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Sjunik: Zwischen Hoffen und Bangen – Geopolitik unter dem Brennglas

Ein politischer Reisebericht aus Südarmenien

In Kapan, dem Verwaltungszentrum der Region Sjunik im Süden Armeniens, hat der Iran im letzten Jahr ein Konsulat eröffnet. Russland hat nun angekündigt, dem Beispiel folgen zu wollen, und vor Ort hieß es, dass auch Amerikaner und Franzosen erwögen, konsularische Vertretungen in Kapan einzurichten. Käme es dazu, wären in einer relativ abgelegenen südarmenischen Kleinstadt von etwas mehr als 40.000 Einwohnern vier Großmächte diplomatisch präsent. Die Begebenheit zeigt zum einen, wie wichtig dieser über Jahrzehnte fast vollkommen vergessene Teil des Südkaukasus über Nacht geworden ist und welche Chancen, aber auch Gefahren der Friedensprozess zwischen Armenien und Aserbaidschan birgt. Eine zweitägige Reise nach Sjunik, bis zum südlichsten Punkt Meghri an der iranischen Grenze, war überreich an Einblicken und Erkenntnissen.

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Die Frauen von Sjunik

Unser Ausgangspunkt war ein Trainingskurs für Frauen aus politischen Parteien und der Zivilgesellschaft in Kapan, ein Format, das die KAS mit armenischen und europäischen Partnern seit langem in den Regionen Armeniens umsetzt. Daneben führten wir Gespräche mit Start-ups, NGOs und Vertretern der Verwaltung in Kapan und Meghri. Einer der markantesten Eindrücke, den wir mitnahmen, war der Phänotyp der Frau in Sjunik: stark, selbstbewusst und heimatverbunden. Zum Beispiel Mane, die nach einer Ausbildung in Kapan während der Pandemie eine Nähwerkstatt eröffnete und mittlerweile ein Start-up-Modelabel gegründet hat, das bei jungen Kundinnen bis in die Hauptstadt beliebt ist. „Mein Vater war beim Militär und hat mich zur Patriotin erzogen, deshalb bleibe ich hier, gehe nicht nach Jerewan“, so Mane. Tanja, deren Eltern aus Bergkarabach stammen und Anfang der 90er Jahre nach Sjunik übergesiedelt sind, hat im letzten Jahr eine Tanzschule gegründet, in der junge Mädchen und Jungen aus ihrem Stadtteil traditionelle armenische oder südkaukasische Tänze lernen, die sie uns begeistert vorführen. Oder Shahane aus Meghri, die zugleich Pressesprecherin des Bürgermeisteramtes, Leiterin einer NGO, Mitarbeiterin von UNDP und Besitzerin eines Hotels ist, in dem auch die EU-Botschafterin schon abgestiegen ist. Die gesamte Familie ist in der Hauptstadt, ihr Platz aber sei in Meghri, es ist ihr ein Anliegen, die Heimatstadt zu entwickeln, Informationen über die Region für Touristen zugänglich zu machen oder Bänke auf dem zentralen Platz im Zentrum der Stadt aufstellen zu lassen.

Anna, Trainerin des Kurses, die auch aus Sjunik stammt, erklärt: „Über Jahrhunderte war unsere Region von Kriegen überzogen, die Männer kämpften, und auf den Frauen lastete alles – das Haus, die Kinder, die Großeltern. Deshalb sind die Frauen hier so stark und selbstständig, und – ganz anders als in vielen stärker traditionell-patriarchalisch geprägten Regionen Armeniens – absolut gleichberechtigt.“

 

Der Flughafen von Kapan

Sjunik ist, eingeklemmt zwischen Aserbaidschan und der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan, die mit Abstand verwundbarste Region Armeniens. Im Norden befindet sich der Lachin-Korridor, der Armenien mit Bergkarabach verbindet, der aber seit Dezember 2022 gesperrt ist. Im Süden würde Aserbaidschan gerne einen eigenen Korridor nach Nachitschewan und weiter in die Türkei einrichten, was Armenien, aber auch der Iran kategorisch ablehnen. Als wir im Oktober letzten Jahres mit einem armenischen Diplomaten vor einer Karte des Südkaukasus standen, erklärte er uns, wo die Armenier befürchteten, dass Aserbaidschan angreifen würde, um Sjunik vom Rest Armeniens abzuschneiden: Etwa 40 km nördlich von Kapan, auf der Höhe von Angeghakot, beträgt die Entfernung zwischen Aserbaidschan und Nachitschewan kaum mehr als 20 km.

Die im Osten unmittelbar an Kapan angrenzenden Gebiete stehen seit dem Krieg 2020 wieder unter aserbaidschanischer Kontrolle. 4 km östlich des Zentrums der Stadt befindet sich ein kleiner Flughafen, Sjunik Airport, der in der sowjetischen Zeit Anfang der 70er Jahre die Stadt in 40 Minuten mit Jerewan verband. Nach dem ersten Bergkarabach-Krieg Anfang der 90er Jahre geriet der Flughafen in Vergessenheit. Erst 2018/19 wurde seine Renovierung in Angriff genommen und im Dezember 2020 abgeschlossen, einen Monat, nachdem der zweite Bergkarabach-Krieg verloren worden war. In der Folge steht auf dem unmittelbar an die Landebahn grenzenden Hügel eine große aserbaidschanische Fahne. Steht man vor dem kleinen Flughafengebäude, bietet sich ein verwirrendes Fahnenbild: Neben dem Gebäude weht eine armenische Fahne, bei einer Baracke auf dem Flugfeld eine russische, auf dem Hügel gegenüber eine aserbaidschanische, ein Hügel weiter wieder eine armenische und im Rücken, am Eingang eines Militärstützpunktes, ist wieder eine russische Fahne zu sehen. Trotz der offensichtlichen Gefährdungslage landete im April der erste Testflug einer tschechischen L-410 Maschine aus Jerewan, und man hofft vor Ort, dass es bald einen Linienverkehr in die Hauptstadt geben wird.

In der Gebietsverwaltung von Sjunik erklärt man uns, Aserbaidschan halte seit September letzten Jahres 27 Quadratkilometer Territorium der Gemeinde Kapan besetzt. Baku bestreitet das. Früher waren die umliegende Berge ein Wanderparadies für Einheimische und für Touristen. Jetzt sei es gefährlich, in die Wälder zu gehen. Man könne aserbaidschanischen Soldaten in Zivil begegnen, die einen gefangen nähmen mit der Begründung, sich illegal auf aserbaidschanischem Gebiet aufzuhalten. Die angespannte Situation unterstreicht, wie wichtig die Grenzdemarkation als Bestandteil der Friedensverhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan ist. Trotz der Unsicherheiten gibt man sich in der Gebietsverwaltung aber zuversichtlich. Nach der internationalen Aufmerksamkeit für die Region gefragt, heißt es, man sei froh über jedes Konsulat, das in Kapan eröffnet werde. Und nach einem kurzen Zögern: Man hoffe, dass es irgendwann auch ein aserbaidschanisches Konsulat in der Stadt geben werde.

 

Zwischen Kupferminen und Nationalpark

Unsere Begegnungen vor Ort machten aber auch deutlich, dass Russland immer noch Einflussmacht in der Region besitzt. An den Grenzen zu Nachitschewan und zum Iran stehen russische Grenztruppen, einzelne Ortschaften sind nur mit russischer Erlaubnis zu betreten, immer wieder stoßen wir auf russische Checkpoints, nun also soll auch noch ein russisches Konsulat in Kapan eingerichtet werden. Ein „Haus des russischen Buches“ gibt es schon; seit zwei Wochen. Die Verkäuferin freut sich über unseren Besuch und bietet uns Kräutertee mit Honig von ihrem Sohn an, der über 20 Bienenstöcke in der Umgebung unterhält. Das Sortiment des Buchladens ist erschütternd und spricht Bände: „Nikita Chruschtschow. Die Geburt der Supermacht“, „Moskau und die Sammlung russischer Erde“, „Soldatische Pflicht“ und immer wieder Stalin: „Stalin: ‚Ich bin ein Russe georgischer Abstammung‘“, „Svetlana Stalina – Spezialoperation ‚Tochter‘“. Es sei geplant, bald auch öffentliche Veranstaltungen hier durchzuführen, erklärt die Verkäuferin. Russland versuche, die Stimmung in der lokalen Bevölkerung zu beeinflussen und pro-russische Einstellungen zu befördern, schreibt Garegin Miskaryan von der Democratic Platform Foundation.[1] Auch in Meghri leben viele Russen. Zivilgesellschaftliche Organisationen versuchten, die russischen Familien in das Leben der Gemeinde zu integrieren, etwa in eine Teestube einzuladen, die als ein soziales Projekt betrieben wurde. Das ging eine Zeit lang gut, bis die russische Bevölkerung offenbar „von oben“ eine Anweisung erhielt, keine Kontakte zu örtlichen NGOs mehr zu haben, weil diese „westliche Agenten“ seien.

Noch mehr als politisch dominiert Russland wirtschaftlich in der Region Sjunik: Im Jahr 2020 verkaufte das deutsche Unternehmen Cronimet Mining GmbH seine Anteile am Sangesurer Kupfer- und Molybdänkombinat in Kadscharan, 20 km nördlich von Kapan, dem größten einzelnen Steuerzahler in Armenien. Neuer Mehrheitseigner wurde 2021 in einem undurchsichtigen Deal GeoProMining Investment, die dem Berater eines engen Vertrauten von Vladimir Putin gehört. Auch die Kapan Mine, die größte Goldmine Armeniens, befindet sich in russischen Händen, sie gehört der Chaarat Gold Holdings Limited, einer Tochtergesellschaft der russischen Polymetal Group. Man ist sich in Armenien allerdings bewusst, dass eine Diversifizierung der Besitzverhältnisse, insbesondere im strategisch so wichtigen Bergbausektor, auch aus sicherheitspolitischen Erwägungen heraus essentiell für das Land ist.[2]

Gleich hinter Kadscharan, wo der Bergbau sichtbare Spuren in der Landschaft hinterlassen hat, führt der Weg bis zu einem über 2500 Meter hohen Pass hinauf, wo sich ein atemberaubend schöner Ausblick auf die bewaldete Berglandschaft und den zweithöchsten Berg Armeniens (Kaptjugh, 3905 m) bietet. Südlich schließt sich der Arevik Nationalpark an, der 2009 eingerichtet wurde und seit 2010 auch vom Caucasus Nature Fund unterstützt wird, einem Projekt, das maßgeblich von der deutschen Bundesregierung finanziert wird. Der Nationalpark beheimatet unter anderem das armenische Mufflon, Braunbären und seit kurzem vermutlich wieder zwei Familien kaukasischer Leoparden.

 

Die ehemalige Eisenbahnlinie in Meghri

Fährt man weiter nach Süden, hört das grüne Paradies irgendwann auf, die Berge werden schroff und wild, bleiben aber sehr eindrücklich. Irgendwann gelangt man nach Meghri, dem südlichsten und zugleich heißesten Punkt Armeniens. Temperaturen steigen im Sommer auf über 45 Grad, hier wachsen Bananen und Oliven, die Region ist berühmt für seine Trockenfrüchte und Granatapfel, Meghri kann als „Stadt des Honigs“ übersetzt werden. Lebensader ist der Araks, der Grenzfluss zum Iran. An seinem Ufer wurde auf einer Anhöhe ein kleiner privater Park angelegt, von dem aus sich ein faszinierender Blick in die grüne Flusslandschaft und die majestätischen Berge auf der iranischen Seite öffnet. An mehreren Stellen ist noch vage ein Gleisbett zu erkennen. Hier verlief seit Anfang der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts die Bahnlinie Ələt–Culfa, die einzige Eisenbahnverbindung zwischen der Sowjetunion und dem Iran, die gleichzeitig Moskau mit Baku und weiter über Nachitschewan mit Jerewan verband. Schienen gibt es schon lange nicht mehr, auch keine Stromabnehmer und dennoch liegen große Hoffnungen in diesem Gleisbett: „Wir warten jeden Tag darauf, dass das Friedensabkommen unterzeichnet und die Transportwege wieder geöffnet werden. Davon würden all profitieren, Aserbaidschan, die Türkei, Russland, der Iran und wir auch“, heißt es in der Stadtverwaltung von Meghri. Auf aserbaidschanischer Seite laufen die Bauarbeiten bereits, ein Jahr würde es wohl dauern, auch den armenischen Streckabschnitt wieder instand zu setzen. Die Fahrtzeit nach Jerewan – jetzt fast sieben Stunden mit dem Auto – würde sich deutlich verkürzen. Auch das große touristische Potential der Region ließe sich viel besser erschließen, es gibt zahlreiche Wasserfälle, Festungsanlagen aus dem 10. Jahrhundert, die St. Hovhannes Kirche aus dem 17. Jahrhundert mit wunderschönen, frisch restaurierten Fresken und über 60 weitere kulturhistorische Sehenswürdigkeiten, aber bislang kaum Hotels. Vermutlich könnte sogar aus der Nachbarschaft zum Iran Kapital geschlagen werden, die sich bislang nur in Dutzenden von Trucks manifestiert, welche sich täglich durch die Stadt nach Norden wälzen. Das iranische Konsulat plant, in der Region ein Kulturinstitut einzurichten, und Shahane aus Meghri, die bereits etwas Englisch, Russisch, Deutsch und Georgisch spricht, will nun auch Persisch lernen.

 

Sjunik zwischen Bangen und Hoffen

Der Südkaukasus wird häufig als wirtschaftlicher und kultureller Knotenpunkt zwischen West und Ost, aber auch Nord und Süd gesehen. Dieser Zustand ist in der Region Sjunik wie unter einem Brennglas zu beobachten. „Sjunik hat eine Seele“, meint Anna zudem, und das ist spürbar. Nach Jahrzehnten von Isolation und Vergessenheit scheint die Region aus einem Dornröschenschlaf zu erwachen, wobei das Erwachen kein einfaches ist. Das hängt vor allem mit der Unsicherheit über die zukünftige Rolle Russlands zusammen, das im Südkaukasus Jahrzehnte lang jedwede Veränderung, die den Ländern und Regionen mehr Selbstständigkeit eingeräumt und seine eigene Dominanz in Frage gestellt hätte, zu verhindern suchte.

Wenn aber Russland nicht mehr die Regionalmacht ist, wer wird das entstehende Vakuum füllen? Europa scheint erkannt zu haben, dass es das Feld weder dem Iran noch der Türkei überlassen sollte. In Kapan ist man glücklich: Mit der „Team Europe“ Initiative und dem Projekt „Resilient Syunik“[3] sollen in den nächsten Jahren weitreichende Investitionen in Bildung, grüne Landwirtschaft, kleines und mittleres Unternehmertum, soziale Dienste, nachhaltigen öffentlichen Verkehr und gute Regierungsführung sowie bürgerliches Engagement getätigt werden. Neben der EU-Delegation sind auch zahlreiche EU-Mitgliedstaaten sowie die Schweiz an der Initiative beteiligt. Die Projekte kommen an, die Menschen sähen, dass Europa sich engagiert, bestätigt man uns in der Gebietsverwaltung. Darüber hinaus unterhält die EU seit Februar eine zivile Beobachtermission an der Grenze zu Aserbaidschan, mit der die Stabilität in den Grenzregionen gestärkt werden soll. Sie wird von konkreten Programmen wie EU4Dialogue flankiert, die vertrauensbildend wirken und Infrastrukturprojekte finanzieren – etwa das Einrichten von Elektrozäunen, die verhindern, dass Vieh sich aus Armenien versehentlich auf aserbaidschanisches Gebiet verirrt.

 

Auf die Frage, wie die gesteigerte internationale Aufmerksamkeit auf Sjunik und die latente Konkurrenz der verschiedenen Akteure vor Ort wahrgenommen würde, zitierte ein Gesprächspartner ein armenisches Sprichwort: „Wenn es an deiner Tür klopft, ist es nicht wichtig, wer klopft, sondern mit welcher Absicht er es tut.“ Nachdem die Region über Jahrzehnte nur einen Gast hatte, der lediglich an seinen eigenen Vorteil dachte, freut man sich sehr darüber, dass nun auch Europa in Sjunik anklopft.

 

[1] „Why does Russia need a consulate in the south of Armenia on the border with Azerbaijan. Opinions.“ https://jam-news.net/russian-consulate-in-syunik/              

[2] Siehe das Papier „Mining for Security” vom Mai 2023: https://evnreport.com/evn-security-report/evn-security-report-may-2023/

[3] Eine Übersicht findet sich hier: https://eu4armenia.eu/team-europe-initiative/

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Stephan Malerius

Stephan Malerius

Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus

stephan.malerius@kas.de +995322459112
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