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Günter Gueffroy/dpa - Report

Essay

Die deutsche Wiedervereinigung und das Ende des Kalten Krieges

von George-Henri Soutou, Paris

Der erfolgreiche Ausgang der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung verdankte sich maßgeblich der engen Zusammenarbeit zwischen dem amerikanischen Präsidenten George H.W. Bush und Bundeskanzler Helmut Kohl.

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Im Zeitraum zwischen Sommer 1989 und Herbst 1990 endete unvermittelt innerhalb weniger Monate der Kalte Krieg, und Deutschland wurde wiedervereinigt. Beide Ereignisse sind untrennbar miteinander verbunden. Es gab meiner Auffassung nach zwei Gründe für diese Entwicklung: einerseits die westliche, genauer gesagt die amerikanische und deutsche Politik, die sich während dieser Schlussphase sehr geschickt und mit einer klaren Vorstellung der zu erreichenden Ziele vor dem Hintergrund des unterschwelligen Ost-West-Konflikts bewegte, der sich hinter den wechselseitig ausgetauschten liebenswürdigen Zusicherungen verbarg, und andererseits die Politik Gorbatschows. Die Ereignisse der Jahre 1989–1990 in Ost- und Mitteleuropa zeigen gleichzeitig die Zweideutigkeit und die Realität der von Moskau seit dem Sommer 1988 eingeschlagenen Richtung, dem sogenannten „Neuen Denken“. Anfangs wurde der Liberalisierungsprozess von Moskau kontrolliert und war durchaus gewollt. Die Reise Gorbatschows im Oktober 1989 nach Ost-Berlin, wo er Honecker öffentlich fallen liess, ist äußerst aufschlussreich. Er hatte schon im Juli 1988 Polen besucht, woraufhin im April 1989 das Abkommen zwischen der polnischen Regierung und Solidarność geschlossen wurde, das zu den Wahlen im Juni 1989 führte. Diese reale Liberalisierung war jedoch keineswegs frei von Hintergedanken: im Sommer 1989 war Moskau weit davon entfernt, seinen Einfluss in Osteuropa und der DDR aufzugeben; man wollte diesen Einfluss lediglich in einer Weise ausüben, die für die lokale Bevölkerung und für den Westen erträglicher schien.[1]

 

Moskaus Strategie und das Ende des Kommunismus in Osteuropa

Von 1988 an war die sowjetische Strategie eindeutig von einer Neufokussierung auf Europa und dem Ausstieg aus kostenintensiven Auseinandersetzungen − von Afghanistan bis Afrika − gekennzeichnet. Indem die seit den 1970er Jahren ständig wachsenden Spannungen abgebaut wurden, sollte eine Annäherung an den Westen ermöglicht werden, damit die UdSSR Zugang zur Weltwirtschaftsgemeinschaft erhielt (z.B. zum Internationalen Währungsfonds). Auf diese Weise sollten die für die Modernisierung des sowjetischen Wirtschaftssystems notwendigen Mittel beschafft werden. Aber die Hintergedanken – auch die ideologischen – waren immer noch präsent, wie man in Osteuropa sehen konnte, und ebenso das stets von Gorbatschow bemühte Bild vom „gemeinsamen europäischen Haus“.

Im Westen, aber auch im Osten, galt das Hauptaugenmerk seit den ersten Monaten des Jahres 1989 Osteuropa, mehr noch als der DDR. In fast allen FäIlen ging der erste Impuls für die Liberalisierung in Osteuropa von Moskau aus. Das ursprüngliche Ziel für die UDSSR war jedoch nicht eine tatsächliche Liberalisierung, sondern die scheinbare Ersetzung des Kommunismus durch einen reformierten „demokratischen Sozialismus“, wobei im Wesentlichen die alte Nomenklatura und die inneren Machtstrukturen (und die Bindungen an Moskau) beibehalten werden sollten, wenn auch in einem vermeintlich für die Bevölkerung akzeptableren Rahmen. Der „demokratische Sozialismus“ wiederum sollte eine europaweite Anziehung ausüben, um so einerseits in Osteuropa die Wahrung des Wesentlichen zu ermöglichen, andererseits aber in Westeuropa stärkeren Einfluss auszuüben, und zwar durch eine Annäherung zwischen reformierten Kommunisten und Sozialdemokraten sowie durch ein neues Sicherheitssystem für Europa, das „gemeinsame Haus“.[1]

 

Die Ereignisse in Ostdeutschland im Sommer und Herbst 1989

Im Sommer 1989 verstärkten sich die Krise und die Unruhen, die sich schon seit 1987 in der DDR entwickelt hatten. Bereits im Juli und August strömten die Menschen aus der DDR in Richtung Volksdemokratien, insbesondere nach Ungarn, um von dort aus in die Bundesrepublik zu gelangen; am 11. September genehmigte Budapest den Übergang der Menschen nach Österreich und somit weiter in die Bundesrepublik, obgleich sie kein Visum der Ost-Berliner Behörden besaßen. Dieser Entscheidung folgten später die Tschechoslowakei und Polen; wodurch die DDR sich letztlich gezwungen sah, selbst ihre Grenzen zu öffnen und somit zu ihrer Destabilisierung beizutragen.

Der 11. September 1989 war in der Tat ein bedeutsames Datum; Budapest, das sich mitten in einer Wirtschaftskrise befand und sich um westliche Kredite bemühte, musste offensichtlich ein liberales Gesicht zeigen und konnte sich nicht erlauben, Tausende von Ost-Deutschen, die sich in die Botschaft der Bundesrepublik in Budapest geflüchtet hatten und deren Schicksal die westliche Öffentlichkeit bewegte, im Stich zu lassen. Kurz zuvor, am 25. August, hatte Helmut Kohl den ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh und Außenminister Gyula Horn empfangen. Bundeskanzler Kohl sagte der reformorientierten Regierung in Budapest jede mögliche wirtschaftliche und politische Hilfe zu; somit sahen sich die Ungarn bei der Bundesrepublik in der Pflicht. Die Entscheidung vom 11. September kann als logische Konsequenz des Besuchs der ungarischen Regierungsmitglieder vom 25. August betrachtet werden. Die Ausstrahlung der Bundesrepublik und ihre wirtschaftliche Kraft sowie ihr politisches Gewicht in der westlichen Welt waren eindeutig ein entscheidender Faktor für die Länder Osteuropas.[2]

Es ist bekannt, dass die Ungarn starkem Druck seitens der anderen osteuropäischen Länder ausgesetzt waren, die Ausreise der Geflüchteten in die Bundesrepublik nicht zuzulassen. Aber was sagte eigentlich Moskau dazu? Anscheinend betrachtete man die Dinge mit großer Ruhe und verstand nicht, dass ein Prozess im Gange war, der für Ost-Berlin schnell aus dem Ruder laufen sollte. Im Rahmen des Gesamtprogramms des „Neuen Denkens“ für Osteuropa reiste Gorbatschow am 7. Oktober nach Ost-Berlin; dort rief er zum Wandel auf und kritisierte diejenigen, die „am Straßenrand der Geschichte stehen bleiben“ wollten. Dies war für Erich Honecker das Signal zu seinem Rücktritt, der seit 1988 bereits hinter den Kulissen in Übereinstimmung mit den Reformkräften innerhalb der SED vorbereitet worden war, um die Führungsgruppe abzulösen und den „Liberalisierungsplan“ umzusetzen. Am 18. Oktober löste Egon Krenz Honecker ab, während die landesweiten Demonstrationen der Opposition weiter zunahmen.

Am Abend des 9. November kam dann die Maueröffnung – allerdings als improvisierte Aktion: zunächst ging es nur darum, den Übergang in den Westen zu ermöglichen, nicht darum, die Mauer oder die Kontrollen abzuschaffen. Der Grundgedanke war immer noch (sehr im Sinne des „Neuen Denkens“), dass die Menschen, wenn sie einmal die Genehmigung erhalten hatten, sich im Westen aufzuhalten und danach wieder in ihr Zuhause zurückkehrten, keine Lust mehr hätten, die DDR endgültig zu verlassen. Aber noch am gleichen Abend verwandelte sich die Maueröffnung – wie das in Berlin eben so ist – in ein gigantisches Happening. Es gab keinerlei Kontrollen mehr, die Grenzsoldaten waren völlig überfordert: vom 9. November an war die Souveränität der DDR praktisch aufgelöst. Alles explodierte: der Prozess drohte, Moskau zu entgleiten. Dort gab es offensichtlich Divergenzen zwischen den Hardlinern, die intervenieren wollten, und Gorbatschow, der schon ein Jahr zuvor entschieden hatte, dass die Zeit der „brüderlichen“ Interventionen vorüber war.[3]  In den westlichen Ländern begannen die Menschen zu verstehen, dass etwas Gewaltiges im Gange war; manchmal verstanden sie es schneller als ihre politische Führung.

Trotzdem versuchten Moskau und Ost-Berlin während der darauffolgenden Wochen noch, die Situation aufzufangen. Am 17. November kündigte Hans Modrow, der von Moskau seit 1988 geförderte neue Vorsitzende des Ministerrates, ein Programm an, dessen eindeutiges Ziel es war, die DDR zu retten und durch die Liberalisierung von der Bundesrepublik getrennt zu halten. Im Grundsatz sollten zwei deutsche Staaten bestehen bleiben, um das Gleichgewicht in Europa zu bewahren und den vorgeblichen Antifaschismus der DDR als Garantie gegen ein Wiederauferstehen des deutschen Expansionsdrangs einzusetzen; die beiden Staaten sollten enge Beziehungen pflegen, was wiederum die Bindung der Bundesrepublik an das Atlantische Bündnis neutralisieren und die Einflussnahme auf die Bundesrepublik sichern sollte.

Diese Strategie wurde bis zu den ersten freien Volkskammerwahlen im März 1990 verfolgt, aus denen die Gruppierungen, die sich für eine sofortige Wiedervereinigung aussprachen, als klare Sieger hervorgingen. Sie war jedoch nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen, da viele davon ausgegangen waren, dass die Verfechter der Beibehaltung eines eigenen – wenn auch veränderten – ostdeutschen Staates den Sieg davon tragen würden. Dies war vor allem der Wunsch der italienischen und französischen politischen Führungen gewesen.[4] Aber diese ideologischen Träume erwiesen sich schon Ende 1989 als unhaltbar, vor allem, nachdem Kohl am 19. Dezember in Dresden – der Stadt, von der die Herbstdemonstrationen ausgegangen waren – seinen triumphalen Auftritt hatte.

 

Kohls Strategie und das Rückzugsgefecht Moskaus

Bundeskanzler Kohl reagierte mit viel Geschick und Entschlossenheit auf die Ereignisse. Der offizielle Diskurs in Bonn war damals sehr vorsichtig: man sprach nicht von Wiedervereinigung, sondern stellte notwendige Reformen in der DDR in den Vordergrund. Jedoch wusste man in Bonn seit Monaten, dass das ost-deutsche Regime am Ende war. Seit Beginn des Sommers war die Entwicklung in Polen und in Ungarn unaufhaltsam; die entschlossene Strategie von Präsident George H. W. Bush war bekannt, man konnte sich seiner Unterstützung also sicher sein.

Gegenüber Gorbatschow betonte Kohl, dass die Bundesrepublik keinerlei Absichten hege, die DDR zu destabilisieren, sondern lediglich wünsche, dass diese Gorbatschows Reformen umsetze.[5] Gleichzeitig machte Kohl Druck, sobald die Mauer gefallen war, und brachte gegenüber Sowjets wie Amerikanern in nicht öffentlichen Gesprächen, aber auch öffentlich im Deutschen Bundestag, zum Ausdruck, dass die Bundesrepublik sich nicht mit der Freizügigkeit für die Menschen aus der DDR  zufrieden geben würde: freie Wahlen, freie Parteien, eine freie Presse und freie Gewerkschaften mussten zugesichert werden.[6]

Am 28. November gab Kohl seinen berühmten „Zehn-Punkte-Plan“ bekannt. Zunächst sollten die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und einer demokratisierten DDR aufgebaut werden; dann sollten „konföderale Strukturen“ zwischen beiden Staaten geschaffen werden; das Ganze sollte in ein europäisches Sicherheitssystem auf der Grundlage der KSZE eingebettet sein; die Wiedervereinigung als solche – Gegenstand des zehnten und letzten Punkts des Plans – war erst am Ende des Prozesses vorgesehen. Die Herangehensweise war vorsichtig; gleichwohl war die Wiedervereinigung das Ziel.

Die Politik des Kanzlers war also klar; aber die Situation war es nicht unbedingt. Bush unterstützte Kohl und hatte sich öffentlich für die Wiedervereinigung ausgesprochen. François Mitterrand und vor allem Margaret Thatcher hingegen waren eher zurückhaltend.[7] Aber der Rahmen der folgenden Monate war schon von Dezember an abgesteckt. Die westeuropäischen Staaten waren entweder gegen die Wiedervereinigung, wie Großbritannien, oder sehr zurückhaltend, wie Frankreich, oder besorgt hinsichtlich einer neuen europäischen Sicherheitsordnung, wie Italien. Die UdSSR sollte Stück für Stück den Rückzug antreten, indem sie zunächst eine einfache Konföderation zwischen den beiden deutschen Staaten propagierte, dann versuchte, die Wiedervereinigung zum Preis des Austritts der Bundesrepublik aus der NATO zu verhandeln und ein neues europäisches Sicherheitssystem im Sinne des „gemeinsamen Hauses“ zu schaffen; für dieses Konzept fand sie übrigens die Unterstützung Frankreichs (wie das Treffen zwischen Mitterand und Gorbatschow am 6. Dezember in Kiew zeigte).[8] In der Bundesrepublik selbst war 1989 die Auffassung sehr verbreitet, dass man für die Wiedervereinigung notfalls den Preis des Austritts aus der NATO zahlen müsse. Gewisse sozialdemokratische Kreise in Europa hatten schon die Vision einer neuen europäischen Ordnung auf der Grundlage der Versöhnung der sozialistischen und kommunistischen Parteien des gesamten Kontinents.[9] Für Präsident Bush jedoch, der von Anfang an die Wiedervereinigung unterstützt hatte, war der Verbleib des wiedervereinigten Deutschland in der NATO unabdingbar; er hatte natürlich verstanden, dass Moskau nach wie vor den Hintergedanken hegte, dass sich die Vereinigten Staaten im Zuge des gerade stattfindenden Umbruchs aus Europa zurückziehen würden.

Kohl, der nur von Bush uneingeschränkte Unterstützung erfuhr, bemühte sich, die Wiedervereinigung zum Erfolg zu führen, ohne die Zugehörigkeit der Bundesrepublik zur NATO und zur EWG zu gefährden, wobei er aber trotzdem die für die Sowjets notwendigen Zugeständnisse machte. Das Jahr 1990 sollte dramatisch werden.

 

Bushs Antwort und das Gipfeltreffen in Malta (Dezember 1989)

Bush war sich all dessen bewusst, was seine Reaktion auf die Ereignisse erklärt.[10] Die amerikanische Regierung war beunruhigt; sie war der Auffassung, dass Gorbatschows innere Reformen sich schlecht entwickelten und auf eine Krise hinauslaufen könnten, aufgrund derer er gezwungen sein könnte, zurückzutreten – eine unerfreuliche Perspektive. Gleichzeitig verfolgte man genau die Krise in Deutschland. Sie konnte sich für Gorbatschow destabilisierend auswirken, und Bush war entschlossen, äußerste Vorsicht walten zu lassen.

Angesichts dieser Situation beschlossen die Amerikaner, während des Gipfeltreffens in Malta am 2. und 3. Dezember 1989 Gorbatschow in Aussicht zu stellen, dass die Beziehungen zwischen beiden Ländern eine positive und vorteilhafte Entwicklung nehmen könnten, beispielsweise im Hinblick auf den Erfolg der laufenden Reformen in der UdSSR, und zu einer weitreichenden Zusammenarbeit führen könnten. Washington war bereit, endlich die Meistbegünstigungsklausel anzuwenden und einen Handelsvertrag abzuschließen, was für die sowjetische Wirtschaft einem enormen Sauerstoffstoß gleichkam. Was Deutschland anbetraf, so ließ Bush ganz offen wissen, dass die Vereinigten Staaten die Wiedervereinigung unterstützten, aber er versprach, dass alle – auch Kohl – behutsam vorgehen und nicht versuchen würden, die Destabilisierung zu fördern.

Dies war der Auslöser für eine echte Umkehr in der von der UdSSR seit 1945 verfolgten Politik; in Malta trat Gorbatschow tatsächlich als Befürworter der weiteren Präsenz amerikanischer Truppen in Europa auf. Moskau hatte verstanden, dass es angesichts der explosiven Entwicklung der Situation mehr in seinem Interesse lag, die amerikanische Präsenz in Europa zu fördern, als die Amerikaner hinauszuwerfen. Man könnte also sagen, dass der Kalte Krieg praktisch mit dem Gipfeltreffen in Malta zu Ende ging. Von diesem Augenblick an, und mit der Sicherheit der politischen und wirtschaftlichen Unterstützung Amerikas – so denn das „Neue Denken“ wirklich umgesetzt und mit Inhalt gefüllt wurde – konnte Gorbatschow seine Haltung zur deutschen Frage verändern, wie wir noch sehen werden, und Anfang 1990 entscheidende innere Reformen im Sinne der Liberalisierung und des Pluralismus angehen (im Februar wurde der Artikel 6 der Verfassung zur Führungsrolle der Partei gestrichen; am 15. März wurde für Gorbatschow die Funktion des Präsidenten der UdSSR unabhängig von der Partei geschaffen). In der Folgezeit entwickelte sich eine sehr enge amerikanisch-sowjetische Beziehung, genauer gesagt, zwischen der Bush-Administration und dem Team um Gorbatschow, nachzulesen in den Memoiren des damaligen amerikanischen Botschafters in Moskau, Jack Matlock (Autopsy on an Empire).

Trotz der zentralen Bedeutung des Gipfels von Malta waren noch zahlreiche Probleme ungelöst, wie z.B. die Deutsche Frage. Beim Treffen zwischen Kohl und Bush in Brüssel am Abend des 2. Dezember kam es zu einer Regelung: Washington gab grünes Licht für die Wiedervereinigung. Kohl verpflichtete sich im Gegenzug, die Zugehörigkeit Deutschlands zur NATO und zur EWG nicht in Frage stellen zu lassen, mit Gorbatschow zu verhandeln, um ihm Sicherheit zu geben, den anderen Europäern Rechnung zu tragen und umsichtig vorzugehen. Am folgenden Tag ließ Bush während einer Sitzung des Nordatlantikrates in Brüssel diese Politik von den Alliierten absegnen (die meisten von ihnen waren anfangs allerdings wenig begeistert). Die Amerikaner hatten in dieser Sache in Wirklichkeit auch ihre eigenen Interessen verfolgt, die in diesem Fall mit denen der Deutschen konvergierten. Während der gesamten Krise hatten sie nachdrücklich darauf bestanden, dass sie „eine europäische Macht waren und blieben“ und dass sie nicht gewillt waren, sich bei der Neu-Organisation des Kontinents hinausdrängen zu lassen.[11] Das war die wichtigste Maßgabe für das Ende des Kalten Krieges.

 

Januar–Februar 1990: Die Wende in der Sowjetunion

Am Anfang des Jahres 1990 gingen die Meinungen zur Deutschen Frage innerhalb der sowjetischen Führung noch stark auseinander. Man konnte sich jedoch auf einen Kompromiss einigen: man wollte sich prioritär nach Bonn ausrichten, ohne dabei die DDR zu vernachlässigen. Vor allem aber forderte man die Bildung einer Sechsergruppe, mit den vier Mächten des Potsdamer Abkommens von 1945 und den beiden deutschen Staaten; innerhalb dieses Rahmens sollte die Wiedervereinigung verhandelt werden.[12] Diese Vorstellung beinhaltete offensichtlich zwei Ziele: einerseits wollte man aus dem doppelten Tête-à-tête mit Bonn und Washington herauskommen und sich in den Endverhandlungen auf Frankreich und Großbritannien stützen können, die beide hinsichtlich der Wiedervereinigung sehr zurückhaltend waren; auf diese Weise stünden innerhalb der Sechsergruppe vier gegen zwei. Andererseits sollte durch den Bezug auf Potsdam die Souveränität des wiedervereinigten Deutschlands eingeschränkt werden.

Am 10. Februar reiste Kohl nach Moskau. Er bestand auf der  Unumgänglichkeit einer schnellen Wiedervereinigung angesichts des Zusammenbruchs des DDR-Regimes und der Implosion von Gesellschaft und Wirtschaft der DDR, die völlig ausgeblutet war, nachdem Hunderttausende in den Westen gegangen waren. Kohl stellte auch klar, dass es nicht in Frage komme, das wiedervereinigte Deutschland zu neutralisieren, dass es jedoch möglich sei, die NATO nicht auf die frühere DDR auszudehnen. Gorbatschow akzeptierte ausdrücklich die Wiedervereinigung, und zwar wann und in welcher Form die Deutschen dies wünschten. Dies war das Ende der ersten Phase der Krise und der sowjetischen Verzögerungsmanöver, im Rahmen derer beispielsweise eine einfache Konföderation zwischen den beiden deutschen Staaten angedacht worden war.

Moskau versuchte fortan im Wesentlichen, das wiedervereinigte Deutschland vom Verbleib in der NATO abzuhalten. Aber auch die „Sicherheit in Europa“ war den Sowjets wichtig; sie bemühten sich, Strukturen einzuführen, mithilfe derer sie retten wollten, was vom Plan des gemeinsamen Hauses noch zu retten war, um die − angesichts des Zusammenbruchs der DDR und des Scheiterns des ursprünglichen Plans vom reformierten Kommunismus − unvermeidliche Wiedervereinigung in eigene Vorteile umzuwandeln.

Gorbatschow hatte also noch Karten im Spiel. Am 7. März erklärte er im deutschen Fernsehen, es komme nicht in Frage, dass das wiedervereinigte Deutschland der NATO angehöre. Aber Washington war wachsam. Die amerikanische Strategie bestand darin, Moskau dazu zu bringen, die Wiedervereinigung Deutschlands sowie seine volle Zugehörigkeit zur NATO einfach zu akzeptieren, gleichzeitig aber den Russen ein umfassendes Angebot für die Umstrukturierung der europäischen Sicherheit zu machen. In diesem Geiste schlug Bush in seiner Rede zur Lage der Union Ende Januar 1990 vor, die amerikanischen und sowjetischen Kräfte in Europa auf 195.000 Mann zu begrenzen; der somit unvermeidliche Rückzug der Sowjets sollte also von einem Teilrückzug der Amerikaner begleitet werden.

Mit der nachdrücklichen Unterstützung und Begleitung Bushs und mit der Sicherheit seines Abkommens vom 10. Februar mit Gorbatschow beschloss Kohl, die Dinge zu beschleunigen. Er schmiedete spontan ein Wahlbündnis in der DDR, das die Wahlen vom 18. März haushoch gewann (die PDS als Nachfolgepartei der SED erhielt nur 15 Prozent der Stimmen).

 

Das deutsch-sowjetische Abkommen

Nachdem er die wichtigsten Angelegenheiten mit Ost-Berlin geregelt hatte, verhandelte Kohl von nun an – mit Unterstützung Bushs – aus einer Position der Stärke heraus mit den Sowjets. Allerdings machte er auch genügend Zugeständnisse, damit Gorbatschow gegenüber seiner inländischen Opposition das Gesicht wahren konnte. Im Gegenzug zur Wiedervereinigung und zum Verbleib der Bundesrepublik in der NATO schlug Bonn vor, die KSZE zu institutionalisieren, eine Begrenzung der deutschen Streitkräfte zu akzeptieren, den Status der Bundesrepublik als Nicht-Atommacht beizubehalten, den Verbleib der sowjetischen Truppen im Osten nach der Wiedervereinigung für eine Übergangszeit zu tolerieren, der UdSSR Kredite zu gewähren und einen bilateralen Vertrag abzuschließen. Dafür sollte die Bundesrepublik vom Zeitpunkt der Wiedervereinigung an völlig souverän sein (ohne dauerhafte Kontrolle durch die Vier Mächte) und weiterhin der NATO angehören – einer NATO, die ein integriertes militärisches Bündnis blieb. Dies war der wesentliche Unterschied zur sowjetischen Position: Kohl wies jegliche, selbst unterschwellige, Singularisierung und somit jede „indirekte Neutralisierung“ Deutschlands zurück.

Mitte Juli besuchte Kohl die UdSSR. Und die Sowjets machten zwei große Zugeständnisse: das wiedervereinigte Deutschland sollte sofort die vollständige Souveränität erhalten und uneingeschränkt Mitglied der NATO unter ihrer integrierten Führung bleiben. Als Gegenleistung sollte Bonn eine Begrenzung der Bundeswehr akzeptieren; man einigte sich letztendlich auf die Zahl von 370.000 Mann; außerdem sollte die Bundesrepublik ihren Verzicht auf ABC-Waffen erneuern. Kohl war hocherfreut, nahm diese Regelungen an und erklärte, die UdSSR sei fortan der erste Partner Deutschlands im Osten. Es wurde auch über den Entwurf eines bilateralen Vertrages gesprochen, der, wie man heute weiß, eine wesentliche Rolle spielte, damit Gorbatschow den Vertrag akzeptierte.[13]

 

Die Wiedervereinigung und das Ende des Ost-West-Konflikts

Am 12. September 1990 wurde der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ unterzeichnet, der Deutschland auf der rechtlichen Grundlage des Potdamer Abkommens wiedervereinigte. Die deutsche Souveränität wurde ohne jede Einschränkung vollständig wieder hergestellt. Damit endeten unmittelbar die Vorbehaltsrechte der Vier Mächte, trotz sowjetischer Versuche, eine gewisse Kontrolle aufrechtzuerhalten.

Der Herbst 1990 brachte den Höhepunkt des Entspannungsprozesses und das tatsächliche Ende des Kalten Krieges: die Pariser Konferenz institutionalisierte die KSZE (mit einer „Europäischen Charta“, die für die UdSSR – ein Staat, der seit Anfang des Jahres grundlegende Reformen anging und auf dem Weg zu Pluralismus und Meinungsfreiheit war – ein Demokratiesiegel darstellte). Die Konferenz verabschiedete außerdem eine umfangreiche konventionelle Abrüstung in Europa (festgeschrieben durch den CFE-Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa): nur 195.000 sowjetische und amerikanische Soldaten sollten in Mitteleuropa bleiben, und die Ausrüstung der jeweiligen Streitkräfte sollte deutlich reduziert werden.

François Mitterrand hatte seit den März-Wahlen 1990 in der DDR seinen Widerstand gegen die Wiedervereinigung aufgegeben. In einem Punkt immerhin war er sich mit Bundeskanzler Kohl einig: um jegliches Abdriften oder Beunruhigung auf Seiten der Partner zu vermeiden, musste der europäische Prozess wieder in Gang gesetzt werden. Die Verhandlungen begannen schon im März 1990 und endeten 1992 mit dem Maastrichter Vertrag und der Gründung der Europäischen Union.

Auch wenn die weitere Entwicklung weniger positiv war als man 1990 erhofft hatte – vom Auseinanderbrechen Jugoslawiens, den Wirren in der UdSSR und anschließend in Russland bis zu den Krisen im Kaukasus, auf der Krim und in der Ukraine – stehen wir doch immer noch auf den 1990 neu festgelegten Grundlagen.

 

[1] Georges-Henri Soutou, La Guerre froide 1943–1990, Pluriel, 2011.

[2] Vyacheslav Dashichev, “On the Road to German Reunification: The View From Moscow", in Gabriel Gorodestky, ed., Soviet Foreign Policy 1917–1991, S. 173.

[3] Deutsche Einheit. Dokumente zur Deutschlandpolitik, München, Oldenburg, 1998, Dok. Nr. 28, 29, 40, 41. Cf. die ausgezeichneten Bücher von Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland, C. H. Beck, 2009, und von  Helmut Altrichter, Russland 1989. Der Untergang des Sowjetischen Imperiums, C. H. Beck, 2009.

[4] Valentin Falin, Politische Erinnerungen, München, Droemer Knaur, 1993, S. 487-488.

[5] Georges-Henri Soutou, La guerre froide de la France 1941–1990, Tallandier, 2018,Kapitel XIII.

[6] Telefongespräch mit Gorbatschow am 11. Oktober, Deutsche Einheit. Dokumente zur Deutschlandpolitik, Dok. Nr. 60.

[7] Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter am 13. November im Kanzleramt, Telefongespräch Bush-Kohl am 17. November, ebd., Dok. Nr. 90 und 93.

[8] Ebd., Nr. 102. Zur Haltung von Margaret Thatcher cf. Margaret Thatcher, 10 Downing Street, Albin Michel, 1993. Zur Haltung von François Mitterrand, cf. Georges-Henri Soutou, La Guerre froide de la France.

[9] Ebd.

[10] Vladimir Boukovsky, Jugement à Moscou, Paris, Robert Laffont, 1995, S. 504–505.

[11] George Bush und Brent Scowcroft, A World Transformed, New-York, Alfred A. Knopf, 1998; Robert L. Hutchings, American Diplomacy and the End of the Cold War, Baltimore, The Johns Hopkins University Press, 1997; Philip Zelikow und Condoleezza Rice, Germany Unified and Europe Transformed, Harvard UP, 1995; James A. Baker, Thomas M. Defrank, The Politics of Diplomacy. Revolution, War and Peace 1989–1992, G. P. Putnam's Sons, New-York, 1995.

[12] Zelikow-Rice, S. 169–170.

[13] Cf. Anatolii Cherniaev, "Gorbatchev and the Reunification of Germany: Personal Recollections", in Gabriel Gorodestky, ed., Soviet Foreign Policy 1917–1991, The Cummings Center Series, 1994, S. 166.

[14] Mikhaïl Gorbatschow, Avant-mémoires, Odile Jacob, 1993, S. 148–149, 152–153, 160.

 

Georges-Henri Soutou, Mitglied des Institut de France, Emeritierter Professor der Universität Sorbonne

 

Aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Graf-Bunz.

 

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16. März 2022
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