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K. M. Krause, Snapshot, Imago
Auslandsinformationen

Russland als Kolonialmacht im Kaukasus

Eine Unterdrückungsgeschichte

Russland inszeniert sich oft als antikoloniale Macht. Warum das absurd, aber dennoch erstaunlich oft erfolgreich ist.

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Auf einen Blick
  • Obwohl Russland seit Anfang des 19. Jahrhunderts in seiner eurasischen Nachbarschaft eine imperiale Politik betreibt, wird es in vielen postkolonialen Diskursen nicht als Kolonialmacht wahrgenommen, was auch an der Verbindung zwischen marxistischen und postkolonialen Theorien liegt.
  • Der Südkaukasus ist ein Beispiel dafür, dass die russische und sowjetische Politik gegenüber kleinen heutigen Nachbarstaaten Strukturmerkmale aufweist, die den Herrschaftsmethoden westeuropäischer Kolonialmächte ähneln: politische Kontrolle, wirtschaftliche Ausbeutung, kulturelle Assimilierung.
  • Während das zaristische Russland seine koloniale Politik auch offen so benannte, versuchte die Sowjetunion, sie hinter Begriffen wie „Solidarität“ und „Fortschritt“ zu verschleiern.
  • Im Gegensatz zu vielen westlichen Diskursen wird Russland im Südkaukasus deutlich als Kolonialmacht benannt. Am stärksten ist dies in Georgien ausgeprägt. In Armenien herrschte lange das Bild von Russland als Schutzmacht vor. Dieses wird aber in jüngerer Zeit zunehmend hinterfragt.
  • Die Perspektive des Südkaukasus sollte in westlichen Postkolonialismus-Debatten stärkere Berücksichtigung finden. Sie kann helfen, die russische Selbstdarstellung als antikoloniale Speerspitze zu widerlegen.
 

Russland als blinder Fleck in der westlichen Kolonialismusdebatte

Es war eine internationale Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung in Nairobi im Jahr 2022, die die georgische Journalistin und Gründerin von Coda-Story, Natalia Antelava, zu Reflexionen über die Frage inspirierte, warum wir dazu neigen, Russland nicht als Kolonialmacht zu sehen. Thema der Konferenz, die Herausgeber und Publizisten aus Afrika mit Journalistinnen aus Osteuropa zusammenbrachte, war die Beobachtung, dass das russische Narrativ, man stelle sich als Erbfolger der Sowjetunion weiterhin dem „neokolonialen Westen“ entgegen, in Afrika einen breiten Resonanzboden besitzt. Antelava beschreibt in einem klugen Essay, wie sie in der sowjetischen Schule in Georgien mit dem Mythos der Sowjetunion als antikolonialer Anwältin der Unterdrückten aufwuchs – eine Ansicht, die später im Studium in den USA bekräftigt wurde. An US-amerikanischen Universitäten wurde Kolonialismus als eine von westlichen Ländern vorwiegend in weit entfernten Überseegebieten ausgeübte Herrschaftsform gelehrt. Russland fehlte in diesem Bild.

Auch die postkoloniale Debatte konzentriert sich auf die Auseinandersetzung mit Machtgefügen, Unterjochung oder kultureller Dominanz westlicher Imperien in Subsahara-Afrika, Lateinamerika, Südostasien, dem Nahen Osten oder Nordafrika. Dass das zaristische Russland und später die Sowjetunion im Kaukasus und in Zentralasien nach ähnlichen Mustern wie Frankreich, die Niederlande oder das britische Empire als Kolonialmacht agierte, wird nur selten diskutiert. Das hat mehrere Gründe: Zunächst positionierte sich die Sowjetunion 70 Jahre lang als marxistisch-leninistischer Gegenpol zum kapitalistischen Westen sowie als selbsternannte Unterstützerin nationaler antikapitalistischer Befreiungsbewegungen (von Angola, Algerien, Eritrea über Kuba und Kolumbien bis nach Korea, Vietnam oder Kambodscha), die diesen Ländern im Kampf gegen den „westlichen Kolonialismus“ beistand. Darauf geht die bis heute bestehende ideologische Affinität von Marxismus und Postkolonialismus zurück. Die von Akademikern wie Frantz Fanon, Kwame Nkrumah oder Samir Amin mitgeprägte Debatte bedient sich (neo)marxistischer Bezugsrahmen in ihrer Kritik am westlichen Kolonialismus. Eine wichtige Rolle spielt dabei Lenins Schrift vom Imperialismus als höchstem Stadium des Kapitalismus, in der beschrieben wird, wie der kapitalistische Westen in der Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg durch (neo)koloniales Verhalten die globalen Ungleichheiten aufrecht zu erhalten versuchte. In dieses Weltbild passt nicht, dass sich die Sowjetunion im Kaukasus oder in Zentralasien selbst als imperiale Macht gebärdete. Eingewandt wird auch, dass die Sowjetunion ethnisch föderal strukturiert und den einzelnen Sowjetrepubliken weitreichende Souveränität gewährt gewesen sei, weshalb eine Charakterisierung als Kolonialmacht nicht greife. Dabei wird ignoriert, dass die föderale Struktur nur nominell war und Souveränität lediglich auf dem Papier existierte. Schließlich ist die Rolle Russlands beziehungsweise der Sowjetunion als Kolonialmacht auch deshalb eine Leerstelle, weil der Begriff der Dekolonialisierung westeuropäisch geprägt ist, wie auch der aktuelle postkoloniale Diskurs, in dem Stimmen aus dem Süden wie auch dem Osten unterrepräsentiert sind. So entsteht eine – wie David Moore es beschreibt – „doppelte Stille“, bei der die postkolonialen Studien im Westen die postsowjetischen Staaten übersehen und die postsowjetischen Wissenschaften selten postkoloniale Ansätze einbeziehen.

Die blinden Flecke in den westlichen postkolonialen Debatten verschaffen dem Regime Putin einen großen Vorteil. Über soziale Medien versorgt die russische Propagandamaschine seit geraumer Zeit bevorzugt linke Kreise in Europa oder Einwanderermilieus in den USA mit der immer gleichen antikolonialen Botschaft, die das narrative Vermächtnis der Sowjetunion lebendig zu halten und für Moskau zu reklamieren sucht. So gelingt es Russland aktuell, sich als antikolonialer Wortführer global zu positionieren. Diese Positionierung gründet jedoch – wie in anderen Bereichen auch – auf Geschichtsklitterung und manipulativer Auslassung. Tatsächlich reicht Russlands eigene Kolonialgeschichte, sehr deutlich im Kaukasus sichtbar, bis Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Und sie ist ein Kontinuum, das sich praktisch ununterbrochen bis in die Gegenwart erstreckt.

Die koloniale Herrschaft Russlands im Kaukasus kennzeichneten Kontrolle, Ausbeutung und Repression.

Annexion und Unterwerfung – die Eroberung des Kaukasus

Die Kolonialisierung des Kaukasus durch das russische Zarenreich ist in dem größeren Zusammenhang des europäischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts zu sehen. Sie verlief im Nord- und Südkaukasus unterschiedlich, zeigt aber offensichtliche Ähnlichkeiten zum Vorgehen westlicher Kolonialmächte wie des britischen Empire oder Frankreichs. Schlüsseldatum ist einerseits 1801, als das Russische Reich unter Zar Alexander I. Kartlien-Kachetien (das heutige Ostgeorgien) annektierte, nachdem es wenige Jahre zuvor dem georgischen Königreich im Vertrag von Georgijewsk territoriale Integrität sowie militärischen Beistand zugesagt hatte. Dieser Vertrag ähnelt den Schutzbriefen, die beispielsweise das Deutsche Kaiserreich mit seinen Kolonien in Afrika schloss. Die zweite wichtige Zeitspanne für die russische Kolonialgeschichte im Kaukasus reicht von 1817 bis 1864, als das Zarenreich in langen, zähen und brutalen Kriegen den Nordkaukasus (vor allem das heutige Tschetschenien und Dagestan) unterwarf. Hier lebten zahlreiche Bergvölker, die ethnisch und kulturell sehr unterschiedlich waren, sich aber in dem halben Jahrhundert russischer Unterjochungsbestrebungen wiederholt in einem antikolonialen Widerstand vereinigten, am wirkungsvollsten unter dem Imam Schamil (1797 bis 1871), der die lokale Autonomie gegen die russischen Invasionstruppen zu verteidigen suchte.

Kennzeichnend für die koloniale Herrschaft Russlands im Kaukasus waren politische Kontrolle, wirtschaftliche Ausbeutung und kulturelle Repression. Lokaler Widerstand wurde mit umfassender Gewalt unterdrückt, die Massendeportationen, Zwangsumsiedlungen und die Vernichtung lokaler Gemeinschaften einschloss. Stellvertretend kann hier die versuchte Auslöschung der Tscherkessen genannt werden, die während der Kriege zu fast 97 Prozent getötet wurden (1 bis 1,5 Millionen Opfer).

Bildung und Kultur, vor allem in Gestalt von systematischer Russifizierung, waren wichtige Elemente der Kolonialisierung des Kaukasus. Lokale Sprachen, einschließlich Georgisch und Armenisch, wurden marginalisiert, flächendeckend russische Schulen eingerichtet. In der Geschichte des 1851 errichteten Opernhauses in Tiflis werden die kolonialen Methoden des russischen Zarenreichs manifest, hier mit den Worten des russischen Statthalters im Südkaukasus, Michail Woronzow: „Ich blicke auf das russische Theater in Tiflis nicht als ein Mittel der Unterhaltung oder des Spaßes, sondern als eine Institution, die gewichtige Ziele verfolgt: die lokale Bevölkerung mit der russischen Sprache und den russischen Gewohnheiten vertraut zu machen und sie schrittweise mit Russland zu verschmelzen.“

Assimilierung oder Russifizierung waren für Russland ein Instrument der Konsolidierung der Macht. Die in Baku geborene Schriftstellerin Olga Grjasnowa beschreibt in ihrem Roman „Der verlorene Sohn“ eindrucksvoll, wie der in den Hochkaukasus zurückgedrängte und von russischen Truppen belagerte Schamil gezwungen wird, seinen Sohn Jamalludin als Pfand während der Verhandlungen an die Russen auszuliefern. Entgegen der Absprachen wird Jamalludin nach Sankt Petersburg gebracht, wo sich der Zar persönlich seiner annimmt, um ihn „zu assimilieren“ mit dem Plan, ihn später als loyalen Statthalter Russlands zurück in den Kaukasus zu schicken. Während der Ausbildung in den zaristischen Eliteschulen lernt Jamalludin Russisch, Französisch, Englisch und Deutsch, seine awarische Muttersprache vergisst er. Schamil gelingt es nach Jahren jedoch, seinen Sohn freizupressen.

Im Gegensatz zum Zarenreich war das sowjetische Russland bemüht, die koloniale Politik in der Region zu verschleiern.

Die Eroberung und Russifizierung des Kaukasus wurden begleitet von der Errichtung einer kolonialen Verwaltung, die nach der Annexion von Kartlien-Kachetien systematisch geplant und installiert wurde. 1828 wandte sich der Diplomat und Dramatiker Alexander Gribojedow mit dem Plan an die zaristische Regierung, „viele Tausende von Bauern aus Zentralrussland in den Kaukasus umzusiedeln, um dort massive Kolonien zu schaffen“. Mit einer an Normen des zaristischen Russlands angepassten Rechtsprechung blieb der Kaukasus bis 1917 unter russischer Militärverwaltung, deren kolonialen Charakter der Zarenhof nicht zu kaschieren versuchte. Die 1896 gegründete Abteilung für Umsiedlung im zaristischen Innenministerium in Sankt Petersburg gab von 1907 bis 1917 eine Zeitschrift mit dem Titel „Voprosy kolonisatsii“ („Probleme der Kolonialisierung“) heraus.

 

Kolonialisierung im kommunistischen Gewand – der sowjetische Kaukasus

Während das russische Zarenreich die Unterwerfung des Kaukasus nicht nur als Kolonialisierung betrieb, sondern auch so benannte, war das sowjetische Russland bemüht, seine koloniale Politik in der Region zu verschleiern, obwohl sie in vielfacher Hinsicht eine faktische Fortsetzung des zaristischen Kolonialismus war. Das ist bedeutsam, denn Wladimir Putin stellt die Russische Föderation des 21. Jahrhunderts in die Tradition der Sowjetunion und weist „koloniale Intentionen“ von sich.

Die sowjetische Rhetorik propagierte Gleichheit, Brüderlichkeit und sozialistischen Internationalismus. Sowjetische Führer traten für das Recht auf Selbstbestimmung der Völker ein und anfänglich, in den 1920er-Jahren, wurden im Rahmen der „Korenisatsija“ (Einwurzelung) tatsächlich Sprachen und Kulturen nichtrussischer Völker gefördert. Diese Politik wurde jedoch in den 1930er-Jahren aufgegeben und im Kaukasus wie in anderen Unionsrepubliken durch die Errichtung stark zentralisierter Verwaltungsstrukturen ersetzt mit dem Ziel, die Gebiete wieder – wie im 19. Jahrhundert – zu assimilieren und zu russifizieren. Dass das Vorgehen der Sowjetunion im Kaukasus der Politik europäischer Kolonialmächte ähnelte, lässt sich an drei Beispielen zeigen:

  1. Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft führte mit der Gründung von Kolchosen und Sowchosen insbesondere in Armenien und Georgien zur Entfremdung und Entwurzelung der ländlichen Bevölkerung und zerstörte traditionelle Lebensformen. Vergleichbare Folgen hatte die Landpolitik, die der Politik westeuropäischer Kolonialmächte ähnelte. In Aserbaidschan traten in der frühen Sowjetunion koloniale Muster von wirtschaftlicher Ausbeutung besonders deutlich zutage. Die Gewinne aus dem immensen Ölreichtum der Republik, die in den 1940er-Jahren mehr als 70 Prozent der gesamten Ölproduktion in der Sowjetunion erbrachte, wurden in Moskau verwaltet, ohne dass aserbaidschanische Kader in Baku Einfluss darauf hatten. Ähnlich verliefen die britische Aneignung indischer Baumwolle oder die Ausbeutung der umfangreichen Kautschukvorkommen im Kongo durch die belgische Kolonialmacht.
  2. Ab den 1930er-Jahren betrieb die Sowjetunion eine Russifizierung ihrer Unionsrepubliken. Russisch wurde im Kaukasus offizielle Sprache in Verwaltung, Bildung und im öffentlichen Leben, für viele turkische Sprachen im Nordkaukasus wurde zudem das kyrillische Alphabet eingeführt. Gute Kenntnisse des Russischen waren die Voraussetzung für sozialen Aufstieg. Die sowjetischen Machthaber gingen somit im Kaukasus ähnlich vor wie die britische Kolonialmacht in Indien oder Frankreich in Algerien und Westafrika, wo lokale Sprachen unterdrückt und Englisch beziehungsweise Französisch die Verkehrssprachen wurden.
Die sowjetische Rhetorik propagierte Gleichheit und Unabhängigkeit.
  1. Auch die sowjetische Unterdrückung lokaler Identitäten und nationaler Bewegungen im Kaukasus verlief nach kolonialen Mustern. Nach dem Augustaufstand von 1924 wurden in Georgien Hunderte von Nationalisten inhaftiert oder hingerichtet. Aserbaidschaner, die sich gegen die sowjetische Herrschaft und für eine Stärkung der aserbaidschanischen Identität einsetzten, wurden festgenommen oder verschwanden. Im Nordkaukasus betrieben die sowjetischen Machthaber die Vernichtung ganzer Völker, was ihnen allerdings nicht gelang: Während der stalinistischen Säuberungen 1937/1938 wurden geschätzt 14.000 Tschetschenen verhaftet oder ermordet und im Winter 1944 im Rahmen der „Operation Lentil“ etwa eine halbe Million Tschetschenen und Inguschen nach Zentralasien deportiert, von denen etwa 300.000 auf dem Weg umkamen.

Zwar propagierte die sowjetische Rhetorik jahrzehntelang Gleichheit und Unabhängigkeit, die tatsächlichen Bedingungen in der „kaukasischen Peripherie“ waren jedoch geprägt von russischer Dominanz, Zwang, Ausbeutung und Vernichtung. Nimmt man der Rhetorik ihr Gewand aus vorgeblicher Solidarität und sozialistischem Fortschritt, bleibt das Vorgehen der Sowjetunion im Kaukasus eine nackte „Manifestation von Kolonialismus“, ähnlich dem der britischen, französischen oder niederländischen Kolonialmächte.

In Armenien ist Abhängigkeit das neokoloniale Instrument Russlands.

Russischer Neokolonialismus im Kaukasus

Androhung und Anwendung von Gewalt, Errichtung neuer oder Wiederherstellung verlorener Abhängigkeiten und „divide et impera“ wurden zu Leitprinzipien russischer Außenpolitik gegen Ende und nach dem Zerfall der Sowjetunion. Bartłomiej Krzysztan beschreibt dies als eine „neokoloniale Politik des Erhaltens von Einfluss durch das Verstetigen von Konflikten und Instabilität“. Im Kaukasus sind die blutige Niederschlagung von Demonstrationen in Baku und Tiflis (1989/1990), die Unterstützung der Abchasen während des Bürgerkrieges in Georgien (1991 bis 1993), die beiden Tschetschenien-Kriege (1994 bis 1996 und 1999 bis 2009) oder der Russisch-Georgische Krieg von 2008 nur einige Beispiele dafür, wie sich koloniale Muster perpetuieren. Umgekehrt warb der erste Präsident der tschetschenischen Republik Itschkerien, Dschochar Dudajew, Anfang der 1990er-Jahre mit antikolonialer Rhetorik für eine nationale Befreiung, was wie ein Echo von Frantz Fanon oder Jean-Paul Sartre und deren Beschreibung des algerischen Widerstandes gegen die französische Kolonialmacht klingt.

In Armenien ist Abhängigkeit das neokoloniale Instrument Russlands: ob über die Einrichtung einer russischen Militärbasis in Gyumri in Nordarmenien, die Stationierung von russischen Grenztruppen auf dem Flughafen in Jerewan und an den Grenzen Armeniens mit der Türkei und dem Iran oder die Aneignung beziehungsweise Kontrolle eines Großteils der armenischen Wirtschaft (Gaspipelines, Minen, Eisenbahnnetz). Dass diesem Vorgehen ein neokoloniales Denken zugrunde liegt, wurde offenkundig, als Duma-Sprecher Boris Gryslow bei einem Besuch in Jerewan 2004 von Armenien als „Vorposten Russlands im Südkaukasus“ sprach.

Der russische Neokolonialismus im Kaukasus ist ein komplexes Phänomen.

Die gleichzeitige Aufrüstung von Armenien und Aserbaidschan über mehr als 20 Jahre oder die Anerkennung der völkerrechtlich zu Georgien gehörenden Gebiete Abchasien und Südossetien durch Russland offenbaren Strategien des Spaltens, die vor allem dazu dienen, Einflusshebel im Kaukasus zu erhalten. Auch die von Russland entwickelten „Integrationsprojekte“ wie die Eurasische Wirtschaftsunion oder die Vereinigung des Vertrages über kollektive Sicherheit sind als Instrumente russischer Dominanz zu verstehen.

Der russische Neokolonialismus im Kaukasus ist ein vielschichtiges Phänomen, das von politischen Machtverhältnissen bis zu mentalen Dispositionen reicht. Für Thornike Gordadze erinnert Russlands Beziehung zu Tschetschenien in den vergangenen 20 Jahren an die russische Kolonialpolitik des 19. Jahrhunderts. Neben starker Militärpräsenz wird die Region von kooptierten Eliten regiert. Was seinerzeit Zar Alexander I. mit dem Sohn Schamils nicht glückte, gelingt Putin heute mit Ramsan Kadyrow. Tigran Amiryan wiederum beschreibt die koloniale Haltung vieler russischer „Relokanten“, die 2022/2023 nach Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine nach Jerewan oder Tiflis übersiedelten. Sie brachten ihre russische Komfortzone mit und meinen, damit die lokalen Gemeinschaften und Kulturen aufzuklären oder zu veredeln. Einem Dialog über die koloniale Politik Russlands oder die „Rekolonialisierung“ der Kulturen im Südkaukasus verweigern sie sich weitestgehend.

 

Kolonialisierungsdiskurse im Südkaukasus

Der beschriebenen „doppelten Stille“ stehen im Südkaukasus Diskurse gegenüber, die die Rolle Russlands als Kolonialmacht thematisieren. Am lebhaftesten ist die Diskussion über die russisch-sowjetische Herrschaft als eine Form kolonialer Unterdrückung in Georgien. Russland habe sich – ähnlich wie westliche Länder – auf einer mission civilisatrice gewähnt, aber vor allem Gewalt, Diskriminierung und Russifizierung gebracht. Bezeichnend ist das 2006 eröffnete „Museum der sowjetischen Besatzung“ in Tiflis, das der Geschichte der nationalen Befreiungsbewegung Georgiens sowie den Opfern der sowjetischen Repressionen gewidmet ist. Der postkoloniale Diskurs in Georgien ist nicht nur akademischer Natur, sondern findet seinen Niederschlag auch in der aktuellen politischen Auseinandersetzung. Bei den Protesten gegen das Agentengesetz (alias „Russian Law“) im Jahr 2024 und später gegen die Aussetzung der europäischen Annäherung war die Forderung „Nieder mit dem russischen Kolonialismus“ sehr prominent vertreten. Zudem trägt der Umstand, dass Russland seit 2008 etwa 20 Prozent des georgischen Territoriums besetzt hält, zu einem ausgeprägten Bewusstsein der Georgierinnen und Georgier bei, in einem postkolonialen Staat zu leben. Nicht in einem rein temporalen Sinn – also als nachkolonial –, sondern als Raum, in dem koloniale Formationen nicht überwunden, sondern überlagert, verschoben und reaktualisiert werden. Der georgische Blick ist dabei durchaus nicht nur auf das eigene Land beschränkt, sondern die russische Kolonialgeschichte wird im Kaukasus auch in einem regionalen Zusammenhang perzipiert: Georgien ist der einzige Staat weltweit, der den Genozid an den Tscherkessen seit 2011 offiziell als solchen anerkennt.

In Armenien befindet man sich bei der Neubewertung der russisch-armenischen Beziehungen erst am Anfang.

In Armenien hingegen dominierte lange Zeit das Narrativ von Russland beziehungsweise der Sowjetunion als „Schutzmacht“ und weniger als Kolonialmacht. Diese Wahrnehmung beruht insbesondere auf der Darstellung Russlands als „Retter“ der armenischen Nation während des Völkermords an den Armeniern 1914/1915. Demnach schuldeten die Armenier Russland nicht nur Dankbarkeit für das Überleben, sondern die Existenz Armeniens wäre ohne Russland auch heute noch bedroht und das Land der Türkei und Aserbaidschan schutzlos ausgeliefert. Erst in jüngerer Zeit, insbesondere seit dem zweiten Bergkarabach-Krieg von 2020, werden die Stimmen lauter, die die kolonialen Strukturen aus der Sowjetzeit als Ursachen heutiger Konflikte benennen und beschreiben, wie die russisch-armenischen Beziehungen in der postsowjetischen Zeit viele Merkmale einer postkolonialen Abhängigkeit aufweisen. Auch in Armenien beginnt man, das 19. Jahrhundert anders zu rezipieren. Ein neues Geschichtsbuch für achte Klassen führte im Jahr 2024 zu diplomatischen Spannungen mit Moskau, da die Eingliederung Armeniens in das Russische Reich im Jahr 1829 erstmals als „Annexion“ bezeichnet wurde. Das russische Außenministerium veröffentlichte daraufhin Auszüge des entsprechenden Kapitels online und versah sie mit „Fake“-Stempeln. Die Bezeichnung „Annexion“ sei „provokativ“, hieß es, und die Eingliederung Armeniens durch Russland habe eine „kolossale Bedeutung für die künftige Wiederherstellung der armenischen Staatlichkeit“ gehabt. Wenige Tage später verkündete das armenische Bildungsministerium, dass der entsprechende Abschnitt des Lehrbuchs überarbeitet worden sei – der Begriff „Annexion“ wurde entfernt. Die aktuellen akademischen wie öffentlichen Diskurse in Armenien zeigen, dass man sich bei der Neubewertung der russisch-armenischen Beziehungen, insbesondere in Bezug auf ihre koloniale Natur, erst am Anfang befindet.

 

Fazit: Diskurshoheit über das neokoloniale Russland gewinnen

Am 15. und 16. Februar 2024 veranstaltete die Regierungspartei „Einiges Russland“ in Moskau ein internationales Forum mit dem Titel „Für die Freiheit der Nationen“, zu dem annähernd 400 Delegierte aus Afrika, Asien, dem Nahen Osten, Lateinamerika und Europa eingeladen waren. Wladimir Putin erklärte in seinem Eröffnungsauftritt: „Unser Land hat viel für die Niederschlagung des kolonialen Systems getan, für die Unterstützung der nationalen Befreiungsbewegungen.“ Eine Woche zuvor war in der armenischen Zeitschrift Hraparak ein Artikel erschienen, in dem es heißt, das Hauptziel des Westens sei es, „die neokoloniale Kontrolle über den Kaukasus und Zentralasien zu erlangen“.

Die Zitate zeigen, dass es Ziel der russischen Propaganda ist, durch Lügen, Desinformationen und Manipulation Zwietracht in den Reihen des Feindes zu säen. Und der Feind ist Europa (geografisch) beziehungsweise die liberalen Demokratien (systemisch). Zwar sind die Methoden klassisch, lediglich potenziert durch die sozialen Medien, aber die EU tut sich schwer damit, angemessen und vor allem effektiv darauf zu reagieren. Projekte wie EUvsDisinfo sind gut (gemeint), aber nicht ausreichend.

Wenn die neue Regierung in Deutschland einen Politikwechsel einleitet, ist beim Thema Postkolonialismus auch ein Diskurswechsel notwendig, vor allem dort, wo die akademische Debatte die politische Entscheidungsfindung mitbeeinflusst. Ein Strategiepapier der Konrad-Adenauer-Stiftung zur Neuausrichtung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit plädiert für ein ausgeprägteres Bewusstsein, dass Versatzstücke aus dem postkolonialen Theorieumfeld „systemischen Rivalen bei dem Versuch in die Hände spielen […], die regelbasierte Weltordnung zu delegitimieren und antiwestliche Stimmungen zu erzeugen“. Dieses Plädoyer ist auch ein Appell, Russland historisch als Kolonialmacht zu markieren und in seiner gegenwärtigen neokolonialen Politik zu demaskieren. Von den Debatten im Südkaukasus können wir dabei viel lernen. Der Blick aus Armenien oder Georgien auf Russland als jahrhundertelanger, unmittelbarer Nachbar ist klarer, schärfer und im wörtlichen Sinne unverstellt. Es lohnt sich für den Westen, genau hinzuschauen und zuzuhören. Gemeinsam sollten wir anstreben, in der Postkolonialismusdebatte die russischen Narrative wirksamer zu widerlegen und die Deutungshoheit zu gewinnen.

 


 

Stephan Malerius ist Leiter der Abteilung EU-Projekte der Konrad-Adenauer-Stiftung. Bis April 2025 war er Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Tiflis.

 

Florian Binder ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Regionalprogramm Politischer Dialog Südkaukasus.

 


 

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