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Henry Nicholls, Reuters

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„Souveränität der EU“

Äußere und innere Gefahren eines unerfüllbaren Versprechens

Souveränität – oft durch Attribute wie „strategische“ oder „europäische“ ergänzt – ist ein Ziel, das derzeit von vielen Seiten in Europa gefordert wird. Wer das wie die deutsche Verteidigungs­ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer differenziert oder zurückhaltend betrachtet, muss mit Kritik von höchsten Stellen rechnen – etwa vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Gleichzeitig ist Souveränität der Schlüsselbegriff nationalistischer Bewegungen, die in Macron sicher kein Vorbild sehen. Worum geht es hier also? Ist „europäische Souveränität“ in verschiedenen Politikfeldern überhaupt erreichbar? Und gibt es eine „gute“ (europäische) und „schlechte“ (nationale) Souveränität?

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Erosion westlicher Macht und Aufstieg Chinas

Worum es geht: Deutschland und die Europäische Union befinden sich in einem wachsenden globalen Wettbewerb um Werte, Wohlstand, Einfluss und Sicherheit. Der Wettbewerbsdruck hat in den letzten Jahren zugenommen, wofür drei wesentliche Triebkräfte zu identifizieren sind:

 

  1. Die Erosion globaler US-amerikanischer Macht, gespeist vor allem aus schwindender innenpolitischer Unterstützung aufgrund einer Überdehnung der eigenen ökonomischen, politischen und militärischen Kapazitäten (imperial overstretch). Der Höhepunkt dieser Entwicklung war die Wahl und die Präsidentschaft Donald Trumps mit dem faktischen Rückzug der USA aus sicherheitspolitischen Abkommen und Konflikten, multilateralen Organisationen (WTO, WHO), dem Freihandel und der politischen Führung des Westens.
     
  2. Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas mit der Machtkonzentration bei der Kommunistischen Partei, der angestrebten globalen Führung bei Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz, der weltweiten Einflussnahme zugunsten der eigenen wirtschaftlichen Interessen sowie dem sowohl in der analogen wie auch der digitalen Welt betriebenen aggressiven Ausbau von hard und soft power hin zu sharp power: der Fähigkeit, den politischen und gesellschaftlichen Diskurs in anderen – gerade auch demokratischen – Staaten zu verzerren.
     
  3. Die innere Schwächung westlicher Gesellschaften und Ordnungsmodelle, die sich ihrer Werte nicht mehr sicher sind und von Populismus und Nationalismus sowie gewaltbereitem Extremismus im Innern gefordert werden.

 

 

Der beschriebene Wettbewerbsdruck hat in Deutschland und Europa zu einer Debatte darüber geführt, wie wir unsere Widerstandsfähigkeit stärken und unsere Position als Raum der Freiheit, des Wohlstands und der Sicherheit halten oder gar ausbauen können. Als roter Faden zieht sich die Erkenntnis durch die Debatte, dass mehr eigene Beiträge unumgänglich sind. Sie hat sich – nicht zuletzt befeuert durch den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron – auf Begriffe wie „strategische Autonomie“ und „europäische oder strategische Souveränität” als Ziele konzentriert. „Autonomie“ war schon so missverständlich, dass der Schaden bei den transatlantischen Partnern nicht nur im Trump-Lager trotz vielfältiger Erklärungsversuche groß war. Inzwischen ist der Begriff etwas in den Hintergrund getreten. Nun wird intensiv über die „Souveränität“ diskutiert, die Europa für seine Sicherheit, den digitalen Raum oder seine Wirtschaft anstreben solle, um „unabhängig“ zu werden. „Strategische europäische Souveränität“ soll beispielsweise zum Leitbild grüner Europapolitik werden. Die COVID-19-Pandemie hat mit den unterbrochenen Lieferketten v. a. für medizinische Geräte sowie Medikamente die Forderung nach einer „souveränen europäischen Gesundheitspolitik“ sogar zu einem Leitmotiv der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2020 werden lassen.

 

Wie „souverän“ kann und soll Europa sein?

Es stellt sich die Frage, ob das Streben nach „Souveränität“ das richtige Mittel europäischer Politik zur Erreichung ihrer Ziele von Freiheit, Sicherheit und Wohlstand für die EU-Bürger sein kann.

Souveränität bezieht sich historisch auf den Nationalstaat und dessen Anspruch, unabhängig und nur dem eigenen Willen unterworfen zu sein. Diesen Anspruch nun auf „Europa“, was mehrheitlich die in der Europäischen Union zusammengeschlossenen europäischen Staaten meint, zu übertragen, klingt moderner als es die Herkunft des Konzepts aus dem 17. Jahrhundert und seine Bedeutung bei der Herausbildung der Nationalstaaten vermuten lassen. Ihm liegt die Vorstellung einer umfassenden Unabhängigkeit nach außen und nach innen zugrunde. Ist eine solche Souveränität der Europäischen Union erreich- und erwartbar, wenn ihre Grundlage seit Anbeginn der europäischen Integration die begrenzte Übertragung von nationalstaatlicher Souveränität auf gemeinschaftliche Institutionen gewesen ist?

Das scheint angesichts der Realitäten doch mehr als unsicher: Gerade der Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik wird nach wie vor von allen EU-Mitgliedstaaten als Kernbereich ihrer nationalen Souveränität begriffen, der zwar Kooperation erlaubt und ausdrücklich will, aber die Letztentscheidung bei den Staaten lässt. Frankreich hat beispielsweise bei der Frage, ob es bereit wäre, seinen ständigen Sitz im VN-Sicherheitsrat als EU-Sitz zu begreifen, immer wieder deutlich gemacht, wo hier die Grenzen liegen: nämlich in der nationalen Souveränität. Hingegen scheint doch für die Sicherheit Europas entscheidend zu sein, in gemeinsame militärische Fähigkeiten und Zukunftstechnologien zu investieren, die dann national entfallen müssten, und vor allem eine sicherheitspolitische Willensbildung zu einer gemeinsamen Position und gemeinsamem Handeln zu führen. Das würde helfen, europäische Interessen im transatlantischen Bündnis und erst recht gegenüber äußeren Bedrohungen zu stärken. „Souveränität“ wäre damit allerdings nicht zu erreichen. Für Europas Sicherheitsinteressen werden weiterhin die USA unverzichtbar sein, aber auch Mächte wie Kanada, Australien, Japan oder Indien spielen eine wichtige Rolle als demokratische Partner zur Sicherung des freiheitlichen Modells und eines fairen globalen Wettbewerbs. Sie brauchen eine starke, handlungsfähige und handelnde EU.

Im digitalen Bereich stellt sich die Lage ähnlich dar: Europa muss mehr in Innovation und Umsetzung investieren, seine Gesellschaften müssen für das digitale Zeitalter befähigt werden, um bei der Gestaltung der digitalen Zukunft seine wirtschaftliche, aber auch seine politische Position zu wahren bzw. sogar zu verbessern. Dies schließt die Fähigkeit Europas ein, einerseits weltweit anerkannte Standards für das digitale Zeitalter zu setzen, die sowohl für vertrauenswürdige Innovationen wie auch für eine freiheitliche Entwicklung unerlässlich sind. Anderseits muss Europa aber auch in der Lage sein, seine Werte in kommerziell erfolgreiche Geschäftsmodelle und Produkte zu übersetzen, um ihnen Geltung zu verschaffen.

Neben der Vorbildwirkung der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) war es die Größe des EU-Binnenmarktes, die überall auf der Welt Prozesse zur Neugestaltung des Datenschutzes im digitalen Zeitalter angestoßen hat. So konnte nicht nur ein europäischer Standard (mit allen praktischen Mängeln, die hoffentlich noch behoben werden) gesetzt werden, dessen Durchsetzung in der Zukunft sicher noch verbessert werden muss. Es wurde eine international bedeutende Norm für das digitale Zeitalter etabliert. Der starke EU-Binnenmarkt und die gemeinsame Handelspolitik sind Erfolgsfaktoren sowohl für die europäische Wirtschaft als auch die Werte Europas. In China und anderen autoritären Staaten wird „digitale Souveränität“ als staatliche Herrschaft und Kontrolle über die digitale Sphäre verstanden.

Für die Befürworter des Konzepts der strategischen Souveränität Europas ist sie hingegen die Antwort auf die Vulnerabilität Europas gegenüber externem Druck bei gleichzeitig abnehmender Unterstützung durch die USA. Sie erkennen durchaus die Abhängigkeiten und Interdependenzen sowie die Bedeutung der transatlantischen Allianz an. Dennoch wünschen sie sich eine in vielen Bereichen souveräne EU. Dagegen werden zunehmend Stimmen laut, die die Begrifflichkeit für „toxisch“ halten und statt solcher Debatten um Begriffe eine „Agenda des Handelns“ fordern.

 

Die Risiken der Souveränitätsdebatte

Die Welt wird sich trotz und gerade nach der Coronapandemie weiter zunehmend als vernetzt und damit verletzlich präsentieren. Konzepte wie „Unabhängigkeit“, „Autonomie” oder „Souveränität“ lassen sich daher weniger denn je umsetzen. Entsprechend irritiert schaut man gerade bei den außereuropäischen Partnern auf die europäischen Debatten und wartet auf Taten.

Es gibt jedoch zusätzliche innereuropäische Gefahren: Gerade die populistischen und nationalistischen Bewegungen und Parteien in Europa haben die vermeintliche „Wieder“-erlangung der nationalen Souveränität und das Ende der „Brüsseler Herrschaft” zu ihrem Ziel erkoren und zur Mobilisierung auf den Straßen und an den Wahl-urnen genutzt. „Take back control“ ist nicht nur der Schlachtruf der erfolgreichen Brexit-Kampagne gewesen, sondern wird in der Sache von linken wie rechten Nationalisten in Europa genutzt. Es ist unübersehbar, dass gerade in den Gesellschaften Mittel-, Ost- und Südosteuropas der Widerwille gegen die Übertragung von erst seit 1990 gewonnener Souveränität hin zur europäischen Ebene ausgeprägt ist. Insofern liegen in der Souveränitätsdebatte zwei Gefahren im Innern Europas: Einerseits kann damit durch Gegner der europäischen Integration die Gefahr eines europäischen Superstaats und damit des Endes des Nationalstaats beschworen werden. Emotionen bis hin zu Wut können dagegen mobilisiert werden. Andererseits werden Erwartungen an Souveränität und damit eigene Entscheidungsgewalt geweckt, die realistischerweise nur enttäuscht werden können. Wut und Enttäuschung bei größeren Bevölkerungsteilen in der EU haben in den letzten Jahren schon viel Schaden angerichtet. Das sollten wir vermeiden.

Deshalb sollten die politischen, kommunikativen und wirtschaftlichen Energien der Europäer auf die Stärkung der eigenen Machtressourcen Verteidigungsfähigkeit, Innovationsfähigkeit, Binnenmarkt und nicht zuletzt demokratische Handlungsfähigkeit gerichtet werden. Das wäre auch das beste Angebot an die USA mit einer kooperationswilligen Führung für eine erfolgreichere Partnerschaft zum beiderseitigen Vorteil. Das ist realistisch, dient unseren Interessen und kann die erforderliche Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger gewinnen, die letzten Endes die zentrale Machtressource in einer freiheitlichen Demokratie ist. Die von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgeschlagene Konferenz zur Zukunft Europas sollte neben den Parlamenten der EU und ihrer Mitgliedstaaten ein Ort für die erforderliche Positionsbestimmung sein. Das wäre ein Beitrag zum Aufbau eben jener Mittel und Fähigkeiten, die es erlauben, europäische Werte- und Ordnungsvorstellungen zu bewahren und diese erfolgreich zur Stärkung der liberalen Ordnung und unserer Interessen auf internationaler Ebene einzubringen.

 


 

Dr. Peter Fischer-Bollin ist Leiter der Hauptabteilung Analyse und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 


 

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