Ausgabe: 2/2025
- Autoritäre Staaten wie China und Russland nutzen historische Narrative, um einerseits Patriotismus und nationale Einheit im Innern zu stärken und andererseits auf internationaler Ebene die westlichen Staaten zu diskreditieren.
- Nach innen spielt für China die Erzählung vom historischen Eigenweg des Landes und den historischen Verdiensten der Kommunistischen Partei, für Russland das Beschwören des Zweiten Weltkriegs als „Großer Vaterländischer Krieg“ eine entscheidende Rolle.
- Nach außen haben sich postkoloniale Diskurse als nützliches Werkzeug erwiesen: Das globale Engagement westlicher Staaten soll durch sie pauschal als neokolonialistisch diffamiert werden, während sich Russland und China als Länder ohne koloniale Vergangenheit präsentieren.
- Soziale Medien und KI-basierte Anwendungen nutzen Russland und China als zentrales Instrument, um die genannten Narrative im eigenen Land und global zu verbreiten. Künstliche Intelligenz kommt in beiden Ländern nicht nur zum Einsatz, um unerwünschte Geschichtsdeutungen aus dem digitalen Raum im eigenen Land zu entfernen, sondern auch, um eigene Inhalte zu generieren und zu verbreiten.
Autoritäre Staaten und ihnen nahestehende Akteure bringen das globale Engagement westlicher Staaten auch im digitalen Raum verstärkt mit deren kolonialer Vergangenheit in Verbindung. Damit soll dieses Engagement in den Mittelpunkt medialer und gesellschaftlicher Kritik gerückt und ein wertegeleitetes außenpolitisches Engagement diskreditiert werden. Dies trifft beispielsweise auf die Auseinandersetzungen in UN-Organisationen zu. Dort versuchen Staaten wie China und Russland, gemeinsam mit oftmals jungen Mitgliedstaaten, die innenpolitisch häufig selbst noch im Begriff der Aufarbeitung ihres kolonialen Erbes sind, Resolutionen und Berichte zu verhindern, die das eigene Handeln in ein schlechtes Licht rücken.
Das zeigt sich aber auch an orchestrierten Kampagnen gegen die NATO oder gegen einzelne Staaten, die sich für die Ukraine oder auch Israel einsetzen. Jenen Regierungen und Politikern, die eine enge Koordinierung der NATO-Staaten fordern, für eine stärkere militärische Unterstützung der Ukraine eintreten oder sich an anderer Stelle solidarisch an der Seite der Ukraine oder auch Israels zeigen, werden dann „altkoloniale Verhaltensmuster“ vorgeworfen, oder dass sie aus einer Perspektive der „alten Welt“ handeln und dabei die Interessen aufstrebender Staaten und Akteure negieren würden.
Indem sie koloniale Vergangenheiten betonen oder umdeuten, schaffen die autoritären Akteure Anschluss an globale Diskurse über Ungleichheit und historische Schuld, die besonders in Ländern des sogenannten Globalen Südens Nährboden finden. Über soziale Medien – in vielen Gesellschaften bereits wichtigste Informationsquelle – werden gezielt Inhalte verbreitet, die koloniale Erfahrungen mit aktuellen geopolitischen Interessen verknüpfen. So wird der digitale Raum zum Schauplatz machtpolitisch aufgeladener Geschichtspolitik.
Auch in westlichen Gesellschaften gewinnen postkoloniale Narrative zunehmend an Bedeutung – vor allem in Debatten zu Ungleichheit, Rassismus und Erinnerungskultur. Der Trend zum digitalen Informationskonsum verstärkt dabei die Verbreitung und Verfestigung ausgewählter Narrative. Besonders kritisch wird es, wenn algorithmisch geförderte Inhalte oder KI-basierte Sprachmodelle tendenziöse Deutungen unreflektiert reproduzieren und diese in sozialen Medien, Meinungsartikeln oder Videos eine breite Reichweite erzielen. So können sich bestimmte Sichtweisen schnell etablieren und die öffentliche Debatte nachhaltig prägen.
Während postkoloniale Sichtweisen in westlichen Gesellschaften vorwiegend Teil gesellschaftlicher Diskurse sind, werden sie in anderen Kontexten gezielt als Instrument staatlicher Informationspolitik eingesetzt. Dort dienen sie dazu, historische und geopolitische Deutungen zu beeinflussen, den Einfluss im „Globalen Süden“ auszubauen und alternative Narrative zum Westen zu etablieren.
Großmachtdenken und der Einzug großer Narrative
Mit dem Antritt Xi Jinpings als Parteichef 2012 und als Staatspräsident der Volksrepublik (VR) China im Jahr 2013 ging die rhetorische Begleitung eines chinesischen Aufstiegsversprechens einher. Mit dem „Chinesischen Traum“ und dem Versprechen, die „Verwirklichung der Wiederbelebung der chinesischen Nation“ einzuleiten, folgte eine auf allen Klaviaturebenen bespielte Begründung der „neuen Ära“, in der die VR China ins Zentrum der Weltbühne zurückkehren müsse. Mit der „großen Wiederauferstehung der chinesischen Nation“ wird nicht nur der wirtschaftliche Aufstieg Chinas betont, sondern auch der Anspruch formuliert, die durch Fremdherrschaft unterbrochene historische Rolle Chinas als „zivilisatorische Führungsmacht“ wiederherzustellen. Dieses Denken durchzieht die außen- wie innenpolitische Rhetorik der Kommunistischen Partei – und prägt zunehmend Chinas Auftreten auf der internationalen Bühne.
Eine ähnliche Rhetorik verfolgt die russische Propaganda zur Unterstützung von Wladimir Putins Ziel, über die dem ehemaligen russischen Zarenreich zugehörigen Gebiete zu herrschen, die heute Teil der Ukraine sind und die – so die Argumentation – für das russische Gesamtreich und die ihm zugrundeliegende Kultur unverzichtbar seien. Ziele dieser großen Narrative, die auf eine bessere und größere Zukunft der jeweiligen Nation hinwirken wollen, sind die Generierung nationalistischer Gefühle, das Heraufbeschwören des nationalen Zusammenhaltes, aber insbesondere auch die Begründung der Rechtmäßigkeit des Weges, über den die eigenen Ziele erreicht werden sollen: jenseits politischer Teilhabe, insbesondere aber in Abwesenheit jeglicher Kritik und Infragestellung der offiziellen Erzählung.
Diese „Großnarrative“ verfangen in demokratischen Gesellschaften über weitere Teilerzählungen, die den eigenen politischen und wirtschaftlichen Eliten eine Teilschuld am angeblichen Zerfall der politischen Ordnung geben. Dabei geht es um wahrgenommene finanzielle Bürden einer EU-Mitgliedschaft und den Verlust von Steuerungskompetenzen in den EU-Mitgliedstaaten, die „überbordende Migration“ als vermeintliche Ursache der Schieflage vieler Volkswirtschaften im Westen oder auch den Anstieg von Kriminalität und Anschlägen, die die Gesellschaften derzeit aufwühlen.
Postkolonialismus, Große Firewall und Großer Vaterländischer Krieg
China und Russland sind zwei Beispiele, bei denen staatliche Akteure gezielt digitale Plattformen und KI nutzen, um ihre Geschichtsinterpretationen zu verbreiten. Alternative Erklärungsmuster und Perspektiven werden dabei weitgehend zurückgedrängt und finden sich, wenn überhaupt, nur in den im Westen nutzbaren Versionen der sozialen Medien wieder (Tiktok ist ein Tochterunternehmen des chinesischen Unternehmens Bytedance), haben dort aber keine größere Reichweite.
Der Kontrolle über historische Deutungen und der Entwicklung digitaler Technologien kommt hier eine zentrale Rolle zu: Geschichtsbilder werden gezielt eingesetzt, um nach innen die nationale Einheit zu festigen und nach außen die eigene Sichtweise als Grundlage für internationale Zusammenarbeit zu etablieren. Das zeigt sich am Beispiel Chinas etwa in der Betonung eines neu erwachten Nationalstolzes, der aus den technologischen Fortschritten führender chinesischer Unternehmen erwächst – insbesondere dann, wenn deren Erfolge mit der Botschaft verknüpft werden, dass China die jahrhundertelange Vorherrschaft westlicher Mächte nun endgültig hinter sich gelassen habe. So wird der Erfolg des chinesischen Open-Source-Sprachmodells DeepSeek im Januar 2025 häufig als epochales Ereignis beschrieben, das ein „Durchbruch nationalen Schicksals“ sei.
1. China: Kontrolle über das digitale Gedächtnis
China ist ein Paradebeispiel für den Einsatz digitaler Technologien und KI zur Steuerung und Kontrolle historischer Narrative. Das Internet in China wird nicht nur streng überwacht; der digitale Informationsraum ist vielmehr Kern der Öffentlichkeitsarbeit von Staat und Partei. Hier entscheidet sich, ob und wie kohärent eine Message nach innen und außen getragen werden kann. Gerade in den vergangenen Jahren sind in der Erinnerungskultur die Geschichte des chinesischen Kaiserreichs und der darin begründete Eigenweg der chinesischen Zivilisation sowie die Gründung und die Verdienste der Kommunistischen Partei seit den 1920er-Jahren zu Eckpfeilern in der Propagandaarbeit geworden. Das Zurückgreifen auf historische Daten, auf Errungenschaften und Elemente, die rückblickend als Puzzleteil der chinesischen Erfolgsgeschichte interpretiert werden können, und das Zurschaustellen von Chinas Wohlwollen und Interaktion mit der Weltgemeinschaft (zum Beispiel anhand der alten Seidenstraße) werden dabei geschickt mit der politischen Agenda der Regierungsapparate (zum Beispiel mit der Belt and Road Initiative) verknüpft. Insbesondere mit dem „Geist von Bandung“ wird seither immer wieder die gemeinsame Opferrolle Chinas und anderer Staaten durch den westlichen Imperialismus beschworen. Im April 1955 war es Zhou Enlai, dem ersten Premierminister der VR China, auf der Bandung-Konferenz in Indonesien mit der Rhetorik einer „Partnerschaft zur Erlangung postkolonialer Würde“ gelungen, wohlwollend in den Reihen afrikanischer und asiatischer Staatschefs aufgenommen zu werden. Ob bei Gipfeltreffen der BRICS-Staaten oder dem jährlich stattfindenden China-Afrika-Forum – chinesische Vertreter adressieren auch heute die Teilnehmer häufig ganz im Sinne dieses „gemeinsamen Schicksals“.
Die „Große Firewall“, mit der das Internet in China hermetisch vom globalen Netz getrennt wird, ist aus Sicht der chinesischen Regulatoren ein zentrales Instrument der digitalen Zensur. Sie blockiert den Zugang zu Informationen, die nicht den Interpretationen der Partei entsprechen. KI-basierte Algorithmen und maschinelles Lernen werden eingesetzt, um Inhalte in Echtzeit zu überwachen, zu filtern und zu entfernen. Diese Technologien erkennen und löschen gezielt „unerwünschte“ historische Narrative. Ein Beispiel hierfür ist die Zensur des Tiananmen-Massakers von 1989. In China ist der Ausdruck „Tiananmen“ in Verbindung mit den Ereignissen von 1989 stark eingeschränkt und viele Inhalte, die mit den Protesten in Verbindung stehen, werden sofort aus dem Netz entfernt. Algorithmen identifizieren und löschen Beiträge dazu, um eine öffentliche Diskussion und eine Erinnerung an das Massaker zu verhindern. Dabei spielen KI-gestützte Tools eine entscheidende Rolle, indem sie Bilder, Texte und sogar Videos, die das Thema ansprechen, erkennen und aus den digitalen Medien löschen.
Das Instrumentarium in den Händen der staatlichen Propaganda geht jedoch weit über die Zensurmechanismen hinaus. 2017 stellte der Staatsrat einen „Entwicklungsplan für die neue KI-Generation“ vor, in dem die Eckpfeiler für Chinas KI-Führerschaft gesetzt wurden, aber auch festgehalten wurde, dass es eines normativen Gerüstes bedürfe, mit dem ethische Leitlinien und rechtliche Regeln festgelegt werden sollten und dem eine Reihe von sehr spezifischen rechtlichen Anforderungen folgte. Mit dem Voranschreiten generativer KI veröffentlichte das chinesische Ministerium für Industrie und Informationstechnologie dann nationale Richtlinien für Generative KI, in denen technische, industriespezifische und eben auch Sicherheitsstandards festgelegt wurden. In diesem Sinne müssen chinesische KI-Anwendungen garantieren, dass sie im Einklang mit den „sozialistischen Kernwerten“ stehen. Dies umfasst auch „wichtige historische Angelegenheiten“. Ein Beispiel dafür ist die bereits erwähnte Erzählung der „Großen chinesischen Erneuerung“, mit der Chinas Aufstieg als globale Supermacht nach den Jahrhunderten der Demütigung durch den Westen beschrieben wird. Digitale Plattformen und offizielle Medien verbreiten diese Erzählung, die den Fokus auf die Erfolge der Kommunistischen Partei Chinas legen und die Rolle des Staates in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung betonen. Als Antwort auf die Strafzölle, die die US-Administration am „Liberation Day“ gegenüber Handelspartnern weltweit verkündete und die China besonders hart trafen, verbreitete das chinesische Außenministerium beispielsweise im April 2025 ein KI-generiertes Propaganda-Video, das die Überlegenheit Chinas demonstrieren sollte.
2. Russland: Die Wiederbelebung des „Großen Vaterländischen Krieges“
Auch in Russland ist der digitale Raum ein stark kontrolliertes Instrument zur Herausbildung und Verbreitung historischer Narrative. Russland unter Wladimir Putin hat in den vergangenen Jahren besonders auf historische Bausteine gesetzt, um im Land den Nationalismus zu stärken und Russlands geopolitischen Zielen zu dienen. Insbesondere die Erzählung vom „Großen Vaterländischen Krieg“ (Zweiter Weltkrieg) spielt eine zentrale Rolle in der russischen Identitätspolitik.
In Russland wird das Thema des Zweiten Weltkriegs systematisch instrumentalisiert, um den Patriotismus zu stärken und die Rolle der Sowjetunion (Russlands) als Sieger und Retter der Welt zu betonen. Der Krieg wird dabei oft als eine heroische Geschichte von Opfern und Triumphen erzählt, wobei die sowjetische Führung, insbesondere Josef Stalin, als zentraler Akteur glorifiziert wird. Auf digitalen Plattformen werden KI und maschinelles Lernen verwendet, um Inhalte zu generieren, die diese offizielle Darstellung verstärken. Ein konkretes Beispiel ist die jährliche Feier des „Siegestags“ am 9. Mai, bei der Russland die Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg feiert. Auf sozialen Medien und in staatlich geförderten Online-Medien werden Bilder, Videos und Beiträge verbreitet, die die heroische Darstellung der sowjetischen Soldaten und Stalins Herrschaft unterstreichen. Künstliche Intelligenz wird dabei verwendet, um nostalgische Bilder von Siegen und Kriegshelden zu erzeugen, die die Erinnerung an den Krieg emotional aufladen und den Widerstand gegen den „faschistischen Feind“ hervorheben.
Neben der Betonung der sowjetischen Heldentaten wird KI auch eingesetzt, um alternative Erzählungen zu unterdrücken, die Russland und die Sowjetunion in einem negativen Licht darstellen. Historische Fakten, die die Rolle Stalins als Diktator und die damit verbundenen Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung betreffen (beispielsweise der Große Terror oder die Hungersnöte), werden zunehmend aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen. KI-Algorithmen auf sozialen Medien und in Nachrichtenportalen, wie VK (VKontakte), Yandex News und Odnoklassniki, erkennen kritische Inhalte und reduzieren deren Sichtbarkeit oder löschen sie ganz. Darüber hinaus wird in Russland versucht, die Geschichte des Kalten Krieges und die geopolitischen Konflikte des 20. Jahrhunderts so umzuschreiben, dass sie aus einer russischen Perspektive als Rechtfertigung für die aktuelle Außenpolitik genutzt werden können. Künstliche Intelligenz wird dabei eingesetzt, um Inhalte zu erstellen, die den westlichen Einfluss als Bedrohung und den russischen „Widerstand“ als legitim darstellen. Besonders mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wird versucht, den narrativen Rahmen so zu gestalten, dass Russland als Verteidiger seiner Interessen und nicht als Aggressor dargestellt wird.
Regulatorik- und Antwortoptionen im digitalen Raum
Die Nutzung von KI und digitalen Plattformen zur Gestaltung historischer Narrative in China und Russland zeigt, wie sich zwei Ressourcen zur Ausübung von Macht, nämlich die argumentative Hoheit im Diskurs und die Vormachtstellung im technologischen Bereich, zu einem einflussreichen Instrument der politischen Kontrolle herausbilden. Die zunehmende Verflechtung von Künstlicher Intelligenz und historischer Narrativbildung wirft komplexe Fragen nach politischer Einflussnahme, technischer Steuerbarkeit und internationaler Regulierung auf – insbesondere mit Blick auf die Gefahr selektiver Erinnerung und digital gesteuerter Geschichtsdeutung.
Hier findet bereits ein echtes decoupling im Informationsraum statt, das nicht zuletzt durch nebeneinanderstehende und praktisch nicht miteinander zu vereinbarende Konzepte von Souveränität im Informationsraum forciert wird. China wirbt mit dem eigenen Konzept von „digitaler Souveränität“ für das Recht des Staates, das Internet innerhalb seiner eigenen Grenzen autonom zu kontrollieren, zu regulieren und zu gestalten – sowohl in technischer als auch in politischer Hinsicht. Dabei verfolgt China ein Modell, das sich deutlich vom westlich-liberalen Verständnis des offenen und globalen Internets unterscheidet, nicht zuletzt, indem der Zugang zu Informationen im digitalen Raum bewusst verhindert wird. In einer Welt, in der Maschinen dazu in der Lage sind, Inhalte zu generieren und zu filtern, wird es damit für immer mehr Menschen immer schwieriger, zwischen Fakt und Fiktion zu unterscheiden. Die entscheidende Frage bleibt, ob die immer weiter verbreiteten großen Sprachanwendungen (Large Language Models) chinesischer KI-Lösungen auf Basis von Datensätzen aus aller Welt trainiert werden, oder ob sie sich im Sinne einer digitalen Trennung immer weiter von westlichen Anwendungen entfernen und damit zu einer Verfestigung von Meinungen und Interpretationen beitragen werden. Ein erster (vorläufiger) Hinweis ergibt sich aus einer Analyse des DeepSeek-R1-Sprachmodells mit Blick auf die Verwendung propagandistischer Elemente und antiamerikanischer Ressentiments in einer themenübergreifenden Untersuchung, in der festgestellt wird, dass die Narrative auch zwischen Sprachen (chinesische Kurzzeichen, in der VR üblich, chinesische Langzeichen, in Taiwan und Hongkong üblich, und Englisch) unterschiedlich ausfallen.
Im Umgang mit Entscheidungsträgern in Moskau und Peking, aber auch mit Blick auf unsere eigenen Handlungsmöglichkeiten in der Gestaltung und Regulierung von KI bleiben daher die folgenden Punkte besonders wichtig:
- Auch wenn die durch Staaten gepushten „großen Narrative“ in Zielländern nicht unbedingt vollständig in den Gesellschaften verfangen, verstärkt ihre Präsenz in globalen digitalen Plattformen gesellschaftliche Polarisierungstendenzen. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Fähigkeit westlicher Staaten an Bedeutung, solche Einflussversuche einzuordnen. Helfen können die Stärkung nationaler Kapazitäten – etwa durch den Ausbau von Open-Source-Zugängen, die Förderung unabhängiger Forschungsinfrastrukturen oder die bessere Verzahnung von Verwaltung und Zivilgesellschaft in Fragen digitaler Resilienz. Dabei wird deutlich, dass sowohl analoge als auch digitale Räume nicht nur als Orte des Austauschs, sondern auch als Schauplätze strategischer Einflussnahme verstanden werden müssen.
- Obwohl im Bereich der postkolonialen Diskurse vieles dafür spricht, dass die KI-gestützt verbreiteten Narrative durchaus verfangen, besteht Handlungsspielraum, um die langfristigen Auswirkungen zu begrenzen. So bleibt primäres Ziel jener Diskurse häufig, Entscheidungsträger im Ausland kurzfristig zu beeinflussen. Viele Argumente können schnell auf Fehlinformationen zurückgeführt werden und häufig werden sie auch mit dem Ziel verbreitet, von anderen Themen abzulenken. Der autoritäre Charakter der Akteure selbst bietet jedoch auch Angriffsfläche, um die Glaubwürdigkeit ihrer Botschaften zu hinterfragen. Dieses Manko sollte von staatlichen und wissenschaftlichen Institutionen, Verbänden und Nichtregierungsorganisationen in Europa kohärenter adressiert werden. Dazu bedarf es auch einer langfristigen Unterstützung von Projekten, darunter von Sprachwissenschaftlern, die die Narrative aufspüren und über Expertise verfügen, diese in fact sheets und online-basierten Datenbanken zusammenzutragen.
- China und Russland sind sehr aktiv in der Schaffung alternativer Narrative. Das Erzählen von Geschichten ist zu einem entscheidenden Merkmal geworden, um Botschaften zu verbreiten. Beide Länder haben die Tendenz, ihre Narrative auf zwei Arten zu verteidigen: erstens durch die Anpassung der Sprache, die sie auf internationaler Ebene verwenden, etwa durch Begriffe und Konzepte, die auf den ersten Blick mit den liberalen Werten verbunden sind, die die internationale Ordnung prägen. Und zweitens durch Zwangsmaßnahmen, etwa indem sie Druck auf Zielländer ausüben, im eigenen (sprachlichen) Informationsraum dafür zu sorgen, dass Berichterstattung, die jener Russlands und Chinas widerspricht, verhindert wird. Diese Mischung aus strategischer Anpassung und repressivem Vorgehen ist kein Widerspruch, sondern Ausdruck eines gezielten Doppelansatzes, der auf internationale Anschlussfähigkeit bei gleichzeitiger Kontrolle des Informationsraums zielt. Die Koexistenz dieser beiden Mechanismen muss aufseiten der liberalen Demokratien umfassender herausgearbeitet werden.
- Auf europäischer Seite braucht es mehr Aktivitäten, um eine hochwertige Berichterstattung in chinesischer, russischer und anderen Sprachen anzubieten. Nur so lassen sich Widersprüche aufdecken, historische Gegebenheiten einordnen und ergänzen sowie Schwächen im Zusammenhang mit der propagandistischen Agenda aufzeigen. Ähnliche Versuche sollten auch in Gesellschaften mit geringem Zugang zu unabhängiger Medienberichterstattung unternommen werden, wie etwa in Subsahara-Afrika und in Südostasien. Daher sollten wir auch solche Staaten und Gesellschaften als Partner begreifen, die nicht „gleichgesinnt“ sind. Entscheidend für die Bekämpfung der Verbreitung falscher Narrative sind die Gesellschaften, die unter dem Druck autoritärer Regime stehen und denen es an unabhängigen Informationsquellen mangelt.
- China nutzt seine wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Staaten und deren finanzielle Verpflichtungen, fordert von ihnen Loyalität und konnte in den vergangenen Jahren ein hohes Maß an Unterstützung organisieren, insbesondere von Ländern in Lateinamerika und Afrika, aber zunehmend auch in der MENA-Region, dem westlichen Balkan und dem Westpazifik. China hat die Zustimmung der Länder zu seiner eigenen Interpretation seiner „nationalen Interessen“ zum Gegenstand eines jeden Dialogs gemacht. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf das bilaterale wie auch multilaterale Verhalten der entsprechenden Länder und ihrer politischen Eliten. Viele dieser Staaten befinden sich in einem Spannungsverhältnis zwischen wirtschaftlicher Abhängigkeit und politischem Handlungsspielraum. China gelingt es, seinen Einfluss nicht nur durch Investitionen, sondern auch durch die gezielte Aktivierung postkolonialer Narrative auszuweiten. Begriffe wie Souveränität, Entwicklung oder multipolare Ordnung werden dabei bewusst in Kontrast zu westlicher Dominanzgeschichte gesetzt. Die Anschlussfähigkeit dieser Erzählungen speist sich aus historischen Erfahrungen von Fremdherrschaft, Ausbeutung und belehrender Entwicklungsrhetorik – und verleiht Chinas Position in vielen Regionen eine moralische Legitimität, die über bloße Interessenpolitik hinausgeht. In diesem komplexen Spannungsfeld wird deutlich, dass auch deutsche und europäische Akteure diskursfähig sein und in diesem Umfeld Kompetenzen erwerben müssen. Hier bieten aktuelle Dialogansätze, zum Beispiel zum Thema Regionalstudien (in China: „Area Studies“) und der interdisziplinäre Kompetenzaufbau zu Ländern und Regionen wichtige Angebote. Diese gilt es stärker im Curriculum an Hochschulen und in der politischen Landschaft einzubinden.
David Merkle ist Leiter des Auslandsbüros Shanghai der Konrad-Adenauer-Stiftung.
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