Asset-Herausgeber

Mouneb Taim, Imago
Auslandsinformationen

Nach dem Postkolonialismus

Postkoloniale Theorien stehen unter massiver Kritik. Was davon ist rechte Identitätspolitik und was sind die berechtigten Kritikpunkte?

Asset-Herausgeber

Auf einen Blick
  • Die Entgleisungen „progressiver“ Milieus nach dem 7. Oktober 2023 haben eine notwendige Debatte über postkoloniale Theorien ausgelöst, der es bislang aber oft an Trennschärfe und Sachlichkeit mangelte.
  • Postkoloniale Ansätze haben durchaus zum Verständnis der Auswirkungen des Imperialismus beigetragen, es dominieren aber zunehmend unwissenschaftliche und politisch-aktivistische Arbeiten das Genre.
  • Die jüngsten Strömungen weisen durch eine Verengung des Fokus auf den europäischen Kolonialismus vergangener Jahrhunderte eine ausgeprägte West-Feindlichkeit auf. Westliche „Kolonialität“ löst hier den „Kapitalismus“ als Erklärung für alle Übel der Welt ab.
  • Israel wird in postkolonialen Diskursen als westlicher Staat von „Siedlerkolonialisten“ diffamiert, den es abzuschaffen gelte.
  • Der praktische Wert postkolonialer Theorien zur Verbesserung der Lebensumstände im „Globalen Süden“ geht gegen Null. Stattdessen sind sie dort wie im Westen ein nützliches Instrument für unterschiedlichste Akteure, die eine freiheitlich-demokratische Ordnung ablehnen.
  • Die in jüngerer Vergangenheit zu beobachtende unreflektierte Übernahme und teils Finanzierung solcher Diskurse durch den deutschen Staat ist zu überdenken.
 

Die unter dem Sammelbegriff „Postkolonialismus“ zusammengefassten Forschungsansätze und Diskursfelder sind derzeit unter Dauerfeuer. Das kommt nicht von ungefähr. Viele Beobachter waren entsetzt über die in „progressiven“ Milieus gezeigten Reaktionen auf das Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023. Diese Reaktionen haben viele genauer hinschauen lassen: Was sind das für Ansätze, die Israelis zu „weißen Siedlerkolonialisten“ erklären, die Welt von Imperialismus und Unterdrückung befreien und gleichzeitig Europa und den Westen „provinzialisieren“ wollen? Seit diese Fragen öffentlich aufgeworfen werden, wird aus allen Richtungen scharf geschossen in der Postkolonialismus-Debatte – nicht immer zielgenau und zu oft mit Streumunition. Das ist manchmal erhellend, meistens durchschaubar und oft nicht zielführend.

Das Theoriegebäude postkolonialer Ansätze als wokes Zeitphänomen oder politisch „korrekte“ Verirrung abzutun, ist zwar in weiten Teilen zutreffend, wird dem Phänomen aber oft nicht gerecht und ist angreifbar. Hierzu ist die Sache zu ernst. Der postkoloniale Paradigmenwechsel ruft nicht nach kulturkämpferischen Posen, sondern nach einer gründlichen und fundierten Auseinandersetzung. Denn die hier betriebenen Umdeutungen von Geschichte und Gegenwart sind längst keine akademischen Nischenprojekte mehr. Sie dominieren ganze Wissenschaftsdisziplinen, prägen gesellschaftliche Wirklichkeiten und werden politisch gefordert und gefördert. Wie also umgehen mit der Wucht dieses Programms?

Zunächst sollte abgeschichtet werden, was im Namen postkolonialer Wissensproduktion tatsächlich der Aufarbeitung von Kolonialgeschichte dient und was dem Angriff auf westliches Denken und universelle Werte. Im Bereich des Ersteren haben sich postkoloniale Perspektiven durchaus Verdienste erworben. Die Neuakzentuierung der Relevanz des Kolonialismus, sein Fortwirken in der Gegenwart und die Betrachtung von Machtasymmetrien im Verhältnis ehemaliger Kolonien und Kolonialmächte waren wichtige analytische Errungenschaften. Postkoloniale Ansätze haben erheblich dazu beigetragen, dass der heutige Blick auf die Brutalität des europäischen Imperialismus ein anderer ist als noch vor wenigen Jahrzehnten. Nostalgische Verklärungen sind kaum noch salonfähig und das Nachwirken kolonialer Verbrechen in Form von Landesgrenzen, Abhängigkeitsverhältnissen und nicht zuletzt in den Köpfen ist weitgehend unbestritten. Allerdings geht es um diese Aspekte im Kontext postkolonialer Forschungsparadigmen immer weniger. Nicht mehr das analytische Projekt einer Erforschung des Kolonialismus steht im Vordergrund, sondern das operative Projekt einer Veränderung von Welt und Wirklichkeit. Eine systematische Kritik muss daher mindestens fünf Aspekte berücksichtigen.

 

1. Unwissenschaftlichkeit

Der erste Kritikansatz betrifft die Behauptung, bei postkolonialen Theorien und Konzepten handele es sich durchweg um wissenschaftliche Ansätze. Methodisch und empirisch fundierte Arbeiten sind in diesem Genre allerdings eher die Ausnahme als die Regel. Es dominieren Texte, die in den Bereich der praktischen Philosophie, der Theorie des Politischen oder eben des politischen Aktivismus gehören. Die „Wissenschaftlichkeit“ reduziert sich oft auf die Etablierung und Propagierung von Begrifflichkeiten oder soziologischen Konzepten wie „Hybridität“, „Subalternität“ oder „epistemische Gewalt“. Das ist zwar durchaus legitim und teilweise erhellend, aber eben auch ein alter Trick, um die Akzeptanz ideologischer oder religiöser Überzeugungen zu erhöhen. Der „Wissenschaftliche Sozialismus“ hat es vorgemacht.

Trotzdem hat sich die Behauptung von der Wissenschaftlichkeit postkolonialer Theoriebildung weitgehend durchgesetzt – und zwar in gleichem Maße wie der Kritik des Postkolonialismus die Wissenschaftlichkeit abgesprochen wird. Immer wieder argumentieren postkoloniale Apologeten, Kritiker hätten die Grundlagentexte nicht gelesen, seien mit der Materie nicht vertraut oder träten seriösen wissenschaftlichen Konzepten mit Bauchgefühlen, Ressentiment und „Raunen“ gegenüber. Leider ist hier etwas dran. Postkolonialismus-Kritik ist eben auch eine Modeerscheinung und trifft den bürgerlich-konservativen Zeitgeist. Viele kritische Auseinandersetzungen setzen eher auf Meinung als auf Material. Die Lektüre der sperrigen Texte von Edward Said, Dipesh Chakrabarty oder Gayatri Spivak tun sich außerhalb der Szene nur wenige an.

Wahr ist aber auch: Kritik wird auch deshalb lauter, weil genau diese Grundlagentexte zunehmend gelesen und hinterfragt werden. Mittlerweile gibt es auch im deutschsprachigen Raum kenntnisreiche Auseinandersetzungen mit Einzelaspekten postkolonialer Theorien. Die Arbeiten etwa von Ingo Elbe zum postkolonialen Antisemitismus oder von Monika Albrecht zur kritischen Rezeption des Ansatzes legen fundiert die Axt an die Wissenschaftlichkeit postkolonialer Theorien. Diese Kritik als „unwissenschaftlich“ zurückzuweisen, weil sie nicht systemimmanent argumentiert, funktioniert hier nicht. Gerade bei einem Ansatz, der selbst mit dem Anspruch einer Infragestellung etablierter Wissenssysteme und Wirklichkeitswahrnehmungen antritt, ist sie sogar unglaubwürdig.

Außerdem halten Postkoloniale ihren Gegnern immer wieder vor, es gebe keinen „Postkolonialismus“ als einheitliches Theorie- und Forschungsprogramm. Das ist ebenso zutreffend wie ablenkend. Richtig ist, dass die große Familie postkolonialer Ansätze zum Teil sehr unterschiedliche Phänomene, Strukturen und Prozesse betrachtet. Richtig ist aber auch, dass diesen Betrachtungen immer dieselben Annahmen und Überzeugungen zugrunde liegen: Wirklichkeit spiegele Machtverhältnisse wider, Wahrnehmungen könnten dekonstruiert werden, die Veränderung von Sprache verändere Wirklichkeit, alles sei „strukturell“ und damit wissenschaftlich. Diese aus dem französischen Dekonstruktivismus übernommenen Grund­annahmen verbinden die unterschiedlichen Ansätze, selbst wenn sie sich nicht mit Kolonialismus beschäftigen. Das Argument „Es gibt keinen Postkolonialismus“ ist also ein leicht durchschaubares Manöver der Kritikabwehr.

Osmanische Eroberungen, arabischer Sklavenhandel und sowjetischer Imperialismus werden ausgeblendet.

Schließlich halten Vertreter des Postkolonialismus ihren Kritikern immer wieder vor, sie betrieben revanchistische Identitätspolitik und versuchten, einen „Rechtsruck“ und eine illiberale Wende umzusetzen. Auch hier ist etwas dran. Die jüngsten Maßnahmen der Trump-Administration gegen US-Universitäten und gegen Vertreter postkolonialer Ansätze diskreditieren die kritische Auseinandersetzung mit dem Postkolonialismus und machen seine Vertreter zu Märtyrern von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit. Linke Identitätspolitik wird hier mit rechter Identitätspolitik bekämpft.

 

2. West-Feindlichkeit

Als linkes Projekt von Weltveränderung muss der Postkolonialismus zweitens als intellektueller Aufstand gegen alles Westliche (oder was dafür gehalten wird) verstanden werden. Gerade jüngere Strömungen der Disziplin interessieren sich kaum noch für die Beschreibung und Analyse des Kolonialismus als globales und überzeitliches Phänomen, sondern ausschließlich für den europäischen Kolonialismus der vergangenen Jahrhunderte. Osmanische Eroberungen, arabischer Sklavenhandel, sowjetischer Imperialismus und vieles andere werden ausgeblendet oder relativiert. Zentraler Ausgangspunkt ist die 1979 von Edward Said in seinem postkolonialistischen Standardwerk „Orientalism“ formulierte Hypothese, dass der Westen den Orient als negative Schablone zur Selbstdefinition brauche. Said entlarvte zwar rassistische und exotisierende Betrachtungen des Orients. Mit seiner These vom grundsätzlichen Anderssein nichtwestlicher Menschen lieferte er aber auch das ideologisch passende Buch in einer Zeit, in der vielen Linken der real existierende Sozialismus zunehmend peinlich wurde und in der die Revolution im Iran manche falsche Hoffnung weckte. Westliche „Kolonialität“ und die Vorstellung, dass westliche Gesellschaften intrinsisch und letztlich unüberwindbar rassistisch seien, ersetzte in der Folge immer öfter den Kapitalismus als Erklärung für die Übel dieser Welt.

Beschleunigt wurde diese Entwicklung durch das Ende des Ost-West-Konflikts und die Terrorangriffe des 11. September 2001. Die offene oder heimliche Zustimmung zum Angriff auf die USA auf Seiten mancher westlicher Intellektueller förderte das Bewusstsein für ein Phänomen, das die Postkolonialismus-Kritiker Ian Buruma und Avishai Margalit „Anti-Westernism“ nannten. Diese West-Feindlichkeit fand nach der Jahrtausendwende weiter Nahrung. Das Scheitern westlicher Bemühungen um Demokratieexport und die Zunahme weltweiter Krisen stützten die postkoloniale Westablehnung. Diese Fixierung auf „die Schuld des Westens“ macht den Postkolonialismus aus Sicht des Soziologen Vivek Chibber zu einem klischeebeladenen und antiaufklärerischen Programm.

 

3. Antisemitismus

Drittens sind postkoloniale Ansätze als akademische Begründungskontexte antisemitischer Ideen und Aktivismen zu kritisieren. Der Literaturkritiker Adam Kirsch hat in seinem kürzlich auch auf Deutsch erschienenen Buch zum Siedlerkolonialismus herausgearbeitet, wie am Beispiel der USA und Australiens entwickelte Vorstellungen über das Fortwirken europäischer Kolonialität schablonenhaft auf Israel übertragen werden. Da die jahrhundertealte koloniale Landnahme Amerikas und Australiens heute kaum rückabzuwickeln sei, so Kirsch, verbleibe nur die Abschaffung Israels als einzig realer Praxisfall postkolonialer Programmatik.

Der Verweis auf „jüdische Stimmen“ im postkolonialen Chor spricht ihn nicht vom Vorwurf des Antisemitismus frei.

Die Vertreter dieser Programmatik verwahren sich gegen den Vorwurf, dies hätte irgendetwas mit Antisemitismus zu tun. Kritik an der Existenz des Staates Israel sei legitim, Israel spiele in postkolonialen Ansätzen ohnehin kaum eine Rolle und auch viele jüdische Forscher verträten postkoloniale Ansätze. Auch hier ist wieder manches richtig, vieles aber auch verzerrt oder schlicht falsch. Tatsächlich ist zu diskutieren, ob der Antisemitismus Strukturmerkmal postkolonialer Theorien oder lediglich Ausdruck ihres antiwestlichen Weltbildes ist. Für den Publizisten Yascha Mounk lässt sich das kaum noch trennen. In den intersektionalen Diskursen postkolonialer Denker würden Israel und damit die israelischen Juden dem abzulehnenden Westen zugeschlagen und seien deshalb ebenfalls abzulehnen. Zumindest in Deutschland herrscht noch weitgehend Konsens, dass eine solche Ablehnung des Existenzrechts Israels als antisemitisch anzusehen ist.

Auch der Verweis auf „jüdische Stimmen“ im postkolonialen Chor spricht ihn nicht vom Vorwurf des Antisemitismus frei. Er ist eher Hinweis auf die Dominanz postkolonialer Programme im westlichen Wissenschafts- oder Kulturbetrieb als auf eine breite Akzeptanz unter Jüdinnen und Juden. Wenn anderswo „indigene Perspektiven“ eine zentrale Rolle in postkolonialen Überlegungen spielen, scheint dies für Juden nicht zu gelten. Umso häufiger wird diese Rolle von den vermeintlich „indigenen“ Feinden Israels in Anspruch genommen. Für die Islamisten der Hamas, aber auch für viele andere Gegner des jüdischen Staates sind postkoloniale Diskurse und die in diesen vertretenen Diffamierungsvokabeln („Genozid“, „Apartheid“ und „Kolonialstaat“) hochwillkommene Stichworte und politisches Programm zugleich. Noch am Tag des Massakers vom 7. Oktober 2023 feierte die Boykottbewegung BDS den Angriff als Reaktion der „indigenen Palästinenser“ auf ethnische Säuberungen von „Apartheid Israel und des kolonialistischen Westens“.

 

4. Missbrauch durch Autokraten und Radikale

Dies macht viertens deutlich, dass sich postkoloniale Denker oft zu nützlichen Idioten jener machen, die Menschenrechte, Demokratie, Freiheit oder eben Israel und den Westen ablehnen. Die antiwestliche Selbstkritik westlicher Denker ist ein immer wichtigerer Verbündeter für die machtpolitischen Gegner des Westens. Bereits im Februar 2017 forderte der russische Außenminister Lawrow auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine „post-westliche Weltordnung“ und sucht seither den Schulterschluss mit Gleichgesinnten. Der ultranationalistische russische Philosoph Aleksandr Dugin bemüht das Bild der Dekolonialisierung ebenso wie Hindunationalisten, chinesische Machtpolitiker und iranische Mullahs. Überall auf dem Globus werden postkoloniale Argumentationsmuster aktiviert, um autoritäre, reaktionäre und ethnonationalistische Politiken zu legitimieren.

Als erste verstanden hatten dies die Islamisten. Seit hundert Jahren propagieren sie den Islam (und nicht den Westen) als Lösung aller Probleme. Der Kampf gegen Demokratie, Menschenrechte und Säkularismus, aber auch gegen Frauen, ethnische Minderheiten, Homosexuelle und Andersgläubige wird hier als indigene „muslimische Perspektive“ verbrämt. Wie wirkmächtig dies sein kann, lässt sich in den sozialen Medien und zunehmend auch auf deutschen Straßen beobachten. 2024 marschierten die Macho-Islamisten der Kalifatsbewegung durch Essen und Hamburg und griffen mit Slogans gegen „westliche und koloniale Unterdrückung“ Versatzstücke postkolonialer Rhetorik auf, um antidemokratische, antisemitische und antiwestliche Gesinnung zu propagieren. Nicht nur dieses Beispiel macht deutlich, wie sehr sich autoritäre und radikale Akteure zunehmend im postkolonialen Vokabular zurechtfinden. Eigentlich sollte dieses Phänomen bei Vertretern der Zunft eine Welle der kritischen Selbstreflektion bewirkt haben. Davon ist fast nichts zu sehen. Nach wie vor gilt im postkolonialen Denken die Maxime, dass der „Globale Süden“ ausschließlich vom Westen befreit werden muss.

In früheren „Entwicklungsländern“ werden postkoloniale Begriffsprägungen als intellektuelle Selbstbeschäftigung betrachtet.

5. Keine Hilfe für den Süden

Aus diesem Grund helfen postkoloniale Perspektiven dem Süden auch wenig weiter. Die postkoloniale Entlarvung des Begriffs „Entwicklung“ als eurozentrisches Konzept beispielsweise mag intellektuell inspirierend gewesen sein, geholfen hat sie den Bewohnern der früheren „Entwicklungsländer“ nicht. Postkoloniale Begriffsprägungen sind hier weitgehend unbekannt oder werden als intellektuelle Selbstbeschäftigung westlicher oder westlich sozialisierter Elitenzirkel betrachtet. Vollends sinnentleert für die Betroffenen wird postkolonialer Aktivismus, wenn er sich in symbolhaften Gesten verliert. Kulturbetriebe und Universitäten in den USA und Australien haben es sich beispielsweise zur Angewohnheit gemacht, die Landrechte Indigener in Form von kurzen Statements rituell anzuerkennen. Irgendwelche realen Folgen für die Gemeinten hat das selbstverständlich nicht.

Es waren Fleiß, geregelte Handelsbeziehungen und die Vorteile der Globalisierung, die Länder wie Indien, Malaysia oder Indonesien aus der Armut geführt haben. Fragt man in den Straßen von Kairo, Kinshasa und Karatschi, fordern die Menschen dementsprechend mehr Handel, Investitionen und weniger Belehrungen und Einmischungen. Dass die Ideen und Konzepte postkolonialer Theorien in vielen Ländern der Welt dennoch mittlerweile populärer Mainstream sind, hat eher mit ihrer machtpolitischen Nützlichkeit für die jeweiligen Eliten zu tun als mit ihrer Relevanz für die Lebenssituation der jeweiligen Bevölkerungen. Die postkoloniale Begeisterung für alles „Indigene“ und die Ablehnung westlicher Einmischung dient nichtwestlichen Eliten als willkommenes Instrument der Ablenkung von den eigenen Verfehlungen. Und sie dient vor allem in einigen afrikanischen Ländern der Rechtfertigung eines zunehmenden Einflusses der neokolonialen Großmächte Russland und China.

 

Was kommt nach dem Postkolonialismus?

Wenn Aussagen über die Welt nur noch als machtpolitische Sprecherpositionen begriffen werden, gibt es keine objektiven Wahrheiten mehr. Globale Ordnungs- und Regelungssysteme, internationale Organisationen und Regime und letztlich das Völkerrecht werden so zu Konstruktionen einer kolonialen, westlichen Unterdrückungsordnung. Die diesen Systemen zugrundeliegenden menschen- und völkerrechtlichen Prinzipien werden nicht länger als universal gültig, sondern als zeit- und kontextspezifische „eurozentrische“ Perspektiven angesehen. Die realpolitischen Folgen dieses Perspektivwechsels sind überall sichtbar: Menschenrechtliche Standards werden ausgehöhlt, globale Institutionen und Regelwerke unterlaufen und demokratische Prinzipien in Frage gestellt. Setzt sich das weiter fort, wird die postkoloniale Welt eine harte, interessengeleitete und machtzentrierte Welt sein – in jedem Fall eine andere als ihre Verfechter sie imaginieren. Postkoloniale Denker sägen damit ungewollt an dem Ast, auf dem sie sitzen und von dem aus sie ihre Thesen propagieren.

Umso wichtiger ist die kritische und sachgerechte Auseinandersetzung. Über Macht und Schuld nachzudenken ist nicht verwerflich. Die Konsequenzen des Schwindens westlichen Einflusses und die Erosion westlicher Institutionen zu reflektieren ist wichtig. Aber es bringt wenig, alles in einen Topf zu werfen. Gerade jetzt, wo sich manche Regierungen und politischen Akteure im Westen auf das Postkoloniale einschießen und alle möglichen Formen von Gerechtigkeitsdiskursen untergraben und diskreditieren, müssen konstruktive Alternativen zur Infragestellung einer regelbasierten Ordnung von rechts und links aufgezeigt werden. Dies ist eine Herausforderung für Wissenschaft, Gesellschaft und Politik gleichermaßen.

Die wichtigsten Antworten auf die postkolonialen Herausforderungen müssen im politischen Raum gegeben werden.

Im Bereich der Wissenschaft sind die Brücken zwischen Postkolonialen und ihren Kritikern weitgehend abgebrochen. Dabei existiert mittlerweile fundierte Literatur, die sich konstruktiv mit den Leer- und Schwachstellen postkolonialer Wissensproduktion auseinandersetzt. Diese kritische Auseinandersetzung sollte gefördert und ausgebaut werden. Vor allem wenn es um Antisemitismus, um die Rechtfertigung von autoritären Denkmustern oder um die Infragestellung universaler Menschenrechte geht, ist das Ignorieren dieser Kritik inakzeptabel. Aber auch die Kritiker des Postkolonialismus müssen sich diskursfähiger machen. Linke Aktivismen, politische Agenden und offensichtlichen Blödsinn bekämpft man nicht, indem man ihn von rechts reproduziert.

Gesellschaftlich besteht noch viel Unwissenheit über Ausmaß und Relevanz der postkolonialen Wende. Ähnlich wie in vielen Teilen des akademischen Betriebs geht man in Kunst, Medien und öffentlicher Debatte der postkolonialen Simulation von Wissenschaftlichkeit und Überkomplexität immer noch viel zu oft auf den Leim. Ein kritisches Bewusstsein, dass sich dieses Denken in Universitäten, Kulturbetrieben, Parteien und Nicht-Regierungsorganisationen längst ebenso bemerkbar macht wie in der UN-Generalversammlung, auf Islamisten-Aufmärschen und bei Mai-Demonstrationen, ist noch viel zu gering ausgeprägt. Zwar mag sich manches, was heute als „postkolonial“ geschmäht wird, in der Rückschau als gesellschaftlicher Wandel erweisen. Doch der Skandal um die Documenta Fifteen hat deutlich gemacht, wie wachsam Gesellschaften sein müssen, wenn Hass und Abwertung in Gestalt des Progressiv-Indigenen daherkommen.

Die wichtigsten Antworten auf postkoloniale Herausforderungen müssen wahrscheinlich im politischen Raum gegeben werden. Innenpolitisch geht es um Finanzierungen und Kulturpolitik, um die Besetzung von Beiräten und Lehrstühlen – aber auch um politische Rhetorik und Programmatik. Außenpolitisch steht angesichts zunehmender Westkritik eine Stärkung der Westbindung im Sinne einer institutionellen Weiterentwicklung und Stärkung westlicher Bündnisse und Kooperationsstrukturen auf der To-do-Liste – trotz, mit und gerade wegen Trump. Notwendig wäre aber auch eine Neubelebung globaler und regionaler Kooperationsprozesse und -strukturen. Postkoloniales Denken wird weder die Konflikte im Nahen Osten oder in der Ukraine beenden noch für globalen Wohlstand sorgen, Frauen gleichberechtigen oder den Klimawandel bewältigen. Hierzu braucht es weltweite Allianzen, verlässliche Regelsysteme und kluge Diplomatie.

Der Regierungswechsel in Deutschland bietet da eine Chance. Die vorherige Bundesregierung hat postkoloniale Begriffsumdeutungen und Annahmen allzu oft unbekümmert übernommen und mit ideologisch motivierten Belehrungen internationale Partner entfremdet. Jetzt bietet sich die Gelegenheit, derartige ideologische, aktivistische und sprachliche Verwirrungen hinter sich zu lassen und an der Gestaltung einer post-postkolonialen Weltordnung mitzuarbeiten.

 


 

Dr. Andreas Jacobs ist Leiter der Abteilung Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Hauptabteilung Analyse und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

Für eine vollständige Version dieses Beitrags inkl. Quellenverweisen wählen Sie bitte das PDF-Format.

Asset-Herausgeber

Kontakt

Dr. Sören Soika

Dr
Chefredakteur Auslandsinformationen (Ai)
soeren.soika@kas.de +49 30 26996 3388
Kontakt Magdalena Falkner
Magda Falkner_Portrait
Multimedia-Redakteurin
magdalena.falkner@kas.de +49 30 26996-3585

comment-portlet

Asset-Herausgeber