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Kant, Kafka und das „Abenteuer“ des Denkens

von Prof. Dr. Michael Braun

Neuerscheinungen der KAS-Literaturpreisträger zur Frühjahrsbuchmesse

Die Leipziger Buchmesse ist wie immer eine Lesemesse. 2.500 Veranstaltungen, darunter an vielen Orten die Lesungen, Talkrunden, Mitmachaktionen von „Leipzig liest“, warten auf professionelle Leserinnen und Leser. Gastländer sind diesmal die Niederlande und Flandern. Den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhält der New Yorker Philosoph Omri Boehm. Auf der Shortlist für den Buchpreis der Buchmesse ist auch die EHF-Stipendiatin der KAS, Dana Vowinckel nominiert. Mit ihrem Debütroman Gewässer im Ziplock (2023) hat sie eine amerikanisch-israelisch-deutsche Familiengeschichte aufblättert und damit für Aufesehen gesorgt. Grund genug, drei Neuerscheinungen von Literaturpreisträgern der KAS zu mustern, nicht zufällig zum Kant- und Kafka-Jahr.

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Mut zum Selberdenken: Der Philosoph Omri Boehm und der Schriftsteller Daniel Kehlmann unterhalten sich über Immanuel Kant

Im Mai 2023 fanden sich der Schriftsteller Daniel Kehlmann, der sich als Student an der Wiener Universität an einer Dissertation über Kants Ästhetik versucht hatte, und der Kant-Experte Omri Boehm zu einem Gespräch über den Königsberger Denker zusammen. Zwei Tage lang diskutierten sie über Kant, über den Philosophen als Person und über sein in vieler Hinsicht aufregendes Denken. Herausgekommen ist keine philosophische Lehrstunde, sondern eine intensive, manchmal auch kontroverse, immer spannende Ergründung, warum Kant auf uns heute einen so großen Einfluss hat – oder haben sollte: um einer, in Kehlmanns Worten, „Gemeinschaft denkender und freier Menschen“ willen. Dabei werden Fragen der Religion und Moral, von Kunst und Gerechtigkeit, des Denken-Könnens und Handeln-Sollens angeschnitten, die bis heute brisant sind: Warum bringt es nichts, sich die Welt als Simulation vorzustellen? Weshalb gewinnt die ‚erhabene‘ Natur in der physischen Welt, in der moralischen aber nicht? Was ist verkehrt an dem „vermeintlichen Recht, aus Menschenliebe zu lügen“? Braucht die Moral einen Gott? Woher kommt das Böse? Was macht die Verantwortung für eine Person aus? Weshalb ist es für den Künstler ratsam, nicht mit der Muse, die er malt, zu schlafen? Und was kann die Vernunft überhaupt mit Fragen anfangen, die sie aus eigenem Vermögen nicht beantworten kann? Es fehlt diesem Gespräch nicht an anekdotischer Evidenz (wenn es um Kants notorische Pünktlichkeit oder um seinen Diener Lampe geht), ebenso wenig an Esprit und an kritischen Seitenblicken auf Kant. Eine lohnende und lehrreiche Lektüre!

Abenteuer des Denkens: Rüdiger Safranski erschließt Kafkas Leben für die Literatur

Wie Kafka Kant verstanden hätte (wenn er ihn gelesen hätte): das ist eine kafkaeske Frage. Vielleicht hat Kafka Kants Denkordnungen in die fragmentarische Moderne übersetzt. Für ihn waren Leben und Schreiben im Glücksfall identisch. Das war nicht immer so, aber wenn, dann  machte es den Autor nach eigenen Worten „furchtlos, mächtig, ergriffen“, zumal nach dem Erweckungserlebnis in der jüdischen Neujahrsnacht 1912, als die Erzählung „Das Urteil“ entstand, „in einem Zug“, wie das Tagebuch festhielt (Forscher haben einmal vergeblich nach einer Zug-Verbindung gesucht, die Kafka benutzt haben könnte). So kafkaesk das Schreiben Kafkas auch und gerade über sich selbst sein mag, so ernst war es doch um sein Leben bestellt. Der KAS-Preisträger Rüdiger Safranski hat dafür in seinem Buch die schöne Formel „um sein Leben schreiben“ gefunden. Es ging Kafka um die Beschreibung des Kampfes, den er gegen die Anforderungen des Lebens führte: amtliche Bürokratie (in der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt) und väterliche Bevormundung, Einsamkeit des Schreibenden und Ansprüche der Familie, die Doppelbindung an Schrift und Geliebte, Glauben und Zweifel. Zeitweise wohnte und schrieb Kafka in einem Durchgangszimmer im Elternhaus, zeitlebens kam er selten aus Prag heraus. Rüdiger Safranski führt uns vor Augen, wie Kafka das „Abenteuer der Vernunft“, von dem Kant in seiner Kritik der Urteilskraft spricht, radikal, das heißt: auch aporetisch, absurd und surreal, zu Ende denkt. Sein Erzählen ist dabei immer glasklar, die Deutung aber unabsehbar. Safranskis Kafka-Buch bahnt uns Wege zu den Romanen, Erzählungen, Notizen und Briefen Franz Kafkas.

Denkbilder in unsicheren Zeiten: Marica Bodrožićs neue Essays

Marica Bodrožićs Die Rebellion der Liebenden ist die logische Fortsetzung von Mystische Fauna, Die Arbeit der Vögel  und Pantherzeit. In allen Büchern geht es um den inneren Widerstand gegen Isolation und Bevormundung und die Selbsterkundungen freien Denkens. Die sechs Essays des neuen Bandes befassen sich mit den „Verwandlungen des Denkens in unsicheren Zeiten“. Im Eingangsessay entwickelt die Autorin auf einleuchtende Weise ihren Grundgedanken. Auf den langen Busfahrten aus ihrer zweiten Heimat in Hessen zu den Großeltern in Dalmatien hatte sie zwei Bilder dabei: eines hatte sie von ihrem Vater in die Hand gedrückt bekommen, ein Bild des faschistischen Diktators in Kroatien (1941-45), Pavelić. Das andere war ein Heiligenbild des barfüßigen Franz von Assissi. Aus dem Bilderstreit lässt Marica Bodrožić ein ungewöhnliches Denkbild erwachsen, das Kindheitserinnerungen korrigiert und im damals Nichtgesagten ein heutiges Einsehen übt: ein inneres Schauen, das manchmal an meditative Traditionen des Schreibens anknüpft und das sich trotzdem – oder gerade deswegen – zu einer wehrhaften Freiheit bekennt. Dass es notwendig sei, den Frieden zu lieben und dafür Opfer zu bringen, so zitiert die Autorin Martin Luther King. Ihr Buch öffnet Räume freien Denkens und plädiert für Liebe nicht als Kategorie des Habens, sondern als innere Standortbestimmung.

Und nochmal Kafka: im Film

Kafkas Leben ist Stoff auch für zwei filmische Präsentationen über den Prager Autor. Neben Georg Maas‘ und Judith Kaufmanns Biopic Die Herrlichkeit des Lebens (Premiere am 19.03.2024 in Berlin) widmet sich dem letzten Lebensjahr Kafkas und seiner Beziehung zu Dora Diamant. Ein Biopic ist auch die von ARD und ORF produzierte Fernsehserie Kafka, die ebenfalls im März startet. David Schalko führt Regie, KAS-Preisträger Daniel Kehlmann hat das Drehbuch geschrieben. Er sagt zur Aktualität des Autors: „Franz Kafkas Alpträume sind unsere tägliche Realität: In seinen dunklen und doch komischen Visionen hat er die Welt erahnt, in der wir alle jetzt leben.“ Die sechs Folgen der Miniserie (u.a. mit (u.a. mit Lars Eidinger, Katharina Thalbach, Charly Hübner und Liv Lisa Fries) stellen Episoden aus Kafkas Leben vor: das Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Vater, von dem er Anerkennung erhoffte und Ablehnung bekam, zu seinen Frauen, Felice Bauer, Milena Jesenská und Dora Diamant, denen er „geschriebene Küsse“ zuhauchte, und zu Max Brod, dem wir die Überlieferung von Kafkas Werken verdanken.

Literatur:

Marica Bodrožić: Die Rebellion der Liebenden. Von der Verwandlung unseres Denkens in unsicheren Zeiten. Penguin Random House, 2024.

Omri Boehm und Daniel Kehlmann: Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant. Übersetzungen aus dem Englischen von Michael Adrian. Propyläen, 2024.

Daniel Kehlmann (Drehbuch): Kafka. ARD/ORF 2024. Am 26. und 27. März (20:15 Uhr in der ARD) stellen David Schalko und Daniel Kehlmann die Miniserie im Gespräch mit dem Moderator Knut Elstermann vor.

Rüdiger Safranski: Franz Kafka. Um sein Leben schreiben. Hanser, 2024.

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Prof. Dr. Michael Braun

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Referent Literatur

michael.braun@kas.de +49 30 26996-2544

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