahl ihrer Leser in Deutschland wuchs, ignorierte sie die Literaturszene zu Lebzeiten. Das ist heute anders. Daniel Kehlmann hat in seiner Anthologie Gedichte und Prosa von Kaléko versammelt, über Großstadtliebe und Warten im Gebet, über verpassten Familienanschluss und einen ledigen Herren am 24. Dezember, über Sorgenkinder im Tor nach Palästina und Profanes aus dem „Heiligen Lande“, über deutsches Grauen und ein polnisches Kaddisch, über Spazieren in Greenwich Valley und das Wiedersehen mit Europa.  

 

Das Lückenglück im Spiegel der Sätze: Ulrike Draesners Vorlesungen übers Schreiben

Sich ein Herz fassen, Ulrike Draesners Lichtenberg-Poetikvorlesungen in der Göttinger Paulinerkirche Anfang Februar 2025, ist eine Vorschule ihrer Ästhetik. Es geht in den beiden Vorlesungen über die Fragen, wie Texte entstehen und welchen Bezug sie zum schreibenden Ich haben. Es geht zunächst um die Schwierigkeiten, über Ursprung und Herkunft eines eigenen Textes zu sprechen. Umstellt von Inspirationslehren und Fragmenten eines Schreibens über Liebe, entscheidet sich Ulrike Draesner, ihren Prozess des Schaffens als Geschichte des Scheiterns zu erzählen. Sie findet dabei Lückenglück im Spiegel der Sätze, als Wortbeben zwischen den Wörtern, als eine „Stille im Gewebe“, die ebenso anrührend wie tröstend ist und vor allem lehrreich fürs Weiterschreiben: „vom Scheitern nicht scheiternd erzählen“. Dieses Schreiben wird in der zweiten Vorlesung als ‚autofiktional‘ bestimmt, als Schattierung durch minimale Verschiebungen von Figur, Raum und Ton, als Instrument, als Agency, als Framing, als Resilienzstrategie, kurzum: „‘aus dem Leben heraus‘ schreiben" über ein Ich, das Autorität im Erzählen seiner Geschichte gewinnt. Ein Beispiel für dieses autofiktionale Schreiben findet Ulrike Draesner (KAS-Preisträgerin 2024), in der Erzählung Der Bau (1923) von Kafka, der hier seinen Körper von innen betrachte und ihm beim Verfall zuschaue. Eine spannende Lektion darüber, wie man sich schreibend ein Herz fassen kann.

 

Ulrike Draesner: Sich ein Herz fassen. Göttinger Lichtenberg-Poetikvorlesung. Wallstein Verlag, 2025.

Daniel Kehlmann (Hrsg.): Mascha Kaléko: Ich tat die Augen auf und sah das Helle. Gedichte und Prosa. dtv Verlagsgesellschaft, 2025.

Thomas Hürlimann: Der Wanderer und sein Koffer. Eine Reise durch das Werk von Thomas Hürlimann. Hrsg. von Fedora Wesseler. S. Fischer Verlag, 2025.

Michael Köhlmeier: Dornhelm. Roman einer Biografie. Hanser Verlage, 2025.

Herta Müller: Die Welt schaukelt und du willst glücklich sein. Hörspiel. Deutschlandfunk, 11.10.2025. Hörspiel · Wenn man sein Land verlassen muss – Die Welt schaukelt und du willst glücklich sein · Podcast in der ARD Audiothek

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