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Essay

Joseph Görres

von Monika Fink-Lang

Eine Hommage zum 175. Todestag.

Am 29. Januar 1848 starb Joseph Görres in München, mitten in der gärenden Atmosphäre einer sich vorbereitenden Studentenrevolte, nur kurze Zeit nach den ersten Aufständen in Palermo, die die große europäische Revolution einläuteten, wenige Tage bevor das Volk in Paris auf die Straßen ging und die Republik ausgerufen wurde. Geboren im Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung erlebte er seine politische Initiation unter der Fahne der französischen Revolution. Von den Ereignissen in Frankreich desillusioniert, hat er später immer wieder vor einer neuen Revolution gewarnt, jener neuen großen europäischen Revolution, die er schließlich in seinen letzten Lebenstagen heraufziehen sah.

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Am 25. Januar 1776 wurde Joseph Görres in Koblenz als Sohn eines Holzhändlers geboren. Schon als Kind interessierte er sich für die Naturwissenschaften, machte chemische, physikalische, magnetische Experimente. Beim Ausbruch der französischen Revolution war er dreizehn Jahre alt und Schüler der vierten Klasse. Am Ende der Schulzeit war er wohlvertraut mit der philosophischen Literatur seiner Zeit und voller Begeisterung für die Ideale der Revolution und für die Idee des Republikanismus, erfüllt von einem tief empfundenen Freiheitsdrang, vor allem aber vom idealistischen Glauben an die Möglichkeit eines moralischen Fortschritts der Menschheit.

Als 1794 die Franzosen in Koblenz einzogen und eine fast 20-jährige Epoche französischer Herrschaft in seiner Heimatstadt begann, sah der 18-Jährige es sehr schnell als seine ganz persönliche Aufgabe an, sich mit der Feder für seine politischen Ideale einzusetzen. In seinen ersten publizistischen Versuchen propagierte er die Vision eines „litterarisch-republikanischen Vielvölkerstaats“ ohne Monopole, ohne Zunftzwänge, ohne Zensur, und ohne den „Despotismus der Pfaffheit“. Im Februar 1798 gründete er seine eigene Zeitung. Sein Rothes Blatt war zunächst eine Gesinnungszeitung, ein revolutionäres Jubelblatt, wurde aber zunehmend zu einem Organ eines engagierten Enthüllungsjournalismus, in dem er Amtsmissbrauch und Korruption anprangerte und die Interessen der rheinischen Bevölkerung gegenüber der französischen Obrigkeit vertrat. Um die schnelle Aufnahme der besetzten linksrheinischen Gebiete als vollwertigen Teil Frankreichs zu erreichen, zog er im Spätherbst 1799 als Führer einer Koblenzer Deputation nach Paris. Doch diese Parisreise wurde zum ersten großen Wendepunkt seines Lebens. Desillusioniert musste er sehen, dass mit dem Staatsstreich Napoleon Bonapartes das „kostbare Experiment“ der Revolution gescheitert, der revolutionäre Traum von Freiheit und Völkerglück ausgeträumt war.  

Görres zog sich aus der Politik zurück in seine eigene private Welt. Er verheiratete sich und trat eine Stelle als Lehrer am Koblenzer Gymnasium an, unterrichtete Physik und Chemie, beschäftigte sich daneben intensiv mit Medizin und Naturwissenschaften und mit der Naturphilosophie Friedrich Schellings. In seinen physiologischen und philosophischen Arbeiten entwickelte er ein selbständiges naturphilosophisches System, in dem er Makrokosmos und Mikrokosmos, Mensch und Natur in eine große Einheit zusammenfasste, ausgehend vom ewigen Dualismus von männlichem und weiblichem Prinzip, positiven und negativen Polen, Körper und Geist. In jedem Dualismus suchte er dabei ein versöhnendes Drittes zu finden, die harmonische Mitte. Seine naturphilosophischen Studien führten ihn zu den großen Fragen nach dem Wesen des menschlichen Geistes, der Geschichte und nach dem Göttlichen. Die Antwort suchte Görres damals noch in der indischen Mythologie. Im Morgenland, „am Ufer des Ganges und des Indus“ sah er die Wiege des Menschengeschlechts und den Ursprung aller Geschichte und aller Religion.

 

Altdeutsche und mythologische Studien

Aus der Enge seiner Heimatstadt, die dem Forscher wenig Möglichkeiten bot, befreite ihn 1806 eine Lehrerlaubnis an der Universität Heidelberg. Die zwei Jahre, die er dort verbrachte, wurden zu entscheidenden Jahren für seine weitere Entwicklung. Er schloss Freundschaft mit Clemens Brentano und Achim von Arnim und wurde mit ihnen zum Hauptvertreter der Heidelberger Romantik. Mit seiner angeborenen Freude an der Konfrontation warf er sich mit ihnen in den Kleinkrieg, der zwischen erbitterten Gegnern und glühenden Anhängern der Romantik tobte, zwischen den romantischen Poeten und den rationalistischen Professoren.

In Heidelberg konnte Görres nicht bleiben: durch die Beteiligung an Scharmützeln auf Seiten der Romantiker hatte er sich zu viele Feinde gemacht, die heftig gegen ihn intrigierten. Hoffnungen auf eine Universitätskarriere anderswo zerschlugen sich. So musste er wohl oder übel an sein Gymnasium in Koblenz und damit auch unter die Herrschaft der Franzosen zurückkehren. Er beschäftigte sich nun vor allem mit germanistischen und altdeutschen Themen – angesteckt von Brentano und Arnim und von den germanistischen Studien der Brüder Grimm, mit denen er nun bekannt wurde. Er gab eine Sammlung mittelalterlicher Quellen heraus, arbeitete an einer Ausgabe des Lohengrin. Seine große Mythengeschichte der asiatischen Welt beschäftigte sich mit den Wurzeln aller Mythen und aller Religion in Asien, verfolgte ihren Weg von Indien und Ägypten bis hin zu Juden und Christen.

Über Politik schrieb er in dieser Zeit nicht, die strenge Zensur des napoleonischen Systems machte es unmöglich. Zorn und Enttäuschung über die Napoleon-Hörigkeit der deutschen Fürsten und die allgemeine Untätigkeit seiner Landsleute waren Görres‘ vorherrschende Gefühle in diesen Jahren. Ziel seiner Studien über die alten Mythen und die altdeutsche Literatur war aber nicht zuletzt die Wiedererweckung eines gemeinsamen Bewusstseins einer nationalen Identität aller Deutschen aus der eigenen Geschichte und den eigenen Quellen, sie sollten ein Beitrag zu einer geistigen Erneuerung sein, die nach seiner Überzeugung einer politischen Erneuerung zwingend vorausgehen musste. Görres‘ „Nationalbewusstsein“ war dabei weit entfernt von Deutschtümelei. Das Häuflein der „Phantasten“ am Neckar habe, so schrieb er später rückblickend, nicht Lust gehabt, „in das fröhliche Tirili jener patriotischen Sangvögel einzufallen“.  Gegen jenes „Geschrille von Teutschheit und teutscher Nation“ goss er in den Schriftproben des Peter Hammer, 1808 in Heidelberg entstanden, vielmehr seinen Spott aus: „Teutsche Treue, teutscher Biedersinn, teutsche Kraft, teutscher Muth, teutsche Jungfrau, teutsches Weib, teutsches Mutterweib, hätten wir doch zum mindesten nur auch teutschen Sarcasm!“

Für die Selbstfindung der Nation sei, so schrieb er 1810, eine feste, bestimmte öffentliche Meinung nötig, die als moralische Instanz, als öffentliches Gewissen fungieren und die Herrschenden kontrollieren konnte. Es brauchte also, so verstanden, eine mutige Zeitung.  

 

Politischer Journalist

Als dann am Neujahrstag 1814 die Truppen der Allianz gegen Napoleon endlich siegreich in Koblenz einzogen, stellte sich Görres dem Gebot der Stunde. Bereits drei Wochen nach der Befreiung, am 23. Januar, erschien die erste Ausgabe seiner Zeitung. Der Rheinische Merkur stand zunächst ganz im Zeichen des patriotischen Kampfes gegen Napoleon. Preußen war nun für Görres der große Hoffnungsträger, die „Grundsäule Teutschlands“, Werkzeug der Vorsehung. In den Monaten vor dem Wiener Kongress beschäftigte ihn vor allem die Frage der künftigen Verfassung eines geeinten Deutschland. Die ehemaligen Rheinbundstaaten, die einstigen Verbündeten Napoleons waren in seinen Augen das größte Hindernis für eine deutsche Einheit. So zog er besonders gegen sie in seiner Zeitung zu Felde. Bayern, Baden und Württemberg verboten den Vertrieb des Merkur daher sehr schnell in ihren Grenzen, beschwerten sich immer wieder über einzelne Artikel, drängten auf ein Verbot. Lange Zeit noch hielt der preußische Staatskanzler Hardenberg seine schützende Hand über Görres. Er warnte ihn mehrmals, seine Sprache zu mäßigen. Görres aber wollte sich nicht beschränken lassen, pochte auf Zensurfreiheit. Es sei ihm nicht gegeben, sich unter Zwang und Rücksichten geistig zu bewegen, er müsse seiner Überzeugung folgen oder die Zeitung aufgeben, so schrieb er. Der Merkur wurde indessen immer mehr zu einer Anti-Regierungszeitung, griff sogar die unmittelbare Umgebung des Preußenkönigs an. Mit Kabinettsorder vom 3. Januar 1816 kam schließlich das Verbot.

Görres war damit sein journalistisches Sprachrohr genommen, doch geschlagen gab er sich noch nicht. Zunehmend engagierte er sich als Anwalt der Interessen der rheinischen Bevölkerung gegenüber Berlin.

 

Ins Exil

Den endgültigen Bruch mit Preußen brachten die beiden Schriften, mit denen sich Görres 1819 zu Wort meldete. Teutschland und die Revolution und Kotzebue und was ihn gemordet: zwei Schriften, von Görres als Warnung gedacht, von Preußen als Drohung verstanden. Im Fall der Ermordung des reaktionären Komödiendichters August von Kotzebue durch den radikalen Studenten Karl Ludwig Sand sah er die Schuld auf beiden Seiten, im Despotismus von oben wie von unten, bei den Ultrakonservativen wie bei den Liberalen. Teutschland und die Revolution schließlich wollte die Regierenden davor warnen, dass es, wenn sie weiter die gerechten Forderungen der Untertanen missachteten, unweigerlich zur Revolution kommen werde. Den „Dritten Stand“ rief Görres darin auf, seine Rechte, die „alten unverjährten Freiheiten“ einzufordern. Das Verdienst müsse jeden Rangunterschied ausgleichen, „die Rede und der Gedanke müssen frei sein“. Die Fürsten müssen „sich beugen vor der Macht der Ideen, die sich in dieser Zeit kund gegeben“, andernfalls werde sie die Geschichte bestrafen: „Es klagen die Völker auf ihre Rechte […] die Geschichte steht an ihrer Seite […] wehe denen! die nicht tun, was ihr heiliges Amt gebietet, und das Recht versagen, nach dem die Kläger rufen.“ Berlin wertete diese harten Worte als Aufruf zur Revolution. Am 30. September 1819 erging die Kabinettsorder, Görres „sofort zu arretiren und unter sicherer Begleitung nach Glatz auf die Festung zu transportiren“.

Görres entzog sich durch die Flucht ins Elsass. Neun Jahre lebte er im Exil, in Straßburg und in Aarau in der Schweiz. In der katholischen Atmosphäre des Elsass vollendete sich seine endgültige Rückkehr zur katholischen Kirche – Endpunkt einer Entwicklung über viele Jahre. Neue Themen beschäftigten ihn. Naturphilosophie und indische Mythen machten den Weg frei für eine christliche Weltsicht. Politik wurde für Görres nun mehr und mehr Kirchenpolitik. Am Ende der Exilzeit stand die Mitarbeit an der katholisch-apologetischen Zeitschrift Der Katholik. Im Exil schrieb Görres die ersten Aufsätze über die Mystik der Heiligen, über den Heiligen Franz von Assisi und über die Visionen des Emanuel Swedenborg.

Professor und Publizist in München

Ende Oktober 1827 folgte Görres dem Ruf König Ludwigs I. nach München und trat dort eine Professur für Allgemeine und Litterärgeschichte an. In München wurde er zum Mittelpunkt eines Kreises von Professoren, Gelehrten und Künstlern, und München wurde mit ihm zu einem Zentrum katholischen Geistes. In der Zeitschrift Eos fand er zunächst ein Sprachrohr für die Weiterführung seiner publizistischen Tätigkeit. Von der liberalen Presse wurde der Kreis der Mitarbeiter der Eos als „Kongregation“ und Brutstätte ultramontanen, klerikal-reaktionären, jesuitischen Denkens heftig attackiert. Mit der Gründung der Historisch-Politischen Blätter bot sich später dem alten Görres noch einmal ein Forum publizistischer Tätigkeit. Sie richteten sich gegen „die indifferentistisch-revolutionäre, alles Christliche auflösende Strömung wie gegen den Absolutismus“, „gegen die revolutionäre wie die despotische Doktrin der falschen Staatsweisheit“, es waren jene zwei Pole, die Görres schon seit Jahrzehnten gleichermaßen bekämpfte. Der alte Görres selbst trat nicht als Herausgeber hervor, beschränkte seine Funktion auf die eines Ratgebers und Mitarbeiters. Vom ersten Jahrgang an aber war er fast in jedem Band mit Aufsätzen vertreten.   

Hauptwerk seiner Münchner Jahre und Frucht jahrelanger Forschungen aber war die Christliche Mystik, die er in den Jahren 1836 bis 1842 in vier umfangreichen Bänden vorlegte. Sie war Görres‘ ureigenster Beitrag zu der großen Auseinandersetzung zwischen dem alten Glauben und dem säkularisierten Zeitgeist. Denn in der Zurückdrängung und Leugnung alles Mystischen und Übernatürlichen sah er ein Kernproblem seiner Zeit. In den umfangreichen Bänden der Mystik sammelte er – auf dem Untergrund einer ausführlichen Bearbeitung der physiologischen und physikalischen Grundlagen – eine Fülle an Material über mystische Erscheinungen und übersinnliche Phänomene, Wunderberichte aus Heiligenviten, Fallbeispiele aus entlegenen Quellen, unzählige einzelne Mosaiksteinchen, die zusammen ein Bild des Triumphs der kirchlichen Überlieferung und der Wahrheit gegenüber dem leugnenden Zeitgeist ergeben sollten. So umstritten die Mystik von Anfang an war und bis heute ist, Görres hat sie wohl als sein wichtigstes Werk gesehen, als eine Summe seiner historischen und naturwissenschaftlichen Studien.

 

Sprecher des katholischen Deutschland

1838 holte den 62-Jährigen die preußische Politik noch einmal ein und zwang ihn – mitten in der Arbeit an der Christlichen Mystik – zum Handeln: „Das Gebot lautete peremtorisch: nimm die Feder zur Hand, und schreibe, was dir gesagt werden wird!“ Das Ereignis, das ihn so unwiderstehlich auf den Kampfplatz rief, war die Gefangennahme des Kölner Erzbischofs Droste zu Vischering am 20. November 1838 durch die preußische Regierung im Verlauf des Streits um die Frage der Mischehen. Im Athanasius wurde Görres zum Sprachrohr des katholischen Deutschland gegen die Willkür des preußischen Staats und zum Anwalt der Freiheit der Kirche. Er forderte volle Religions- und Gewissensfreiheit ein, Gleichberechtigung der Konfessionen und eine eigene Sphäre für die Kirche, in der der Staat „ihr die Freiheit läßt, nach ihren Gesetzen und Principien zu schalten und zu walten". Bei allem Kampfgeist aber legte er sich in diesem Fall sehr bewusst Schranken auf. In den weiteren Schriften zum Kölner Ereignis, vor allem in der optimistischen Bilanz in Kirche und Staat nach Ablauf der Kölner Irrung nahm denn auch der Aufruf zur Einheit unter den Konfessionen wieder eine zentrale Stelle ein. Am Ende dieses Werks schrieb Görres: „Wir alle, Katholische und Protestantische, haben in unsern Vätern gesündigt […] Keiner hat das Recht, sich in Hoffart über den andern hinauszusetzen, und Gott duldet es in Keinem, am wenigsten bei denen, die sich seine Freunde nennen."

Auf den politischen Umschwung, der sich 1847 in seinen letzten Lebensmonaten vollzog, reagierte Görres nicht mehr als Kämpfer. Seit der Affäre um das Verhältnis Ludwigs I. zu der Tänzerin Lola Montez ging der König gegen die „Ultrakirchlichen“ vor, der Görreskreis war zerschlagen, seine Mitglieder versetzt und ihrer Ämter enthoben. Görres schwieg wohl schon aus Rücksicht auf den König, den er immer als Inbegriff des christlichen Herrschers und Schutzherrn des Katholizismus geachtet hatte. Am 29. Januar 1848 starb er nach kurzer Krankheit. Nur wenige Wochen vor seinem Tod hatte er in den „Aspecten an der Zeitenwende. Zum neuen Jahr 1848“, in düsteren Vorahnungen den Sieg der revolutionären Kräfte über die alten Werte und das Heraufkommen eines neuen Tyrannen mit den drei Köpfen Radikalismus, Kommunismus und Proletariat, prophezeit. Am Ende dieses letzten Aufsatzes aber stand trotz allem eine Hoffnung für die Zukunft: dieser letzte Satz, der letzte, den er zu Papier gebracht hat, lautet: „Das Recht aber bleibt ungekränkt, gestern wie heute, immer dasselbe und unwandelbar.“ Es ist das Credo, das Görres sein ganzes Leben über begleitet hat.

Görres‘ Leben – ein Leben voller Wandlungen, aber dennoch von einer erstaunlichen Kontinuität und Geradlinigkeit. Denn auf dem Weg vom Revolutionsanhänger zum Konservativen, vom Republikaner zum Anhänger der Monarchie, vom Naturphilosophen und Pantheisten zum kirchengläubigen Katholiken war er sich doch selbst immer treu geblieben. Sucht man nach einem beherrschenden und kontinuierlichen Charakterzug im wechselvollen Leben des Joseph Görres, so war es wohl sein kompromissloses Eintreten für die „ewigen Grundsätze“ von Wahrheit, Freiheit und Recht, seine lebenslange Aversion gegen jede Art von Despotie und Unterdrückung, sein Gerechtigkeitssinn und sein unbändiger Kampfgeist.

 

Unerschrockenes Eintreten für die Freiheit des Wortes

Görres war ein Idealist und ein Kämpfer und er hatte Freude an der Konfrontation. Die Zeichen der Zeit hatte er dabei jeweils präzise erkannt. Als es galt, den verknöcherten Anhängern des Ancien Régime die Ideale der Revolution vor Augen zu halten, als es galt, ein deutsches Nationalgefühl erwecken zu helfen und den Gedanken der Einheit Deutschlands gegen den kleinkarierten Partikularismus der deutschen Fürsten zu verteidigen, immer war er an vorderster Front dabei, ebenso auch Jahre später, als der rheinische Katholizismus durch die preußische Politik bedroht schien, als der Liberalismus die alten Werte angriff und eine neue Theologie und eine säkularisierte Welt die mystische Seite der religiösen Überlieferung leugneten. Immer kämpfte Görres für das, was er für wahr und wichtig hielt, mit dem Selbstbewusstsein eines geborenen Vordenkers und mit dem Bewusstsein, eine von Gott bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Wann immer er seine Grundsätze angegriffen oder gefährdet sah, war er bereit, dem Gebot der Stunde zu folgen, sich herausreißen zu lassen aus der augenblicklichen Beschäftigung, und sich dem Kampf mit der Feder zu stellen. 

Görres war überzeugt, dass es jedermanns Pflicht sei, in den Stürmen der Zeit Partei zu ergreifen. Doch er selbst wollte zu keiner Partei gehören. Schon als junger Revolutionär beteuerte er, er sei kein Werkzeug irgendeiner Partei, weder Royalist noch Anarchist, aber sehr wohl Rigorist. Im Rothen Blatt schrieb er, sein unbedingter Grundsatz sei Unparteilichkeit: „Fern von uns sey dabey jeder Partheygeist […] Es giebt nur eine Parthey, die der Tugend und Wahrheit“. Auch in der Wissenschaft will er keiner Schule angehören. „Keinem Partheyführer mag ich unbedingt huldigen, kein neuer Partheyführer mag ich werden; für das eine habe ich zu vielen Stolz, für das andere zu wenig Eitelkeit.“ Absolute Selbständigkeit des Denkens nahm er für sich in Anspruch. Und er war stolz darauf, wenn man sich schwertat, den Verfasser von Teutschland und die Revolution in eine Schublade einzuordnen, es amüsierte ihn, dass Liberale wie Ultrakonservative ihn für einen der Ihren hielten und darüber „in eine complete Confusion“ gerieten.

Görres hat keine wissenschaftliche Schule begründet. Ein Großteil seiner Hörer an der Münchner Universität bestand aus Angehörigen der theologischen Fakultät, manche von ihnen saßen später auf Bischofsstühlen. Eine ganze Reihe ehemaliger Schüler engagierte sich später politisch. Nur wenige waren Fachhistoriker. Für eine wissenschaftliche Karriere war es nicht unbedingt opportun, sich auf Görres zu berufen. Dennoch sah sich manch einer in seiner Nachfolge. Man stritt sich um die wahre Schülerschaft, kehrte je nach eigener Couleur die katholisch-apologetische, antiliberale, freiheitliche oder nationale Seite des Meisters hervor.   

In den 1870er Jahren erinnerte man sich schließlich im Kulturkampf an den Vorkämpfer der Rechte der Kirche im Athanasius und stilisierte ihn zum Vorläufer des politischen Katholizismus. Folgerichtig gründete sich zu seinem 100. Geburtstag die Gesellschaft, die seinen Namen als Programm annahm. Die Görresgesellschaft hat sich freilich längst aus der Rolle katholischer Apologetik und geistiger Defensive befreit, ihr Fundament aber bleibt das Bekenntnis zur christlichen Ethik und zur Verbindung von christlichem Glauben und wissenschaftlicher Rationalität in einer zunehmend säkularisierten Welt.

Kaum einer wird heute noch die Mythengeschichte der asiatischen Welt oder die Christliche Mystik zur Hand nehmen, viele der Schriften von Görres jedoch sind bei aller Zeitgebundenheit immer noch lesenswert, schon wegen ihres fulminanten Stils, nicht nur für Historiker. Das unerschrockene Eintreten für Gerechtigkeit, Unabhängigkeit der Wissenschaft und Freiheit des Wortes, das sich durch alle Schriften von Joseph Görres zieht, kann überdies auch heutigen Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern noch etwas zu sagen haben, Vorbild sein und Maßstäbe setzen.

 

Dr. Monika Fink-Lang ist Historikerin und Autorin von: Joseph Görres. Die Biografie. Paderborn 2013.

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