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Länderberichte

100 Tage neue Regierung im Irak

von Lucas Lamberty, Nele Eing

Ein Balanceakt

In den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit konnte der neue irakische Ministerpräsident Mohammed Shia al-Sudani unter Beweis stellen, dass er seine heterogene Koalition zusammenhalten und mit großem Geschick zwischen den vielschichtigen Interessen der diversen irakischen Parteien sowie des Iran und der USA navigieren kann. Der Kurs Sudanis wirkt professionell und zielgerichtet. Gleichwohl zeigt der Balanceakt des Regierungschefs, wie schwierig es für ihn sein wird, nachhaltige Reformen im Land durchzusetzen. Nach mehr als vier Monaten steht trotz weitreichender Ankündigungen bislang wenig auf der Habenseite der Regierung. Die deutsche Bundesregierung sollte Sudani bei seinem Reformkurs weiter unterstützen. Hoffnung macht dabei auch die Annäherung Bagdads an Berlin.

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Die neue irakische Regierung unter Ministerpräsident Sudani war am 27. Oktober 2022 offiziell vereidigt worden. Dem vorausgegangen war eine mehr als einjährige Regierungsbildungskrise, bei der die Partei des schiitischen Klerikers Muqtada as-Sadr damit gescheitert war, eine Mehrheitsregierung auf die Beine zu stellen. Sudani, der dem „Coordination Framework“ (CF) angehört, einer Allianz schiitischer Parteien, die sich gegen Sadr zusammengeschlossen hat, gelang es im Anschluss in wenigen Monaten, eine nationale Einheitsregierung zu bilden. Dieser gehören fast sämtliche Parteien des irakischen Parlaments an.

In den ersten Monaten seiner Amtszeit bewies Sudani, dass er eine ambitionierte Rolle in der Gestaltung seines Landes einnehmen möchte. Seine bisherige Bilanz fällt dagegen gemischt aus. Drei Erkenntnisse lassen sich aus den ersten 100 Tagen der Regierung ziehen. So stehen dem (1) geschickten und gekonnten Navigieren des Ministerpräsidenten durch die Untiefen der irakischen Politik (2) bislang wenige Ergebnisse bei seinem innenpolitischen Reformkurs entgegen. (3) Außenpolitisch positioniert sich der Irak mit einem neutralen Kurs, der eine Diversifizierung seiner Beziehungen und eine Annäherung an europäische Staaten – allen voran Deutschland und Frankreich – einschließt.

 

Ein politischer Balanceakt

Die ersten 100 Tage im Amt stellten für Sudani einen Drahtseilakt dar, den er mit viel Geschick und Erfahrung erfolgreich bewältigt hat. Sudani sieht sich mit einer komplizierten Akteurskonstellation und diversen, sich teilweise diametral gegenüberstehenden Interessen, konfrontiert, die das Regieren zu einer Herausforderung machen. Die Regierung bildet das volle Spektrum der irakischen Politik ab. Iran-nahe Kräfte sitzen westlich-orientierten Parteien am Kabinettstisch gegenüber. Auch die Machtkämpfe innerhalb der drei dominierenden konfessionellen und ethnischen Gruppierungen – den schiitischen Arabern, den sunnitischen Arabern und den Kurden – manifestieren sich in der Koalition. Bereits die Kabinettsbildung zeigte, wie tief die Gräben zwischen den Parteien der Koalition Sudanis sind. So blieben zwei Ministerien zunächst bis Anfang Dezember unbesetzt, da sich die beiden kurdischen Parteien in der Regierung, die Patriotische Union Kurdistans (PUK) und die Demokratische Partei Kurdistans (KDP), aufgrund innerkurdischer Konflikte uneins über die Verteilung der Ministerposten waren.

Der Kurs des Regierungschefs war in den ersten Monaten dadurch bestimmt, seine Koalition zusammenzuhalten und wichtige personalpolitische Weichen zu stellen. So revidierte er bereits zu Beginn seiner Regierungszeit alle Personalentscheidungen, die sein Vorgänger, Mustafa al-Kadhimi, als Übergangsregierungschef nach den Wahlen 2021 getroffen hatte, um sich Raum für politische Ausgleichsmanöver zu schaffen. Durch die anschließende Besetzung dieser Posten ist es ihm gelungen, seine Koalitionspartner erfolgreich in die Regierung einzubinden und damit den Frieden innerhalb der Koalition zu sichern.[1]

Das Kabinett von Sudani gab in den ersten Monaten insgesamt einen geschlossenen und professionellen Eindruck ab und erlaubte sich wenige Fehler. Sudani kommt dabei seine langjährige Regierungserfahrung zugute. Er verfügt über Erfahrung auf allen Regierungsebenen: 2004 begann er als Bürgermeister der Stadt Amara, bevor er Gouverneur der Provinz Maysan wurde. Zwischen 2010 und 2014 gehörter er als Minister für Menschenrechte sowie von 2014 bis 2018 als Minister für Arbeit und Soziales den Regierungen von Nuri al-Maliki und Haider al-Abadi an.

Der Stil des Ministerpräsidenten zeichnet sich insgesamt durch große Zielstrebigkeit und Verbindlichkeit aus. So werden die Herausforderungen des Landes offen thematisiert und durch die Bildung von Arbeitsgruppen angegangen. Gespräche zwischen Vertretern der Zentralregierung und der Kurdischen Regionalregierung haben dadurch beispielsweise bereits zu einer Annäherung zwischen Bagdad und Erbil geführt. Sudani hat darüber hinaus den Druck auf die Verwaltungsspitze des Landes erhöht, in dem er eine Evaluation der Performance aller stellvertretenden Minister, Provinzgouverneure und Generaldirektoren nach sechs Monaten angekündigt hat.

Die vielfach geäußerte Befürchtung, mit Sudani werde eine „Marionette“ des ehemaligen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki, der als Iran-nah gilt, oder den mit Teheran verbundenen politischen Kräften eingesetzt, haben sich bislang nicht bestätigt. Trotz des Balanceakts des Ministerpräsidenten konnte er ein eigenes Profil aufbauen und hat sich in kritischen Punkten – etwa bei Personalentscheidungen, aber auch mit Blick auf die weitere Stationierung von US-Soldaten im Irak – gegen die Interessen dieser Akteure durchgesetzt.[2] Damit tritt er als einende Kraft in der Regierung auf und hat sich durch die gezielte Besetzung von Ressorts wie dem Innenministerium und dem Finanzministerium eine eigene Machtbasis im System geschaffen.

 

Reformagenda braucht Zeit

So professionell insgesamt der Kurs von Sudani ist, so gering ist bislang der Fortschritt im Bereich der im Irak dringend benötigten Reformen. Zu Beginn seiner Amtszeit hatte Sudani seiner Regierung sehr ambitionierte und hohe Ziele in Form eines Fünf-Punkte-Plans gesteckt, denen er bislang kaum gerecht werden konnte. So war es ihm mit Blick auf die von ihm angekündigten Reformen bei der Korruptionsbekämpfung, bei der Entlastung des Arbeitsmarktes, in der Sozialpolitik, bei der Diversifizierung der Wirtschaft und bei der staatlichen Bereitstellung von Dienstleistungen in den ersten 100 Tagen aufgrund der Vielzahl und Gegensätzlichkeit der Interessen kaum möglich, signifikante Fortschritte zu erzielen.

Hauptaugenmerk Sudanis lag bislang auf der Bekämpfung der Korruption. Bereits zu Beginn seiner Amtszeit erschütterte die Offenlegung des sogenannten „Diebstahls des Jahrhunderts“[3] die irakische Politik, bei dem zwischen 2021 und 2022 2,5 Milliarden US-Dollar an irakischen Steuergeldern entwendet worden waren. Als Reaktion setzte Sudani einige Reformen zur Transparenz und Kontrolle der Ministerien und hochrangiger Beamten um, die das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Arbeit der Regierung stärken sollen. Es bleibt allerdings offen, ob sich diese Maßnahmen als effektives Mittel gegen die weitverbreitete Korruption erweisen können.

Zur Entspannung des Arbeitsmarktes – der Irak leidet insbesondere unter einer hohen Jugendarbeitslosigkeit – versprach er die Schaffung von 370.000 neuen Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektors. Diese Handlung erhöht zwar die Popularität des Ministerpräsidenten, steht aber im Widerspruch zu seinem Ziel, die Dominanz des öffentlichen Sektors zu reduzieren und die Privatwirtschaft zu stärken.

Darüber hinaus sollen etwa fünf Millionen Iraker mehr Anspruch auf Lebensmittelhilfen bekommen. Damit wäre insgesamt etwa ein Viertel der irakischen Bevölkerung abhängig von staatlichen Sozialleistungen. Beide Maßnahmen stellen langfristig große Zusatzausgaben für den irakischen Staatshaushalt dar. Zugute kommen Sudani aktuell hohe Erdölpreise, die ihm die Finanzierung dieser Programme erlauben. Sollte der Erdölpreis in Zukunft wieder sinken, wird dies den irakischen Staat nachhaltig belasten.

Die dringend benötigte Diversifizierung der irakischen Wirtschaft zur Reduzierung der Abhängigkeit vom Erdölexport wird weiterhin nicht von irakischer Seite priorisiert. Mit Blick auf die Bereitstellung von staatlichen Dienstleistungen – allen voran einer durchgehenden Stromversorgung – wurden Abkommen mit Siemens und General Electric zum Ausbau des Energiesektors unterzeichnet. Sollten diese Verträge implementiert werden, wäre dies eine signifikante Verbesserung der Lage vor Ort.

Insgesamt kann die Regierung bislang auf wenige konkrete Ergebnisse blicken. Selbstverständlich lassen sich die Herausforderungen im Irak nicht über Nacht lösen. Oftmals handelt es sich um strukturelle Probleme, deren Behebung Jahre in Anspruch nehmen wird. Dennoch bieten die aktuell vergleichsweise ruhige Lage im Irak und die vollen Staatskassen die Möglichkeit, auch kostenintensive Reformen anzuschieben.

Der Druck auf Sudani dürfte in den nächsten Monaten steigen. Viele Iraker erwarten eine signifikante Verbesserung ihrer Lebensumstände. Die Abwertung des irakischen Dinars gegenüber der Leitwährung US-Dollar im Zuge amerikanischer Sanktionen gegen den Iran bedroht die wirtschaftliche Stabilität des Landes. Die Sadristen wiederum, die im Juni als größte Fraktion aus dem Parlament ausgetreten sind und ihre Opposition auf die Straße verlegt haben, warten auf Fehler der Regierung und dürften in den nächsten Monaten mit neuen Demonstrationen Stimmung gegen Sudani machen.

 

Außenpolitische Diversifizierung

Die ersten 100 Tage im Amt waren nicht nur ein innenpolitischer Balanceakt; auch außenpolitisch ist es Sudani gelungen, einen geschickten Kurs zwischen iranischen und US-amerikanischen Interessen im Irak zu finden. Teheran und Washington sind nach wie vor die maßgeblichen externen Akteure im Land. Auffallend eng stimmte sich Sudani seit Beginn seiner Amtszeit mit der US-Botschafterin im Irak ab und sprach sich für eine Fortführung der US-amerikanischen Militärpräsenz im Land aus. Gleichzeitig suchte er den Kontakt nach Teheran. Zugute kommt Sudani eine internationale Lage, in der die USA mit der östlichen Flanke der NATO beschäftigt sind und der Iran aufgrund der Demonstrationen im Land vor allem innenpolitisch gebunden ist.

Insgesamt verfolgt die neue irakische Regierung einen neutralen außenpolitischen Kurs und möchte sich aus den regionalen und internationalen Konflikten heraushalten, um die Souveränität des Landes zu stärken. Bagdad zielt auf gute Beziehungen mit seinen Nachbarländern ab. Entsprechende Initiativen, etwa um die Beziehungen zur Türkei zu verbessern, wurden angeschoben. Noch auffälliger ist die Annäherung an die Golfstaaten. So führten die ersten Besuche Sudanis 2022 nach Jordanien und Saudi-Arabien. Durch die Ausrichtung des Golfpokals in Basra, an dem die Staaten des Golfkooperationsrates teilnahmen, wurden die Beziehungen weiter ausgebaut.

Wie schon sein Vorgänger versucht Sudani als Mittler in der Konfrontation zwischen Saudi-Arabien und dem Iran aufzutreten. 2021 hat der Irak dazu die „Bagdad-Konferenz“ ins Leben gerufen. In der Folge fanden unter irakischer und französischer Führung Vermittlungsgespräche zwischen Riad und Teheran statt. Sudani hat diese Konferenz in Kooperation mit Jordanien und Frankreich mit der Ausrichtung einer Konferenz in Amman im Dezember 2022 unmittelbar nach seinem Amtsantritt fortgeführt. Damit kann der Irak eine konstruktive Rolle spielen und einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Region leisten.

Neben einer Annäherung an die Golfstaaten ist die zweite Neuerung im außenpolitischen Kurs Sudanis eine Intensivierung der Beziehungen zu Deutschland und Frankreich. Sudanis erster Besuch in Europa galt Deutschland – ein wichtiges politisches Zeichen, das die Bedeutung der Bundesrepublik für den Irak unterstreicht. Damit versucht der Irak seine außenpolitischen Beziehungen weiter zu diversifizieren. Auch wenn das Land mit Blick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine offiziell neutral ist, hat es die Resolution der UN-Vollversammlung zum Abzug Russlands unterstützt. Dies dürfte auch dazu gedient haben, sich von der russisch-iranischen Achse zu distanzieren und die Anschlussfähigkeit an Europa unter Beweis zu stellen.

 

Bedeutung für deutsche Außenpolitik

Mohammed Shia al-Sudani kann zu einem wichtigen Partner Deutschlands in einer Region werden, die nach wie vor durch Konflikte und Instabilität geprägt ist und sich in direkter Nachbarschaft von NATO und EU befindet. Die irakische Bereitschaft ist groß, die Beziehungen zu Berlin zu vertiefen. Die Bundesrepublik sollte die Zusammenarbeit intensivieren und das junge demokratische System weiter auf seinem Weg begleiten. Dabei sollte Berlin in Zukunft noch stärker auf die notwendigen Reformen im Land drängen. Mit umfassender Expertise – etwa im Bereich der Berufsausbildung oder bei erneuerbaren Energien - kann Deutschland den Irak bei seiner Entwicklung unterstützen. Ziel deutscher Politik sollte es dabei auch sein, die staatlichen Institutionen und die Rechtsstaatlichkeit im Land zu stärken. Die ersten 100 Tage der Regierung Sudanis nähren die vorsichtige Hoffnung, dass sich der Irak bei all den Herausforderungen insgesamt in eine richtige Richtung entwickelt. Daran sollte Deutschland anknüpfen und den Kurs Sudanis weiter stützen.

 


[1] Vgl. Haddad, Hamzeh/van Veen, Erwin/Woundstra, Folkert: Al-Sudani’s first 100 days - Or how to keep everyone happy, Clingedael CRU Policy Brief, Februar 2023, S.2m, abgerufen unter: https://www.clingendael.org/sites/default/files/2023-02/PB_Sudanis_first_100_days_3eproef.pdf, S.2

[2] Vgl. Al-Rahim, Rend: Iraqi Prime Minister al-Sudani Upstages His Benefactors in the Coordination Framework, Arab Center Washington DC, Januar 2023, abgerufen unter: https://arabcenterdc.org/resource/iraqi-prime-minister-al-sudanis-balancing-act-in-baghdad/.  

[3] Vgl. Foltyn, Simona: ‘Heist of the century’: how $2.5bn was plundered from Iraqi state funds, The Guardian, 20. November 2022, abgerufen unter: https://www.theguardian.com/world/2022/nov/20/heist-century-iraq-state-funds-tax-embezzlement

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