Ausgabe: 2/2025
- Die Regierung von Premierminister Starmer hat mit Mauritius die Übergabe der zuletzt unter britischer Verwaltung stehenden Chagos-Inseln im Indischen Ozean ausgehandelt. Der Vorgang hat das Spannungsfeld zwischen kolonialer Aufarbeitung und Wiedergutmachung einerseits, nationalen (Sicherheits-)Interessen andererseits verdeutlicht.
- Der Verzicht auf die auf dem Archipel gelegene und von den USA mitgenutzte Militärbasis war für die britische Regierung zu keinem Zeitpunkt eine Option; der nun ausgehandelte Vertrag sieht für das Vereinigte Königreich eine Pacht über zunächst 99 Jahre vor, die bei Übereinkunft der Vertragsparteien um 40 Jahre verlängert werden kann.
- In Großbritannien läuft eine Debatte um Verfehlungen und Verdienste des Empire. Einig sind sich Labour und Konservative in ihrer Ablehnung von Reparationszahlungen. Die Tories kritisieren aber eine allgemeine „Selbstzweifel-Kultur“ und versuchen, in der Debatte eine positive nationale Selbstwahrnehmung zu wahren.
- Der Brexit war mit der Erwartung verbunden, weltpolitische Handlungsfreiheit zu gewinnen und mögliche Verluste im Handel mit der EU durch eine Revitalisierung der Beziehungen zum Commonwealth auszugleichen. Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt.
Die anhaltende Debatte über die Chagos-Inseln hat die gesellschaftliche Diskussion über Entkolonialisierung innerhalb Großbritanniens wiederbelebt. Diese Debatte spiegelt sich nicht nur in parteipolitischen Diskursen wider, sondern auch in der öffentlichen Meinung, wo die Frage nach Schuld und Verantwortung zunehmend polarisierend wirkt. Die Auseinandersetzung mit dem britischen Kolonialismus bleibt ein zentraler Bestandteil nationaler Identitätsbildung und beeinflusst maßgeblich, wie das Land die Welt sieht.
Nicht zuletzt wirft die imperiale Vergangenheit auch Licht auf die Ursachen des Brexit. Mit der Strategie Global Britain wollte sich das Vereinigte Königreich von der EU lösen und seine historischen Verbindungen zum Commonwealth wirtschaftlich und politisch neu beleben. Doch wie erfolgreich ist dieser Ansatz wirklich? Der Versuch, wirtschaftliche Verluste durch verstärkte Beziehungen zu ehemaligen Kolonien auszugleichen, scheint sich als komplexer zu erweisen als erhofft. Die britische Außenpolitik bewegt sich somit im Spannungsfeld zwischen imperialer Vergangenheit und globaler Neuausrichtung.
Zwischen Gerechtigkeit und Sicherheit: Die Chagos-Inseln
Als der britische Premierminister Keir Starmer im Oktober 2024 verkündete, dass das Vereinigte Königreich die Inselgruppe Chagos Islands an Mauritius abtreten wird, war er nicht auf eine sicherheitspolitische Debatte um Kosten und Konsequenzen vorbereitet. Vielmehr wollte die Labour-Regierung den Verhandlungsprozess um die Rückgabe der „letzten britischen Kolonie in Afrika“, der 2019 unter Premierminister Boris Johnson begonnen hatte, noch vor dem Amtsantritt von Donald Trump zum Abschluss bringen.
Während die konservative Regierung eine Entscheidung über die mögliche Rückgabe stets hinausgezögert hatte, sah sich die Labour-Regierung zum Handeln gezwungen, da gleich mehrere Rechtsgutachten nahelegten, dass Großbritannien eine Klage von Mauritius vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) voraussichtlich verlieren würde. Dies hätte den Verlust des gesamten Archipels und damit schwerwiegende strategische Konsequenzen bedeuten können. Die Starmer-Regierung wollte einem solchen Worst-Case-Szenario auch wegen der eigenen nationalen Sicherheitsinteressen zuvorkommen und entschied sich für eine proaktive Herangehensweise, indem sie eine vertragliche Einigung mit Mauritius anstrebte. Zusätzlich zu den strategischen Überlegungen stellte die Rückgabe für Premierminister Starmer vor allem auch eine Gelegenheit dar, das Engagement Großbritanniens für das Völkerrecht und internationale Verpflichtungen zu demonstrieren.
Die historische Zugehörigkeit des Chagos-Archipels zu Mauritius ist umstritten, was die Behebung „historischer Ungerechtigkeiten“ schwieriger macht, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Verbindung zwischen beiden Gebieten resultiert hauptsächlich aus der gemeinsamen Kolonialverwaltung sowohl unter der französischen als auch unter der anschließenden britischen Herrschaft. Im Jahr 1965 wurde die Verwaltung der Chagos-Inseln wieder von Mauritius getrennt und als Britisches Territorium im Indischen Ozean (British Indian Ocean Territory) direkt der britischen Kontrolle unterstellt. Dieser Schritt war von Großbritannien zur Voraussetzung für die Gewährung der Unabhängigkeit an Mauritius gemacht worden. In den späten 1960er-Jahren wurden dann zwischen 1.500 und 2.000 Einwohner der Chagos-Inseln zwangsweise umgesiedelt, um Platz für eine US-Militärbasis auf der Hauptinsel Diego Garcia zu schaffen. Heute ist die Inselgruppe unbewohnt.
Diego Garcia beherbergt eine der wichtigsten US-Militärbasen im Indischen Ozean. Die Anlage dient den Streitkräften als Drehkreuz für Luftoperationen, maritime Überwachung und logistische Versorgung für Operationen im Nahen Osten, Südasien und Afrika. Auch die CIA nutzte die Basis für verdeckte Operationen, wie Lawrence Wilkerson, früherer Stabschef von Außenminister Colin Powell, bestätigte. Zuletzt wurde ein Angriff auf Huthi-Stellungen im Jemen von dort aus koordiniert. Angesichts der zunehmenden Expansion Chinas gilt die Basis heute als unverzichtbarer Vorposten US-amerikanischer Machtprojektion in der Region.
Die Abtrennung der Inseln und die damit verbundene Vertreibung der Bevölkerung wurden 2019 bereits vom IGH in einem nicht bindenden Gutachten als Verstoß gegen geltendes Recht eingestuft. Das Vereinigte Königreich möge die Inseln „so schnell wie möglich“ an Mauritius zurückgeben, heißt es in dem Gutachten, das die UN-Generalversammlung mit überwältigender Mehrheit unterstützte. Für den neuen britischen Premierminister war dies fünf Jahre später Grund genug, eine vertragliche Einigung mit Mauritius anzustreben. Bereits im Oktober 2024, nur wenige Monate nach seiner Amtsübernahme, wurde ein erstes Abkommen mit Mauritius ausgehandelt. Dieses musste allerdings vor dem Hintergrund der Regierungswechsel sowohl in Mauritius als auch in den USA neuverhandelt beziehungsweise revidiert werden.
Abb. 1: Lage der Inseln des Chagos-Archipels und von Mauritius im Indischen Ozean
Schließlich gelang der Durchbruch während des Washington-Besuchs von Keir Starmer im April 2025, nachdem auch US-Präsident Donald Trump dem Abkommen zugestimmt hatte. Trump, der das britische Rückgabevorhaben noch wenige Wochen zuvor als Verrat bezeichnet hatte, willigte nun in die ursprünglich vorgesehene Pachtzeit von 99 Jahren ein, auch weil eine vertraglich festgelegte Verlängerungsoption um weitere 40 Jahre vereinbart wurde, die in beidseitigem Einverständnis der Vertragspartner aktiviert werden kann. Zentral für diesen Verhandlungserfolg mit dem Weißen Haus war Jonathan Powell, der Nationale Sicherheitsberater Großbritanniens. Ihm ist es maßgeblich zu verdanken, dass die US-Seite überzeugt werden konnte, dass ein Abkommen mit Mauritius der wirksamste Weg ist, um jede juristische Anfechtung der Nutzung auszuschließen.
Das Abkommen beendete somit eine monatelange Unsicherheit, auch wenn es in den USA und im Vereinigten Königreich weiterhin Kritik ausgesetzt ist. Vor allem führende Republikaner in Washington sowie konservative Stimmen in Großbritannien äußern Bedenken wegen der finanziellen Belastung und sicherheitspolitischer Risiken – insbesondere angesichts der Beziehungen zwischen Mauritius und China. Zu den schärfsten Kritikern auf US-Seite zählt Senator John Kennedy, der nachdrücklich darauf hinweist, dass trotz milliardenschwerer US-Investitionen und vertraglicher Abkommen die strategische Nutzung der Militärbasis keineswegs garantiert sei. Mauritius könne die Gelegenheit nutzen, Washington mit überzogenen Pachtforderungen unter Druck zu setzen, während Peking seinen Einfluss im Indischen Ozean und Golf von Bengalen weiter ausbauen könne. Die eigene Opposition, die Conservative Party, warf der Starmer-Regierung vor, durch übertriebene rechtliche Vorsicht die nationalen Sicherheitsinteressen Großbritanniens aus den Augen zu verlieren und seine strategischen Vorteile zu verspielen.
Die Kritik beschränkt sich damit längst nicht nur auf parteipolitische oder innenpolitische Fragen, sie verweist vor allem auf die sicherheitspolitische Tragweite des Abkommens. Denn die Chagos-Frage betrifft nicht nur US-amerikanische oder britische Interessen, sondern berührt auch jene der NATO-Verbündeten, die ein gemeinsames Interesse am Fortbestand westlichen Einflusses in der strategisch bedeutsamen Region haben. Eine Destabilisierung der Sicherheitsarchitektur im Indischen Ozean könnte auch langfristige Auswirkungen auf globale Verteidigungsstrategien haben. Vor diesem Hintergrund geht die Debatte um die Souveränitätsübertragung der Chagos-Inseln weit über ein klassisches Abwickeln kolonialen Erbes hinaus.
Das Abkommen und auch die Debatte darüber verdeutlichen, wie zäh sich die Aufarbeitung der britischen Kolonialgeschichte gestaltet und wie komplex „Wiedergutmachung“ sein kann. Es zeigt aber auch Großbritanniens geopolitische Prioritäten: Ein vollständiger Verlust des Territoriums und der Kontrolle über die Militärbasis kam für London nicht infrage, da dies die strategische Partnerschaft mit Washington und die eigene nationale Sicherheit gefährdet hätte. Folgerichtig wurde bereits im Vorfeld der Verhandlungen eine Rückgabe über ein US-Veto hinweg ausgeschlossen. Großbritannien, so legt es das Verhalten der britischen Regierung beim Chagos-Deal nahe, befindet sich also inmitten eines komplexen Balanceakts zwischen Vergangenheitsbewältigung und nationalen Sicherheitsinteressen.
Großbritanniens koloniale Debatte: Zwischen Schuld und Stolz
Die koloniale Vergangenheit ist immer wieder Gegenstand der öffentlichen Debatte. Einen Höhepunkt erreichte der Diskurs im Rahmen der „Black-Lives-Matter“-Bewegung, die während des COVID-19-Lockdowns aus den USA nach Großbritannien schwappte. Die Bewegung entfachte landesweite Proteste gegen Rassismus und Kolonialismus und führte zu einer gesellschaftlichen Debatte über die koloniale Vergangenheit. Ein einschneidendes Ereignis war der Sturz der Statue des „Wohltäters“ Edward Colston, der seinen Reichtum dem Sklavenhandel verdankte, im Juni 2020 durch Demonstranten in seiner Heimatstadt Bristol. Universitäten und kulturelle Institutionen im ganzen Land bekundeten ihre Solidarität und begannen, ihre eigenen Verbindungen zur kolonialen Vergangenheit zu hinterfragen. Diese Bewegung forderte eine kritische Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe einschließlich Bildungsreformen, die Entfernung von Denkmälern und Diskussionen über Reparationen. Ein passender Anlass dafür war unter anderem der Besuch von König Charles III. in Kenia im Oktober 2023, bei dem er zwar sein tiefes Bedauern über die „verwerflichen und unentschuldbaren“ Gewalttaten während der britischen Kolonialherrschaft ausdrückte, jedoch keine formelle Entschuldigung aussprach. Menschenrechtsorganisationen kritisierten dieses Zögern und forderten eine uneingeschränkte öffentliche Entschuldigung. Die britische Regierung aber lehnt offizielle Entschuldigungen und finanzielle Reparationen weiterhin ab. Stattdessen signalisiert sie Offenheit für indirekte Formen der Wiedergutmachung, wie Schuldenerlass und Entwicklungszusammenarbeit.
Doch während über die Form der Wiedergutmachung noch diskutiert wird, verschiebt sich zugleich auch der Rahmen der Debatte über die koloniale Vergangenheit: Diese wird diesmal nicht mehr nur von traditionell antikolonialen Gruppen geprägt, sondern zunehmend auch von konservativen Kreisen, die mit einer bewusst offensiven Erzählung versuchen, die „Errungenschaften“ der britischen Kolonialherrschaft positiv in den Vordergrund zu rücken.
An erster Stelle wird aufgeführt, dass es das British Empire war, das den transatlantischen Sklavenhandel mit seiner Marine bekämpfte und beendete, lange bevor in den Vereinigten Staaten der Bürgerkrieg ausbrach. Die Organisation History Reclaimed zum Beispiel widmet sich dem Ziel, „Verzerrungen der Geschichte herauszufordern und Kontext, Erklärung und Ausgewogenheit in eine Debatte zu bringen, in der Dogmatismus zu oft der Analyse und Verurteilung dem Verständnis vorgezogen wird“. Ein führender Kopf der Organisation, Nigel Biggar, fordert in seinem Buch „Colonialism: A Moral Reckoning“ aus dem Jahr 2023 ebenfalls eine differenziertere Sicht auf das Empire und argumentiert, dass der Kolonialismus nicht ausschließlich negativ zu betrachten sei. Das British Empire habe nicht nur inhumanen Praktiken wie Sklaverei, Witwenverbrennungen und Menschenopfern ein Ende gesetzt, sondern auch nachhaltige Institutionen wie Rechtsstaatlichkeit, funktionierende Verwaltung und moderne Bildungssysteme geschaffen, die bis heute positive Wirkungen in den ehemaligen Kolonien entfalten. Biggar wurde im Januar 2025 auf Bestreben Kemi Badenochs, Vorsitzende der Conservative Party, zum Life Peer ernannt und sitzt seitdem im House of Lords als konservativer Peer.
Sein Werk stärkt Badenochs Anliegen, dem Westen neues Selbstvertrauen zu verleihen. Die Conservatives sehen sich in der Debatte um das koloniale Erbe in der Rolle der Verteidiger einer positiven nationalen Selbstwahrnehmung. Sie vertreten die Auffassung, dass Großbritannien trotz seiner kolonialen Vergangenheit Grund zum Selbstbewusstsein habe. Gerade die von Kemi Badenoch immer wieder zitierte Studie, wonach fast die Hälfte der jungen Briten ihr Land als rassistisch empfindet, dient ihr als Beleg für eine wachsende Selbstzweifel-Kultur, die sie auf einseitige und spaltende gesellschaftliche Narrative zurückführt. Für die aktuelle Führungsriege der Conservative Party sind Reparationsforderungen Ausdruck einer endlosen Schulddebatte, die vor allem von linken Narrativen vorangetrieben werde. Der heutige Wohlstand und Fortschritt in Großbritannien seien nicht allein dem Kolonialismus geschuldet, sondern vor allem das Ergebnis einer vielfältigen und leistungsfähigen Gesellschaft. Der ehemalige Migrationsminister Robert Jenrick ging sogar noch weiter und forderte von den ehemaligen Kolonien mehr Dankbarkeit für die demokratischen Institutionen, welche sie vom Empire geerbt hätten, während die Parteichefin der Conservatives die Entstehung autoritärer Herrschaften in afrikanischen Staaten mit der Abwendung von britischen Werten in Zusammenhang bringt.
Ein Blick auf das British Empire zeigt, warum die Debatte um das koloniale Erbe so komplex ist und tiefe gesellschaftliche Gräben zieht. Über Jahrhunderte formte die imperiale Vormachtstellung nicht nur die geopolitische Ordnung, sondern prägte auch das globale britische Selbstverständnis, das oft wesentlich schwerer wog als das europäische Zugehörigkeitsgefühl. Das Empire verschaffte Großbritannien große wirtschaftliche Vorteile, die Kontrolle globaler Handelsrouten und weltweiten Einfluss. Diese Dominanz nährte ein bis heute spürbares, romantisiertes Bild des Kolonialismus in Teilen der Gesellschaft. Zweifellos trug der koloniale Charakter des Empires zur Industrialisierung, technologischen Führungsrolle und Entwicklung einer globalen gesellschaftlichen und politischen Perspektive bei. Er war auch von rassistischen Hierarchien, systematischer Ausbeutung und einem tief verankerten Überlegenheitsgefühl geprägt. Eine nüchterne Betrachtung zeigt: Die Auswirkungen des Kolonialismus variierten regional stark. Siedlerkolonien wie Australien und Neuseeland entwickelten sich vergleichsweise erfolgreich, während Länder mit indigener Mehrheitsbevölkerung langfristig unter massiven politischen und wirtschaftlichen Belastungen litten.
Die Schattenseiten des Empire sind unumstritten, weshalb Großbritannien unter Druck steht, sich mit Forderungen nach Reparationen auseinanderzusetzen. Auf dem Commonwealth-Gipfel in Samoa 2024 forderten die Mitgliedstaaten einen „bedeutsamen, wahrheitsgemäßen und respektvollen Dialog“ über Reparationsfragen etwa bezüglich des transatlantischen Sklavenhandels. Tatsächlich beteiligte sich Großbritannien in großem Umfang am internationalen Sklavenhandel, den es erst mit dem Slave Trade Act 1807 zu bekämpfen begann. Sowohl für Labour als auch die Conservatives stand die Frage finanzieller Entschädigungen jedoch von Anfang an nie ernsthaft zur Debatte. In Großbritannien herrscht parteiübergreifend Einigkeit darüber, dass dieses Fass ohne Boden nicht geöffnet werden sollte. Auch Premierminister Keir Starmer hat diese Haltung wiederholt unterstrichen, selbst wenn er sich grundsätzlich offen für Gespräche über den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit zeigt. Diese Offenheit wahrt der britische Premierminister nicht nur, um seinen Kurs der kolonialen Wiedergutmachung fortzusetzen, sondern auch, weil ein wesentlicher Teil der Neuausrichtung der britischen Wirtschaftsstrategie nach dem Brexit auf den Beziehungen zu und den Handel mit den Commonwealth-Staaten aufbaut.
Der Brexit, das Commonwealth und Global Britain
Eine historisch verwurzelte Vorstellung von Großbritanniens globaler Bedeutung kennzeichnet auch das britische Selbstverständnis in der Außenpolitik. Ein prägendes Beispiel dafür ist der Brexit, die wohl weitreichendste politische Entscheidung der jüngeren britischen Geschichte. Der Austritt aus der Europäischen Union war für viele Befürworter eng mit der Idee verbunden, die nationale Souveränität wiederherzustellen – insbesondere die Kontrolle über die Handelspolitik und die Möglichkeit, eigenständige Abkommen mit Partnern weltweit zu schließen. Großbritannien setzte sich das Ziel, wieder „global“ zu werden. Unter der konservativen Regierung wurde Global Britain zur offiziellen außenpolitischen Strategie erklärt. London wollte mit ihr seinen Einfluss in einer sich wandelnden Weltordnung neu definieren. Schon vor dem Brexit-Referendum 2016 prägten entsprechende Narrative und Schlagworte die Debatte: die Rückgewinnung der Souveränität, die Verlagerung der Entscheidungsmacht von Brüssel nach London, die Vorstellung, dass der Handel mit dem Commonwealth die Folgen des Brexit abfedern könne, und die Hoffnung auf eine Wiederbelebung historischer Beziehungen in die Welt.
Es ist also nicht überraschend, dass Großbritannien nach dem Brexit stark auf das Commonwealth und seine 56 Mitgliedstaaten, unter ihnen vor allem ehemalige Kolonien, setzte. Man hoffte, alte Handelsrouten zu beleben, regionalen Einfluss zurückzugewinnen und historische Verbindungen wirtschaftlich nutzen zu können – besonders in Afrika. Länder wie Südafrika, Nigeria, Äthiopien, Kenia und Ghana sollten strategische Partner werden, um wirtschaftliche Entwicklung, Sicherheit und Stabilität auf dem Kontinent zu fördern.
Die Strategie, mit dem Brexit die historischen Beziehungen zum Commonwealth zu revitalisieren und als Global Britain neue wirtschaftliche Perspektiven zu erschließen, erwies sich als nur begrenzt wirksam. Zwar bleibt das Commonwealth ein geopolitisches Netzwerk, das London exklusive Zugänge zu bieten scheint, doch die Realität ist weitaus komplexer. Die ehemaligen Kolonien haben längst begonnen, sich wirtschaftlich und politisch zu emanzipieren, suchen zunehmend neue Partnerschaften und stellen eigene Interessen in den Vordergrund. In diesem Kontext verlieren die alten Machtstrukturen an Bedeutung, während Großbritannien gezwungen zu sein scheint, sich als Partner unter Gleichen zu positionieren.
Gerade die Ambition, durch den Fokus auf das Commonwealth die Außenhandelsströme des Königreichs und dessen geopolitischen Einfluss neu zu gestalten, hat sich – wie sich an den Zahlen ablesen lässt – nicht als realistisch erwiesen. Während der Handel mit der EU nach dem Brexit nur ein leichtes Defizit verzeichnet, stagniert der mit dem Commonwealth trotz hinzugewonnener Eigenständigkeit im Welthandel weitgehend. 2023 gingen nur rund zehn Prozent der britischen Exporte dorthin – kaum mehr als vor dem Brexit. Dabei vereint das Commonwealth immerhin rund 13 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung auf sich. Im Vergleich dazu erwirtschaftet die EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten mit einem Anteil von 14,7 Prozent nur unwesentlich mehr. Dennoch bleibt der Handel mit der EU das Kernstück der britischen Handelsbeziehungen.
Auch die britische Entwicklungspolitik offenbart einen Widerspruch zwischen Anspruch und Realität. Einerseits betont London, die Zusammenarbeit mit den Staaten des sogenannten Globalen Südens ausbauen zu wollen, nicht zuletzt, um Forderungen nach Reparationen zuvorzukommen. Andererseits sendet die angekündigte Kürzung der Entwicklungsausgaben ein völlig gegensätzliches Signal und untergräbt die Glaubwürdigkeit der britischen Partnerschaftsofferte nachhaltig. Der Anteil der Mittel liegt mittlerweile nur noch bei 0,5 Prozent des Bruttonationaleinkommens, mit weiter sinkender Tendenz. Premierminister Starmer kündigte sogar an, diesen Anteil auf 0,3 Prozent abzusenken, um stattdessen die Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Für die Länder des Commonwealth sind die britischen öffentlichen Entwicklungsleistungen (Official Development Assistance) seit 2019 bereits um 70 Prozent zurückgegangen, von 1,88 Milliarden auf 570 Millionen Pfund im Jahr 2023.
Wie gut die Beziehungen Großbritanniens zu seinen Ex-Kolonien schließlich ausfallen, ist also zum einen eine Frage der Investition in diese und zum anderen eine Frage der Interessenkongruenz, wie die Beispiele Singapur und Indien verdeutlichen. Mit Singapur konnte London Erfolge erzielen. Das Freihandelsabkommen von 2021 und das Digital Economy Agreement von 2022 bauen gezielt auf beiderseitige Stärken im Dienstleistungssektor auf. Bereits 2020 erreichte das bilaterale Handelsvolumen mehr als 22 Milliarden US-Dollar – eine solide Basis für weiteres Wachstum. Indien hingegen bleibt ein schwierigerer Partner. Zwar wurde im Mai 2021 unter Premierminister Johnson die ambitionierte 2030 Roadmap beschlossen, die eine umfassende Zusammenarbeit in Bereichen wie Handel, Klima, Gesundheit und Verteidigung vorsieht, doch der Fortschritt bleibt begrenzt. Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen wurden zeitweise ausgesetzt. Erst nach jahrelangem Ringen schlossen das Vereinigte Königreich und Indien im Mai 2025 ein umfassendes Abkommen.
Der Brexit und die Global-Britain-Strategie waren Ausdruck einer außenpolitischen Identitätssuche. Beide blieben hinter den ambitionierten Zielen und Erwartungen zurück. Der Brexit war mit einer außenpolitischen Hoffnung verbunden, die stark von historischen und identitären Vorstellungen geprägt, aber schließlich nicht von Erfolg gekrönt war, weil sie mit der realen britischen Einflusssphäre nur noch begrenzt zu tun hat. In der Zwischenzeit hat sich abgezeichnet, dass Global Britain mit erheblichen realpolitischen Herausforderungen konfrontiert ist. Die erhoffte Revitalisierung des Commonwealth als wirtschaftliche und politische Einheit konnte bislang nur in begrenztem Maße realisiert werden. Viele Mitgliedstaaten sind wirtschaftlich nicht auf Großbritannien angewiesen und verfolgen zunehmend ihre eigenen Interessen, was die Bedeutung dieser historischen Verbindungen relativiert. Immer mehr erwarten die Staaten des Commonwealth zudem eine glaubwürdige Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit als Voraussetzung für vertiefte Partnerschaften.
Ausblick
Die imperiale Vergangenheit ist nach wie vor ein prägender Bestandteil der britischen Identität – gerät jedoch zunehmend in Widerspruch zur politischen und wirtschaftlichen Realität des 21. Jahrhunderts. Die Aufarbeitung der kolonialen Geschichte stellt sowohl innen- als auch außenpolitisch ein ungelöstes Spannungsfeld dar. Die Debatte wird auch künftig den öffentlichen Diskurs begleiten – mal intensiver, mal verhaltener –, geprägt von wechselnden Perspektiven: teils kritischer Auseinandersetzung mit kolonialen Vergehen, teils nostalgischer Verklärung des Empire. Gerade diese Ambivalenz prägt heute das Selbstverständnis Großbritanniens. Das Vereinigte Königreich steht dabei vor der Herausforderung, eine ausgewogene außen- wie innenpolitische Identität zu entwickeln, die sowohl dem kolonialen Erbe als auch zeitgemäßen ethischen Maßstäben gerecht wird.
Die außenpolitische Zukunft Großbritanniens wird maßgeblich davon abhängen, inwieweit es gelingt, sich glaubwürdig von überkommenen imperialen Denkmustern zu lösen und zugleich die Potenziale des Commonwealth gezielter für die eigenen strategischen Interessen zu nutzen. Nur unter diesen Voraussetzungen wird das Vereinigte Königreich langfristig eine relevante Rolle auf einer multipolaren Weltbühne einnehmen können – eine Rolle, die den eigenen Ansprüchen als einflussreiche globale Macht tatsächlich gerecht wird.
Seit der 2023 überarbeiteten Integrated Review der Regierung, die als Neuausrichtung der britischen Rolle in der Welt angesehen werden könnte, haben die neuen geopolitischen Realitäten Einzug in die strategischen Überlegungen der Regierung gehalten. Spätestens die neue Labour-Regierung versucht sich an einem wesentlich pragmatischeren Ansatz. Statt sich als globale Führungsmacht in imperialer Tradition zu inszenieren, rückt Großbritannien internationale Partnerschaften in den Mittelpunkt, um seine Rolle in einer multipolaren Welt neu zu definieren. Die Priorität liegt nun auf Kooperation, insbesondere innerhalb der NATO, der G7, aber auch mit der EU. Rückblickend erscheint Global Britain weniger als eine realistische außenpolitische Strategie, sondern vielmehr als ein identitätsstiftendes Projekt nach dem Brexit – ein Narrativ, das den geopolitischen Realitäten nicht standhalten konnte. Gegenwärtig versucht die britische Regierung, ihre Annäherungs- und Überzeugungsbemühungen gegenüber der Trump-Administration mit einer ebenso ambitionierten Europapolitik zu verbinden. Der Brexit könnte sich als Chance erweisen, nach Jahren der globalen Abwesenheit eine neue und entscheidende Rolle für Großbritannien zwischen den beiden Seiten des Atlantiks zu finden.
Dr. Canan Atilgan ist Leiterin des Auslandsbüros Vereinigtes Königreich und Irland der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in London.
Lukas Wick ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Auslandsbüro Vereinigtes Königreich und Irland der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Für eine vollständige Version dieses Beitrags inkl. Quellenverweisen wählen Sie bitte das PDF-Format.
Themen
Kenia trauert um Raila Odinga
Mehr Flexibilität, weniger Kontrolle?
Editorial der Ausgabe „Entwicklungszusammenarbeit – Globale Trends und Lehren für Deutschland“
Der vernetzte Ansatz der Türkei in der Entwicklungszusammenarbeit
Wie Japan mit seiner Entwicklungszusammenarbeit Unterstützung, Handel und Investitionen verbindet