Postkoloniale Geschichtsschreibung
Geschichtsschreibung im Sinne einer Wissenschaft ist der Suche nach historischer Wahrheit verpflichtet. Zur Beantwortung forschungsleitender Fragen werden historische Quellen einer kritischen Analyse unterzogen, bewertet und interpretiert. Da auch der seriöse Historiker nicht vor ideologischer Voreingenommenheit gefeit ist, sind Transparenz und Nachvollziehbarkeit unumgänglich. Welche Quellen wurden ausgewählt, welche verworfen? Und aus welchen Gründen? Gefordert ist eine umfassende Quellenkritik: Unter welchen Umständen ist eine Quelle entstanden, wer hat sie wann und zu welchem Zweck produziert und wie zuverlässig ist ihr Inhalt?
Wie in jedem Fachgebiet zeichnet sich Wissenschaftlichkeit auch in den Geschichtswissenschaften durch die Bereitschaft aus, Theorien anzupassen oder zu verwerfen, wenn neue Fakten sie in ihrer ursprünglichen Form unhaltbar machen. Das letzte Wort wird für jeden, der in diesem Sinne forscht, nie gesprochen sein.
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Geschichtsschreibung als Machtinstrument
Mit dem Beginn der Geschichtsschreibung beginnt auch ihre Nutzung als Macht- und Herrschaftsinstrument. Von der Hofhistoriographie, die der Verherrlichung eines Herrschers und der Beschreibung seiner vermeintlichen Helden- und Wohltaten dient, über die Hagiographie, die Heiligenlegenden, bis hin zu einer ideologischen Geschichtsschreibung, wie sie etwa in den kommunistischen oder faschistischen Regimen des 20. Jahrhunderts betrieben wurde, dient sie der Legitimation von Herrschaft. Sie folgt der von George Orwell in seinem Roman 1984 aufgestellten Maxime „Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.“
Dieser Maxime folgt auch eine in der postkolonialen Theorie verankerte Geschichtsschreibung. Statt historische Ereignisse anhand aller verfügbaren Fakten und Quellen zu bewerten, versuchen ihre Vertreter die Menschheitsgeschichte ihren ideologischen Prämissen anzupassen. Nicht die Fakten stehen fest und führen zu einer Antwort auf die forschungsleitende Frage, vielmehr werden die Fakten immer aufs Neue an die bereits vorgefassten Antworten angepasst. Mathias Brodkorb spricht in diesem Zusammenhang vom Postkolonialen Narrativ.
Schuld ist der Westen
Vertretern der postkolonialen Theorie gilt a priori die Gewissheit, dass der Westen für alle Übel dieser Welt verantwortlich sei: Ob Imperialismus und Kolonialismus, Rassismus und Ausbeutung, Sexismus und Homophobie, die Wurzeln aller Übel werden im Westen gesucht und gefunden. Dabei werden in anachronistischer Manier moderne moralische und ethische Konzepte an das Europa des 15. bis 19. Jahrhunderts angelegt.
Angelpunkt ist die Behauptung einer 500-jährigen globalen Vorherrschaft des Westens: Europa habe den „globalen Süden“ in dieser Zeit mit rassistischer Ausgrenzung und Genoziden überzogen. Andere Machtzentren werden weitgehend ignoriert, passen sie doch nicht in das dichotome postkoloniale Narrativ, das die Welt in einen eindeutigen und immerwährenden Täter (der Westen) und ein ebenso eindeutiges und immerwährendes Opfer (der globale Süden) teilt und keine Grautöne zulässt.
Innerhalb dieses Täter-Opfer-Schemas werden die nach wie vor weltweit von Antisemitismus bedrohten Juden in einer spektakulären gedanklichen Verrenkung als „Weiße“ und somit als Täter eingeordnet, ja geradezu als Personifikation des modernen Tätervolkes. Der Staat Israel ist in dieser Logik nichts anderes als ein „weißes“, „europäisches Kolonialprojekt“, das mit dem Pleonasmus „Siedlerkolonialismus“ diffamiert wird. Damit leistet die postkoloniale Theorie dem weltweiten Aufschwung des Antisemitismus Vorschub, den wir seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 erleben müssen.
Zutiefst überzeugt, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen, entgeht Vertretern des postkolonialen Narrativs, dass sie jenem Eurozentrismus frönen, den zu bekämpfen sie vorgeben. Mit geradezu infantiler Rechthaberei erklären sie die gesamte außereuropäische Menschheit zum Objekt westlichen Handelns. Einzig die Europäer und in der Folge die Nordamerikaner stehen als handelnde Subjekte auf der Bühne der Weltgeschichte und bestimmen den Fortgang des Stücks.
Postkoloniale Auslassungen
Achille Mbembe, einer der Stars der postkolonialen Theorie, setzt den Verlust afrikanischer Eigenständigkeit in seinem Buch On the Postcolony mit dem Beginn der europäischen Kolonisation gleich. Für afrikanische Gesellschaften gebe es, so schreibt er, seit dem fünfzehnten Jahrhundert keine „distinktive Geschichtlichkeit“ mehr, die nicht von europäischer Vorherrschaft geprägt sei.[1] Er ignoriert die Tatsache, dass die Entwicklung Afrikas lange vor dem fünfzehnten Jahrhundert durch außerafrikanische Mächte geprägt wurde, ab Mitte des 7. Jahrhunderts durch islamisch-arabische, ab der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts durch osmanische Eroberer. Beide heizten jene Sklaven-Exportwirtschaft an, von der die Europäer ab dem 16. Jahrhundert profitieren sollten.
Ursache von Eroberungen war laut Mbembe der Monotheismus, den er allerdings auf das Christentum beschränkt. Dieses basiere auf der Vorstellung der Weltherrschaft „sowohl in der Zeit als auch im Raum“, habe sich das Eigentumsrecht auf die ganze Welt zugeschrieben und daraus das Recht auf Eroberung abgeleitet. In diesem Kontext, so folgert er, müssten die Kreuzzüge neu interpretiert werden.[2]
Mbembe kann dieses Narrativ nur kreieren, weil er die Weltherrschafts- und Eroberungsansprüche des Islams, die islamische Eroberung Nordafrikas und die den Kreuzzügen unmittelbar vorausgegangene Eroberung fast ganz Anatoliens ausblendet, die den ersten Kreuzzug provozierten, der ehemals christliche Kerngebiete zurückeroberte. Mit seiner Darstellung beraubt er die Kreuzzüge ihres historischen Kontextes.
Postkoloniale Ignoranz
Ein weiteres Beispiel liefern María do Mar Castro Varela und Carolina Tamayo-Rojas in einer Arbeit über die Zerstörung des Inkareichs durch europäische Eroberer. Sie beschreiben zunächst ein Reich, in dem eine völkische Hierarchie vorherrschte. Ausschließlich Mitglieder unterworfener Völker mussten Arbeitsleistungen für den Staat erbringen, Inkas waren davon ausgenommen.[3] Doch diese Fakten stören ihr vorgefasstes dichotomes Weltbild nicht, in dem stets europäische Eroberer arme indigene Völker unterjochen. Sie erwähnen die Fakten nur, um sie im weiteren Verlauf zu ignorieren.
Proponenten der postkolonialen Theorie stehen, im Verbund mit weiteren Theoriekonzepten wie etwa der Critical Race Theory, fest in der Tradition noch jeder ideologischen Bewegung. Sie arbeiten an nichts Geringerem, als daran, die Geschichte der Menschheit umzuschreiben. Ausgestattet mit einer stabilen Resistenz sowohl gegenüber Fakten als auch gegenüber anderen Deutungen und Meinungen, picken sie jene Rosinen aus dem langen Lauf der Geschichte, die ihre ideologischen Prämissen stützen. Eine vergleichende Geschichte des Imperialismus wird von ihnen ebenso gemieden wie ein globalgeschichtlicher Blick auf die Welt, denn beides würde ihrer Theorie die Grundlage entziehen.
Imperialismus – eine Konstante der Weltgeschichte
Seit vor rund 4.700 Jahren in Ägypten das erste Reich entstand, erlebte die Welt Aufstieg und Untergang zahlreicher Imperien. Die ägyptischen Reiche etwa standen in steter Konkurrenz zu den seit gut 4.000 Jahren in Mesopotamien durch Kriege und Eroberungen entstehenden und wieder vergehenden Imperien der Sumerer, Babylonier, Assyrer und Perser. Vor etwa 3.500 Jahren dehnte sich das ägyptische Imperium bis zum Euphrat aus, im 7. Jahrhundert v. Chr. besetzten die Assyrer Teile Ägyptens.
Lassen wir das große, aber zeitlich kurze Imperium Alexanders beiseite, begann im 3. Jahrhundert v. Chr. mit dem Römischen Reich der Aufstieg des ersten „europäischen“ Imperiums, das um 150 v. Chr. Europa, Anatolien und Nordafrika sowie das gesamte Mittelmeer beherrschte. Im 5. Jahrhundert n. Chr. zerfiel der Westteil des Reiches, Ostrom überlebte als Byzantinisches Reich fast weitere 1.000 Jahre, von denen die ersten hundert durch stete Auseinandersetzungen mit dem Persischen Reich bestimmt waren. Ab dem ersten Drittel des 7. Jahrhunderts erleben wir den rasanten Aufstieg des Arabischen Reichs. Dieses hat das Byzantinische Reich um zwei Drittel seines Territoriums beraubt und sich 651 das Perserreich einverleibt. Auf dem Höhepunkt seiner Macht Mitte des 8. Jahrhunderts dehnte sich dieses Imperium von Portugal im Westen bis Pakistan im Osten aus. Es umfasste die Iberische Halbinsel, Nordafrika, den Nahen Osten, Syrien, Irak, Iran und reichte von der Arabischen Halbinsel im Süden bis zur Grenze des heutigen Georgiens und zum Aralsee im Norden und hatte die christlichen und zoroastrischen Kerngebiete unterworfen.
Im 5. Jahrhundert begann der allmähliche Aufstieg des Frankenreichs, das den weiteren arabischen Vormarsch im Westen Europas stoppte und im 9. Jahrhundert unter Karl dem Großen seine größte Ausdehnung erreichte.
Ab dem 13. Jahrhundert wurde Osteuropa von mongolischen Heeren bedrängt. Das Mongolenreich sollte schließlich das größte zusammenhängende Herrschaftsgebiet der Geschichte umfassen. Es reichte von China in Ostasien über Zentralasien und Persien bis Russland und Osteuropa.
Ab dem 14. Jahrhundert machten sich die Osmanen auf, ebenfalls ein Imperium zu begründen, das das Byzantinische Reich endgültig zerstören sollte. Die Eroberung der byzantinischen Hauptstadt Konstantinopel im Jahr 1453 wird in der Türkei, anders als Eroberungen westlicher Imperien, noch heute jedes Jahr am 29. Mai gefeiert. Zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung beherrschte das Osmanische Imperium das östliche und südliche Mittelmeer, das Gebiet vom Balkan bis nach Persien und zeitweise um das Schwarze Meer herum. Parallel dazu begann im 16. Jahrhundert der Aufstieg des Russischen Reichs.
In Südamerika wiederum schufen die Inkas vom 12. bis zum 16. Jahrhundert und die Azteken von Anfang des 14. Jahrhunderts bis zur Ankunft der europäischen Eroberer ebenfalls Imperien. Zu erwähnen wären noch das Chinesische Reich sowie das Songhaireich in Westafrika. Allein diese unvollständige Aufzählung umfasst 17 Imperien der Weltgeschichte in knapp 4500 Jahren. Erst im 15. Jahrhundert begann der allmähliche Aufstieg europäischer Mächte, verbunden mit der Kolonisierung entfernter Kontinente.
Die Kolonialzeit
Was zunächst nach einer Besonderheit aussieht – Staaten unterwerfen weit von ihrem Zentrum entfernte Gebiete und gründen überseeische Imperien –, ist Folge technischer Entwicklungen in der Seefahrt. Jedes der vorherigen Imperien hat stets all jene Gebiete unterworfen, zu deren Eroberung es die nötigen Ressourcen und technischen Fähigkeiten besaß. Erst mit der Entwicklung hochseetauglicher Schiffe war das Ausgreifen auf ferne Kontinente möglich.
Ein Blick auf die Geschichte zeigt zudem, dass zeitgleich mit der europäischen Expansion auch außereuropäische Mächte an der Ausdehnung ihrer Herrschaftsgebiete arbeiteten. Portugal eroberte 1415 seine erste Besitzung in Afrika, die Festung Ceuta an der marokkanischen Nordküste. Sieben Jahre später belagerten die Osmanen Konstantinopel, das sie 1453 eroberten, 39 Jahre bevor Kolumbus die Küsten Amerikas erreichte. 1460 eroberten die Osmanen mit Mystras die letzte unabhängige Stadt auf dem heutigen griechischen Festland. Etwa zeitgleich gelang es Russland unter Iwan dem Großen, zunächst die mongolische Herrschaft abzuschütteln, Teile der russisch besiedelten Gebiete unter seiner Herrschaft zu einen und damit den Grundstein für das russische Imperium zu legen.
Während die Portugiesen Madeira, die Azoren und erste Gebiete im nordwestlichen Afrika in ihren Besitz nahmen, drangen die Osmanen nach Europa vor, wo sie 1440 erstmals Belgrad belagerten. Und während die Spanier zwischen 1519 und 1521 das heutige Mexiko eroberten und das Reich der Azteken vernichteten, eroberten die Osmanen 1521 Belgrad, ein Jahr später Rhodos, um 1526 schließlich die Ungarn zu schlagen und 1529 erstmals vor den Toren Wiens zu stehen. Seine größte Ausdehnung erreichte das Osmanische Reich gegen Ende des 17. Jahrhundert, sein Ende fand es erst nach dem Ersten Weltkrieg.
In diesem Zeitraum eroberte Russland ein Imperium, das von der Ostsee und dem Schwarzen Meer im Westen bis zum Pazifischen Ozean im Osten reichte und fast ein Sechstel der Landmasse der Erde umfasste.
Kritische Auseinandersetzung statt Umschreiben von Geschichte im eigenen Sinn
Für Historiker, die die Globalgeschichte im Blick haben, ist daher nicht die europäische Expansion erklärungsbedürftig. Sie reiht sich umstandslos in den konstanten Aufstieg und Untergang von Imperien in den letzten 5000 Jahren ein. Nicht die Expansion stellt den Sonderfall der Geschichte dar, sondern die kritische Auseinandersetzung mit derselben.
Nur im Westen hat sich im Zuge der Aufklärung eine Kultur entwickelt, die einen kritischen und um Objektivierung bemühten Blick auf das Eigene wirft. Dieser Tradition der europäischen Geistesgeschichte, die im Übrigen so etwas wie die postkoloniale Theorie überhaupt erst denkbar machte, folgt auch die moderne Geschichtswissenschaft. Die eigenen Eroberungen und die ihnen zugrunde liegenden imperialistischen Bestrebungen werden nicht apologetisch als glorreiche Geschichte der Sieger gelehrt. Moderne Geschichtswissenschaft zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie in der Lage ist, die Perspektive zu wechseln, einen übergeordneten Standpunkt einzunehmen und auch die negativen Folgen der Eroberungen zu analysieren.
Im Gegensatz dazu ist es ein Merkmal von Diktaturen und totalitärer Bewegungen, die Geschichte umzuschreiben, um aus dieser adaptierten Vergangenheit die Legitimation für das eigene totalitäre Handeln ableiten zu können. In Orwells 1984 heißt es:
„Jede Aufzeichnung wurde vernichtet oder verfälscht, jedes Buch überholt, jedes Bild übermalt, jedes Denkmal, jede Straße und jedes Gebäude umbenannt, jedes Datum geändert. Und dieses Verfahren geht von Tag zu Tag und von Minute zu Minute weiter. Die Geschichte hat aufgehört. Nichts existiert außer einer endlosen Gegenwart, in der die Partei immer Recht hat.“
Der Versuch der postkolonialen Bewegung, die Geschichte der Menschheit entlang ihrer ideologischen Prämisse umzuschreiben, sollte als das gesehen werden, was er ist: ein Frontalangriff auf die Freiheit und die westliche liberale Demokratie.
Heiko Heinisch ist Historiker und Autor. Er arbeitete am Ludwig Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft sowie am Institut für Islamische Studien der Universität Wien und ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Dokumentationsstelle Politischer Islam in Österreich.
Verweise
[1] Mbembe, Achille : On the Postcolony (Studies on the History of Society and Culture), Berkeley 2001, S. 9.
[2] Mbembe: Postcolony, S. 226 f.
[3] María do Mar Castro Varela, Carolina Tamayo-Rojas: Den Leviathan zähmen. Indigener Widerstand und koloniale Wissensproduktion in den nördlichen Anden, in: Aram Ziai: Postkoloniale Politikwissenschaft. Theoretische und empirische Zugänge, Bielefeld 2016, S. 377-396, S. 384 f.
Literatur
Brodkorb, Mathias: Postkoloniale Mythen. Auf den Spuren eines modischen Narrativs. Springe 2025.
Mbembe, Achille: On the Postcolony (Studies on the History of Society and Culture). Berkeley 2001.
Orwell, George: 1984. Schwäbisch Gmünd 1950.
Varela, María do Mar Castro / Tamayo-Rojas, Carolina: Den Leviathan zähmen. Indigener Widerstand und koloniale Wissensproduktion in den nördlichen Anden. In: Aram Ziai (Hg.): Postkoloniale Politikwissenschaft. Theoretische und empirische Zugänge, Bielefeld 2016, S. 377-396.
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