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Francois Lenoir, Reuters

Auslandsinformationen

Einfache Erklärungen

von Dr. Wilhelm Hofmeister

Warum nationalistische Kräfte in Europa erstarken

Ressentiments gegen die Europäische Union, Schaffung von Feindbildern: Nationalistische Parteien erzielen seit einigen Jahren fast überall in Europa wieder beachtliche Wahlergebnisse und stellen die demokratische Entwicklung in vielen Mitgliedsländern der EU vor große Herausforderungen. Die Gründe dafür sind vielfältig und regional unterschiedlich. Wie aber kann eine erfolgversprechende politische Antwort aussehen?

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Überblick

Der Nationalismus war das große Übel des 20. Jahrhunderts in Europa. Auch wenn er während des 19. Jahrhunderts zunächst als eine Emanzipationsbewegung entstand und erste Demokratieprozesse in Europe inspirierte, mutierte er recht bald zu einer Ideologie, die den Konkurrenzkampf zwischen den Staaten im Zeitalter des Imperialismus rechtfertigte und die Unterschiede zu anderen Nationen in chauvinistischer und rassistischer Weise beschrieb. Wohin das letztlich führte, ist bekannt. „Nationalismus ist die Ursache der meisten politischen Konflikte seit dem 19. Jahrhundert und eine notwendige Bedingung für den Erfolg des Nationalsozialismus seit 1930“, schreibt Rolf Ulrich Kunze, der hervorhebt, der Nationalismus „tendiert zur Radikalisierung und Eskalation, insbesondere zur Verbindung mit dem Universalrassismus und Antisemitismus“, er „legitimiert tiefe Eingriffe in die Menschen- und Bürgerrechte, vor allem von Minderheiten, sowie im Zeichen von Autarkiefiktionen in das freie globale Wirtschaftssystem. […] Nationalismus begünstigt die populistische Entinstitutionalisierung der politischen Kultur und gefährdet die Stabilität repräsentativ demokratisch legitimierter politischer Verfassungsorgane im Verfassungsstaat sowie auf intergouvernementaler supranationaler Ebene.“ Wegen seiner verheerenden Konsequenzen haben nach dem Zweiten Weltkrieg die maßgeblichen politischen Führer Europas, darunter Konrad Adenauer, die europäische Integration bewusst auch als ein Instrument zur Überwindung des Nationalismus geschaffen. In einer Rede von 1946 hat Adenauer die Romantisierung der Nation als eine Ursache der Kata­­strophe bezeichnet und 1953 sagte er: „Bestünde man darauf, in der heutigen Welt die traditionellen Begriffe des Nationalismus hochzuhalten, so bedeutete dies die Aufgabe Europas.“

Trotz dieser Warnungen der Kriegsgeneration hat sich der Nationalismus spätestens seit Beginn des neuen Jahrhunderts wieder in den Parteiensystemen Europas eingenistet. Im Jahr 2000 war in Österreich die nationalistische FPÖ Mitglied einer Regierungskoalition geworden. Zwei Jahre später erreichte in Frankreich der Vorsitzende des Front National, Jean-Marie Le Pen, die Stichwahl um das Präsidentenamt und mobilisierte 2004 eine Mehrheit für die Ablehnung des EU-Verfassungsvertrags. Die antieuropäische Einstellung des Nationalismus war dadurch offensichtlich. Die Stigmatisierung und teilweise Isolierung Österreichs infolge der ÖVP/FPÖ-Koalition durch die übrigen EU-Mitglieder hat den Nationalismus nicht aufgehalten. Sowohl in Österreich und Frankreich als allmählich auch in anderen Ländern Europas erzielten nationalistische Parteien zunehmend Wahlerfolge. Doch erst als rechtsgerichtete, populistische und europakritische Parteien bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 etwa ein Fünftel der Parlamentsmandate gewannen, wurde auch einer breiteren Öffentlichkeit in Europa bewusst, dass der Nationalismus nahezu überall auf dem Kontinent eine neue Anhängerschaft fand.

Neben dem Front National, 2018 umbenannt in Rassemblement National, und der FPÖ gehören zu dieser Gruppe unter anderem die Schwedendemokraten, die Finnen-Partei, die Dänische Volkspartei, UKIP aus Großbritannien, die Freiheitspartei in den Niederlanden, die flämische Vlaams Belang, die Lega (vormals Lega Nord) aus Italien, Jobbik aus Ungarn und die Goldene Morgenröte aus Griechenland. Auch PiS in Polen und Fidesz in Ungarn, zwei ursprünglich konservative bzw. liberale Parteien, setzen mittlerweile den Nationalismus sehr erfolgreich als Mobilisierungsfaktor ein. Die deutsche Partei Alternative für Deutschland (AfD) war anfangs zwar im Wesentlichen durch einige eurokritische Wirtschaftsprofessoren geprägt und nicht wie heute durch Rechtspopulisten. Doch im Kern war die AfD auch damals schon eine Partei, die mit einem nationalen Sentiment Stimmung gegen die europäische Einigung machte.

Spätestens seit jener Wahl vom Mai 2014 wird das „Monster“ des Nationalismus überall in Europa deutlicher wahrgenommen. Man muss diese Jahreszahl deshalb betonen, weil es erst ein gutes Jahr später zur sogenannten Migrationskrise kam, die in den letzten Jahren häufig als Auslöser für das Erstarken der nationalistischen Parteien dargestellt wird. Das Aufkommen der nationalistischen Parteien kann daher keineswegs nur mit der Migrationskrise erklärt werden – was selbstverständlich auch bedeutet, dass der Nationalismus nicht nur durch eine Einschränkung der Migration zu bekämpfen ist.

 

Abb. 1: Ergebnisse nationalistischer Parteien bei jüngsten Wahlen in Europa (in Prozent)

https://www.kas.de/documents/259121/9134064/hochmeister_karte_DE.svg/eda3135c-95ef-3153-a5d6-9d768d5ffe59?t=1594304842735

Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage der Angaben der nationalen Wahlbehörden, Karte: Natural Earth p,.

 

Auch eine zweite Vermutung muss sofort relativiert werden: nämlich die, die das Erstarken nationalistischer Parteien auf sozioökonomische Faktoren und soziale Ungleichheit zurückführt. Dies ist ebenfalls nur ein begrenzter Erklärungsansatz, weil nationalistische Parteien nicht zuletzt in den wirtschaftlich prosperierenden Staaten Europas mit vergleichsweise guten Verteilungsindizes stark geworden sind. Zu nennen wären die nordischen Länder, die Niederlande, Österreich und auch Deutschland. Daher sind diese Parteien wahrscheinlich auch nicht allein über neue Verteilungsmechanismen zu bekämpfen.

Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019 haben die Nationalisten nicht ganz so gut abgeschnitten, wie sie erwartet hatten, auch weil sich mehr Bürger an der Wahl beteiligten, um ihr Erstarken zu verhindern. Dennoch erhielten sie immerhin etwa ein Viertel der Parlamentssitze. Dadurch ist bestätigt, dass nationalistische Parteien mittlerweile in Europa einen nicht unwesentlichen Anteil von Wählern mobilisieren. Selbst Länder, die sich lange vor einem Erstarken des Nationalismus geschützt fühlten, wie Deutschland oder Spanien, haben das Auftreten neuer nationalistischer Parteien erlebt. Sogar in Portugal gewann eine neue Partei, Chega! („Es reicht!“), die mit nationalistischen Versatzstücken fabuliert, bei den Parlamentswahlen im Oktober 2019 ein Mandat.

Angesichts dieser Entwicklungen wird heute vielerorts in Europa gefragt: Warum mobilisiert der Nationalismus wieder so viele Bürger in Europa? Und: Wie kann man die Menschen vor dem Nationalismus mit seinen unvermeidbar fatalen Folgen warnen und schützen? Bei der Suche nach einer Antwort ist zunächst an die verführerische Botschaft des Nationalismus zu erinnern.

 

Nationalismus und Nation

Jeder Nationalismus basiert auf einer Fiktion und diese Fiktion ist die Nation. Denn Nationen gibt es nicht als soziale Gebilde, sondern nur in unserer Vorstellung. Nationen sind „eingebildete“ Gemeinschaften, die von den Nationalisten geschaffen werden, wie Benedict Anderson 1983 in seinem bekannten Buch über den Ursprung des Nationalismus feststellte. Und der britische Historiker Eric J. Hobsbawm hat das wenige Jahre später ergänzt: „Nicht die Nationen sind es, die Staaten und Nationalismen hervorbringen, sondern umgekehrt.“

Nationalismus ist ein Abgrenzungsbegriff, der falsche Identitäten und greifbare Feindbilder schafft, ja Feinde braucht, um die Idee der eigenen Gruppe und die Abgrenzung von anderen zu vertreten. Schon 1882, als der Nationalismus gerade einen ersten Höhepunkt erlebte, hat der französische Schriftsteller und Philosoph Ernest Renan diese reduktionistische Weltsicht des Nationalismus erkannt, als er schrieb: „Es gibt keine Nation ohne die Fälschung der eigenen Geschichte.“ Das heißt: Überall haben die nationalistischen Bewegungen die Geschichte ihrer „Nation“ so geschrieben, dass eine Art Gemeinsamkeit, ein gemeinsames Schicksal oder eine gemeinsame Bestimmung konstruiert wurden. In Katalonien und in anderen Regionen ist das bei nationalistischen Bewegungen auch heute noch ganz eindeutig erkennbar.

Im Zeitalter der Globalisierung gewinnt die „Nation“ eine neue Bedeutung, denn die internationale Ordnung beruht auf dem Zusammenspiel der Nationalstaaten.

Freilich muss man eingestehen, dass es Nationen trotz ihres imaginären, eingebildeten Charakters als soziale Einheiten gibt – jedoch nur dann, wenn damit eine bestimmte Form des modernen Territorialstaats gemeint ist, der „Nationalstaat“. Ohne diesen territorialstaatlichen Aspekt mitzudenken, macht es keinen Sinn, von „Nation“ zu sprechen – oder es wird gefährlich, da dies unweigerlich eine Art von Gemeinschaft evoziert, die in der sozialen Wirklichkeit nicht existiert.

Die Nation – das sind alle Bürger eines Staates, das Staatsvolk. Allerdings erleben wir zurzeit in Deutschland, aber auch andernorts, dass Nationalisten wieder versuchen, die „Nation“ identitär zu begründen. Dabei fällt es ihnen erkennbar schwer, die vermeintlichen Gemeinsamkeiten ihrer „Nation“ zu benennen, die sie von anderen Nationen unterscheiden. Vereinfachend greifen sie daher auf die altbekannten Muster zurück, indem sie alle diejenigen auszusortieren versuchen, die aufgrund ihrer Herkunft, Sprache, Hautfarbe, Religion etc. vermeintlich nicht zu dieser identitär begründeten Gemeinschaft gehören. Der ehemalige Ko-Vorsitzende der deutschen AfD, Alexander Gauland, hat beispielsweise 2016 behauptet, der deutsche Fußballnationalspieler Jérôme Boateng, der einen ghanaischen Vater hat, werde als „fremd“ empfunden, und ein Jahr später hat er damit gedroht, die türkischstämmige deutsche Politikerin und stellvertretende Vorsitzende der ­SPD, Aydan Özoğuz, in Anatolien zu „entsorgen“. Angesichts solcher Ausgrenzungsversuche muss heute wieder betont werden, dass eine Nation selbstverständlich auch Menschen mit Migrationshintergrund einschließt. Zur deutschen „Nation“ gehören somit selbstverständlich alle deutschen Staatsbürger, die als Nationalspieler 2014 die Fußballweltmeisterschaft gewannen, darunter Lukas Podolski und Miroslav Klose – beide in Polen geboren –, Jérôme Boateng aus Berlin und Mesut Özil, geboren in Gelsenkirchen als Kind türkischer Einwanderer.

Nationalismus und Populismus ist gemeinsam, dass sie komplexe gesellschaftliche und politische Sachverhalte auf einen einfachen Kern reduzieren.

Nation und auch Nationalismus sind als Elemente moderner Staatlichkeit nicht mehr wegzudenken und gerade im Zeitalter der Globalisierung gewinnt die „Nation“, d. h. der Nationalstaat, eine neue Bedeutung, denn die internationale Ordnung beruht ja auf dem Zusammenspiel der Nationalstaaten. Insofern erleben wir auch nicht die „Rückkehr“ des Nationalismus, wie bisweilen behauptet wird. Allerdings erleben wir zunehmend wieder solche Formen des Nationalismus, die zu den Katastrophen der Vergangenheit geführt haben. Das gilt vor allem für den identitären Nationalismus, der sich in verschiedener Form in Europa ausbreitet und insbesondere in der Migrationsdebatte zum Ausdruck kommt. Dabei kommt ein Element hinzu, das zum Wahlerfolg der nationalistischen Parteien erheblich beiträgt: ihr Populismus.

Nationalismus und Populismus ist gemeinsam, dass sie komplexe gesellschaftliche und politische Sachverhalte auf einen einfachen Kern reduzieren: die Bildung, Errettung oder Förderung der Nation. In vielen Ländern Europas bilden sie eine unheilvolle Allianz. Der „populistische Nationalismus“ bzw. „nationalistische Populismus“ konstruiert einen Gegensatz zwischen dem „wahren Volk“, das er gegen das Establishment der „korrupten Eliten“ und die „Lügenpresse“ zu verteidigen vorgibt. Populisten verneinen die Heterogenität und den Pluralismus einer Gesellschaft und postulieren eine Homogenität des Volkes und des Volkswillens, die es nicht gibt. Die Affinität dieser Methode zur Ideologie des Nationalismus ist offensichtlich. Zwar wird sie auch von links­populistischen Bewegungen angewandt (z. B. Podemos in Spanien oder Syriza in Griechenland), doch in ihrem Fall ist nicht die Nation das Allheilmittel, sondern der Antikapitalismus. Im Kern aber benutzen die linken wie die rechten Populisten die gleiche Methode: Sie versuchen Missstände zu instrumentalisieren, Bedrohungsgefühle zu steigern, „Sündenböcke“ zu identifizieren, Feindbilder zu verbreiten, Ressentiments zu schüren, Hass anzufachen und Hemmschwellen zu senken.

 

Nationalismus und die Sehnsucht nach Anerkennung

Warum sich in Europa viele Menschen nationalistischen Ideen zuwenden und nationalistische, antiliberale und antieuropäische Parteien wählen, ist nicht eindeutig zu beantworten. Ein allgemeingültiges Erklärungsmuster ist deshalb schwierig, weil der Nationalismus sehr unterschiedliche Beweggründe und Ausdrucksformen hat. In Spanien beispielsweise ist der gesamtstaatliche Nationalismus der neuen rechts­populistischen Partei Vox in erster Linie eine Reaktion auf den regionalen Nationalismus und Separatismus in Katalonien und auch dem Baskenland sowie die Unfähigkeit der bisher dominierenden Parteien, der Sozialisten (­PSOE) und der Volkspartei (PP), die dadurch verursachte politische Krise zu lösen. In Deutschland stand am Anfang der neuen nationalistischen Bewegung die Skepsis gegenüber der gemeinsamen europäischen Währung und die Furcht vor den Kosten der Hilfsmaßnahmen für die überschuldeten Länder im Rahmen der sogenannten Eurokrise ab 2010. Doch erst die sogenannte Migrationskrise von 2015 hat den nationalistischen Rechtspopulismus dann richtig befeuert. In Frankreich hat die mit der Desindustri­alisierung einhergehende hohe Arbeitslosigkeit in einigen Regionen, vor allem im Norden und Osten, dazu geführt, dass sich die früher links wählenden Arbeiter als Verlierer der Globalisierung fühlten. Der Front National bzw. Rassemblement National, der ursprünglich eher die traditionelle Rechte repräsentierte und ein liberales Wirtschaftsprogramm vertrat, begann unter Marine Le Pen, sich als „Arbeiterpartei“ zu präsentieren. Wachsende soziale Spannungen, die auch durch eine gewisse geografische Segregation sichtbar sind, sowie ein Verlassenheitsgefühl auf dem Land und in Vorstadtgebieten haben dem RN neue Wählergruppen zugeführt. Hinzu kommt ein Gefühl der Unsicherheit angesichts etlicher Terroranschläge in Frankreich, die die Themen der Einwanderung, der Integration, des Islams und der Unsicherheit verstärkt in den Vordergrund brachten. In Großbritannien wiederum haben die auch von maßgeblichen Politikern seit Jahren genährten Ressentiments gegenüber der EU und die von ihnen geschürte Mär von einem „Kontrollverlust“ zum Sieg der Brexiteers in dem Referendum vom Juni 2016 geführt. Die nordischen Länder erlebten seit den 1990er Jahren durch den verschärften Wettbewerbsdruck infolge der Globalisierung eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit ihrer Sozialstaaten, sodass vor allem die zunehmende Migration den Wettbewerbs- bzw. Verlustangst-Nationalismus förderte. Ähnliche Reaktionen sind auch in den Ländern Zentraleuropas (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) zu beobachten. Diese profitierten zwar in erheblichem Maße von der Integration in die Europäische Union sowie der Öffnung ihrer Grenzen und Märkte, aber aus Furcht vor Verteilungsverlusten gegenüber Migranten wählten sie in teils beachtlichem Ausmaß solche Parteien, die die Verteidigung einer nationalen Identität auf ihre Fahnen geschrieben haben. In vielen Fällen hat die Migrationskrise den Nationalisten zweifellos in die Hände gespielt, weil sich dadurch eine neue Form eines identitären Nationalismus begründen ließ – „wir gegen die Neuankömmlinge, die uns bedrohen“. Allerdings müssen wir bei der Ursachenforschung für den neuen Nationalismus wohl etwas genauer hinschauen, weil die Migrationskrise allein das Phänomen nicht erklärt.

Wirtschaftliche Benachteiligungen und zunehmende Ungleichheit haben zweifellos das Erstarken nationalistischer Bewegungen in Europa gefördert.

Francis Fukuyama nennt die Forderung nach Anerkennung ein wesentliches Motiv, das die Haltung und auch das Wahlverhalten vieler Menschen leitet. Er beschreibt den Groll als Folge eines Gefühls der Vernachlässigung, das manche Gruppen empfinden. „In einer Vielzahl von Fällen hat ein politischer Führer Anhänger mobilisiert, um die Wahrnehmung zu fördern, dass die Würde der Gruppe verletzt, herabgesetzt oder auf andere Weise missachtet wurde. […] Eine gedemütigte Gruppe, die die Wiederherstellung ihrer Würde anstrebt, hat weitaus mehr emotionales Gewicht als Menschen, die nur ihren wirtschaftlichen Vorteil verfolgen.“ Dies beschreibt und begründet wohl sehr korrekt die Stimmungslage vieler Menschen in einigen Ländern Europas, beispielsweise in den „abgehängten“ Regionen Frankreichs, in jenen Teilen Englands, die nicht vom Boom der Londoner City profitierten, oder auch in den Regionen der östlichen Bundesländer in Deutschland, in denen die rechtsnationalistische Partei AfD eine hohe Zustimmung genießt. Nach Fukuyamas Ansicht wird die gegenwärtige Identitätspolitik angetrieben von dem Wunsch nach gleicher Anerkennung von sozialen Gruppen, die sich von ihren Gesellschaften ausgegrenzt fühlen, was rasch zu einer Forderung nach Anerkennung der Überlegenheit der Gruppe führen könne. „Dies ist ein großer Teil der Geschichte des Nationalismus und der nationalen Identität sowie bestimmter Formen des heutigen extremistischen Auftretens mancher Religionen.“ Deshalb ist für Fukuyama das Thema Identität/Anerkennung nicht nur wichtig zum Verständnis des neuzeitlichen Nationalismus, sondern auch der extremen Formen des modernen Islamismus. Ihre Wurzeln lägen in der Modernisierung, die eine Erschütterung hergebrachter Gemeinschaften mit sich bringe.

So wichtig das Gefühl der Vernachlässigung ist, auf das Fukuyama verweist, hat er dennoch keine Antwort auf die Frage, wie die freiheitliche Demokratie verteidigt und bewahrt werden kann. Da er die Suche oder Sucht nach Anerkennung eher als ein sozialpsychologisches Phänomen versteht, als Ergebnis eines über die Jahrhunderte gewachsenen Selbstwertgefühls des Individuums, misst er wirtschaftlichen und sozialen Faktoren bei der Hinwendung der Bürger zu nationalistischen Parteien keine entscheidende Bedeutung zu. Wirtschaftliche Benachteiligungen und zunehmende Ungleichheit gibt es aber tatsächlich und eben diese haben zweifellos etwa in Frankreich das Erstarken des Front National bzw. Rassemblement National gefördert. Da jedoch, wie z. B. zuletzt in Spanien zu beobachten war, überall auch Angehörige des Bürgertums, der finanziell besser gestellten Mittel- und Oberschicht, die sich nicht über mangelnde Anerkennung beklagen können, nationalistische Parteien wählen, muss nach weiteren Gründen für deren Erstarken gesucht werden.

Dabei muss man zunächst zur Kenntnis nehmen, dass die Anhänger der Nationalpopulisten heterogener sind als der stereotypisch genannte „alte weiße Mann“, und dass viele Wähler der Nationalisten nicht antidemokratisch sind, sondern nur bestimmte Entwicklungen der liberalen Demokratie ablehnen. Allerdings zeigt sich hier das Problem der Repräsentativität der demokratischen Institutionen, das bereits seit vielen Jahren zu beobachten ist, und zur Folge hat, dass diese sich, wie zwei britische Wissenschaftler feststellten, „immer mehr vom Durchschnittsbürger entfernen“. Die politischen Eliten würden darauf aber nicht bzw. nur unzulänglich reagieren. Während die Nationalisten eine Reihe legitimer demokratischer Fragen diskutieren wollten, würden sich die Eliten solchen Themen verweigern, weil sie ihren eigenen Lebensraum nicht oder anders berühren. Das gelte beispielsweise im Hinblick auf die Erosion des Nationalstaates im Zeitalter der Globalisierung, die Aufnahmefähigkeit von Migranten und den raschen „ethnischen Wandel“ einiger Gesellschaften, die Ungleichheit innerhalb der westlichen Staaten und den gesellschaftlichen Ausschluss eines bestimmten Teils der Bevölkerung sowie die Frage, ob der Staat sich nicht besser um die Menschen kümmern sollte, die jahrelang in die Steuer- und Sozialsysteme eingezahlt haben. Das seien für manche Politiker unangenehme Fragen, die aber dennoch viele Menschen bewegten und von den Nationalisten verschärft würden, während die „Systemparteien“ vielerorts nicht befriedigend darauf antworteten. Ähnlich argumentiert Wolfgang Merkel, wenn er das Erstarken der rechtspopulistischen Parteien als eine unmittelbare Folge der Spaltung vieler Gesellschaften in „Kosmopoliten“ und „Kommunitaristen“, d. h. Globalisierungsgewinner und Globalisierungsverlierer, erklärt.

Insgesamt sind es wohl vier soziale Wandlungsprozesse, die einer wachsenden Zahl von Menschen Sorge bereiteten und das Erstarken des Nationalpopulismus wesentlich erklären:

 

  • ein zunehmendes Misstrauen gegenüber Politikern und Institutionen,
  • eine Zerstörung der historischen Identität und der etablierten Lebensweise der nationalen Gruppe,
  • ein Gefühl des Verlusts infolge zunehmender Einkommens- und Vermögensungleichheiten und nachlassendes Vertrauen in eine bessere Zukunft,
  • eine „Entkoppelung“, das meint die Schwächung der Bindungen zwischen den traditionellen „Mainstream“-Parteien und den Menschen.

 

Die Lösung des Problems der Repräsentativität, das mit dem letzten Punkt angesprochen ist, ist auch für Wolfgang Schäuble, den Präsidenten des Deutschen Bundestags, eine Voraussetzung, um den aktuellen Problemen der Demokratien und dabei insbesondere auch der Herausforderung durch den Nationalpopulismus zu begegnen. Notwendig sei deshalb, dass die Parlamente und Fraktionen ihren Funktionen wieder besser gerecht werden.

Ergänzend sind noch weitere Entwicklungen zu nennen, die für das Aufkommen und die Stärkung nationalistischer und populistischer Ideen und Parteien in vielen Ländern Europas relevant sind und dadurch ebenfalls erhebliche Auswirkungen auf den Bestand der freiheitlichen Demokratien und die Fluchtbewegung vieler Menschen zu den Nationalisten haben können.

Das ist zum einen die Schwächung des Nationalstaats im Kontext der Globalisierung. Vor allem die Kritiker des Neoliberalismus führen dieses Argument an, wenn sie das Aufkommen des populistischen Nationalismus zu erklären versuchen. Während in Lateinamerika schon seit Langem der Neoliberalismus wegen einer vermeintlichen Einschränkung von staatlicher Selbstbestimmung kritisiert wird, ist diese Position mittlerweile auch in Europa prominenter geworden, kurioserweise nicht zuletzt in dem Land, in dem der Neo­liberalismus große Fürsprecher hatte und das davon zunächst eindeutig zu profitieren schien: Großbritannien. Hier ist vor allem die Europäische Union Zielscheibe für das Gefühl eines Verlustes von Selbstbestimmung, das die nationalistischen EU-Gegner mobilisierte und zum Brexit-Votum führte. Auch die Proteste gegen die Freihandelsverhandlungen der EU mit den ­USA und Kanada wurden nicht zuletzt von der Furcht vor einem Kontrollverlust getrieben. Zwar kam diese Kritik eher von linken Gruppierungen und Journalisten, war jedoch auch Wasser auf den Mühlen der nationalistischen Parteien. Und wenn in Deutschland während der sogenannten Migrationskrise von 2015 ein Ministerpräsident den „Kontrollverlust des Staates“ kritisierte, dann hat er damit Ängste geschürt, die ebenfalls mit der Sorge der Menschen vor einer Schwächung des Nationalstaates und seiner Schutzfunktion zu tun haben. Dass der Nationalstaat im Zeitalter der Globalisierung zumindest insofern seine Rolle eingebüßt hat, als er viele Prozesse nicht mehr steuern und viele Probleme nicht mehr lösen kann, ist unstrittig. Doch für viele Menschen bleibt er die zentrale staatliche Bezugsgröße. Das Versprechen der Nationalisten, die Stärkung des Nationalstaates garantiere quasi von selbst eine Befreiung von ihren Sorgen und Problemen, ist zwar falsch, doch dadurch verliert diese Behauptung nicht an Attraktivität.

Der zweite Punkt betrifft die neuzeitliche Form der Kommunikation und hier nicht zuletzt auch die Rolle der sozialen Medien mit ihren Filterblasen, die den demokratischen Dialog zerstören und die Fähigkeit zu einer Auseinandersetzung mit Kritik und anderen Meinungen verkommen lassen. Das hat unter anderem zur Folge, dass sich mittlerweile in vielen Ländern Europas Menschen einem Meinungsdruck im Sinne einer „politischen Korrektheit“ ausgesetzt sehen und sich den Rechtspopulisten zuwenden, weil sie sich von denen besser artikuliert fühlen. Das zeigte sich beispielsweise zuletzt im Rahmen der Debatte um den Klimawandel. Es geht hier nicht um „rechte“ oder nationalistische Einstellungen. Aber solche Menschen, die die Debatte um den Klimaschutz als hysterisch empfinden und zusätzliche Kosten fürchten, wenden sich den rechten Parteien zu, die, wie neuerdings die AfD in Deutschland, mit einer klimaskeptischen Haltung Anhänger zu gewinnen versuchen.

Die Parteien der Mitte müssen erkennbarer auf die Forderungen nach Anerkennung von Menschen, Gruppen und Regionen reagieren, die sich zurückgesetzt fühlen.

Ein weiteres Thema wird zukünftig noch an Brisanz gewinnen: die Folgen der digitalen Revolution, der künstlichen Intelligenz, der zunehmenden Übernahme von Funktionen des Menschen durch Roboter sowie die dadurch provozierten Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Hieraus kann letztlich die Einschränkung unserer individuellen und politischen Freiheit resultieren. Das Nachdenken und die Debatte über die Folgen der Digitalisierung hat in den meisten europäischen Ländern erst begonnen. Doch wenn die Entfremdungen infolge der digitalen Revolution deutlicher werden, sind auch zusätzliche Fluchtbewegungen der Menschen zu erwarten, wofür sich dann nicht zuletzt die nationalpopulistischen Parteien als Projektions­flächen anbieten.

Hinzuweisen ist schließlich auch auf die Zersplitterung der Parteiensysteme sowie die Schwierigkeit der Konsens- und Regierungsbildung in vielen Ländern Europas. Spanien, Belgien und die nordischen Länder sind Beispiele dafür. ­Daraus ergibt sich eine große Herausforderung für die Demokratien. Den Nationalisten aber ist dies Wasser auf ihre Mühlen.

 

Politische Ansätze zur Überwindung des Nationalismus

Was kann man tun, um den weiteren Zulauf zu den Nationalisten zu stoppen? Auch wenn die Sozialwissenschaften eher Problemanalysen als Handlungsanleitungen anbieten, lässt sich aus den verschiedenen Analysen ein wichtiger Schluss ziehen: Die Parteien der Mitte müssen noch deutlicher auf die Forderungen nach Anerkennung von Menschen, Gruppen und Regionen reagieren, die sich zurückgesetzt fühlen. Politik muss noch intensiver erklärt und kommuniziert werden, jedoch nicht nur über die neuen elektronischen Medien, sondern auf hergebrachte Weise im unmittelbaren Kontakt mit den Menschen. Dies ist eine ­Herausforderung für alle Politiker. Anscheinend hat es in Sachsen zum Wahlerfolg der ­CDU bei den Landtagswahlen im Oktober 2019 beigetragen, dass Ministerpräsident Michael Kretschmer praktisch ein ganzes Jahr lang Tag für Tag mit endloser Geduld Bürgerversammlungen durchführte und Bürgergespräche führte, um den Menschen zu zeigen, dass ihre Sorgen ernst genommen werden. Zudem wurden politische Entscheidungen getroffen, um auch den vermeintlich abgehängten Regionen zu demonstrieren, dass sie nicht vergessen sind. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass Politiker, von den Lokalpolitikern bis zu den nationalen Abgeordneten, noch mehr Zeit investieren müssen, um persönlich und im Rahmen neuer Begegnungsformen den Kontakt mit den Bürgern zu suchen und zu pflegen.

Zur Bekämpfung des Misstrauens gegenüber Politikern und Institutionen sollte man den Menschen, die sich ausgeschlossen fühlen, mehr Mitsprachemöglichkeiten einräumen. Allerdings darf das nicht heißen, „mehr Demokratie wagen“ in Form plebiszitärer Beteiligungsformen bei politischen Entscheidungsprozessen. Dies ist höchst problematisch, wie sich bei zahlreichen Plebisziten immer wieder bestätigt, nicht zuletzt beim Brexit-Referendum. Ein Mehr an „direkter“ Demokratie birgt die Gefahr, dass die politischen Institutionen, vor allem die Parteien, davon noch größeren Schaden nehmen. Stattdessen muss man Beteiligungsformen für Mitglieder und Sympathisanten von Parteien sowie die Bürger im Allgemeinen finden, die Lust am politischen Engagement und Mitgestalten wecken können.

Wichtig ist auch eine Neujustierung der Migrationspolitik in Europa, auch wenn dies ein sensibles Thema ist und sich ein Konsens innerhalb der EU nur sehr schwer finden lässt. Die Migrationskrise ist zwar nicht die Hauptursache für das Erstarken des Nationalismus in Europa, hat aber zweifellos dazu beigetragen. Deshalb muss es bei diesem Thema neue Politikansätze geben, die vor allem zeigen, dass Europa die Kontrolle über die Migration zurückgewinnt, ohne die Migranten gnadenlos zurückzuweisen. Nur so wird man den Nationalpopulisten den Boden für ihre xenophobe Agitation entziehen.

Die Digitalisierung besitzt nun hohe Priorität in der neuen EU-Kommission. Dabei darf es aber nicht nur um den technischen Ausbau und die Kontrolle der Anbieter gehen, sondern es müssen Vorkehrungen getroffen werden, um durch Trainings, Bildung und die Änderung der Arbeitswelt einer neuen Spaltung der Gesellschaften in Europa entgegenzuwirken. Automatisierung und künstliche Intelligenz werden die Arbeitsmärkte verändern und Unsicherheiten hervorrufen, die die politischen Systeme nachhaltig erschüttern können. Die Nationalisten aber bieten den Verlierern dieser Entwicklungen offene Arme.

Abzuraten ist auf jeden Fall von einer Art „gemäßigtem“ Nationalismus oder Populismus, wie ihn manche Autoren empfehlen. Dies führt in die Irre. Es gibt bisher keine empirische Evidenz, dass dieser Ansatz erfolgversprechend ist. In Deutschland und anderen Ländern Europas gibt es dafür keine Mehrheit, wie die Wahlen zum Europäischen Parlament und nationale Wahlergebnisse zeigen. Die ­CSU in Bayern hat mit dieser Strategie 2018 eine bittere Erfahrung gemacht und ist mittlerweile umgeschwenkt. In Spanien und Frankreich sind der Partido Popular bzw. Les Républicains damit gescheitert, durch einen „rechten“ Diskurs die Wähler von einem Abwandern zu den nationalistischen Parteien abzuhalten. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament war die Wahlbeteiligung 2019 auch deshalb höher, weil ein bestimmter Teil der Bürger das Erstarken nationalistischer Parteien verhindern wollte. Populismus und Nationalismus lassen sich nicht mit Populismus und Nationalismus bekämpfen. Die Coronavirus-Krise zeigt, dass dort, wo die Staaten ihrer Schutzverpflichtung gegenüber den Bürgern nachkamen, auch die Nationalisten geschwächt wurden. Das gilt aber auch umgekehrt.

Eine abschließende Antwort auf die Frage nach dem Mittel für die Bekämpfung des Nationalismus gibt es nicht. Jedes Land muss seine eigenen Instrumente entwickeln. Es bleibt wichtig, das Phänomen zu beschreiben und immer wieder an seine bedrohlichen Folgen zu erinnern. Nur wenn sie sich dieser Folgen für unsere freiheitlichen Demokratien wirklich bewusst sind, werden Europas Gesellschaften stark genug sein, den Anfeindungen des Nationalismus zu widerstehen.

 


 

Dr. Wilhelm Hofmeister ist Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung für Spanien und Portugal mit Sitz in Madrid.

 


 

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