Link zum Originalinterview auf Bulgarisch hier
Desinformation ist die vorsätzliche Verzerrung von Fakten oder sogar deren Fälschung, die Manipulation von Informationen und die Verbreitung von Fake News. Im digitalen Zeitalter hat die Verbreitung von Desinformationen neue Höhen erreicht, führt zu gesellschaftlicher Spaltung und bedroht damit eine demokratische Gesellschaft. Desinformation tritt in verschiedenen Formen auf und erreicht uns über verschiedene Kanäle, die sich in atemberaubender Geschwindigkeit verbreiten. Russlands Aggression gegen die Ukraine hat deutlich gezeigt, wie Desinformation auch als militärisches Instrument an der Informationsfront dienen kann. Diesem Thema widmet sich eine internationale Konferenz vom Medienprogramm Südosteuropa der Konrad-Adenauer-Stiftung, die am 4. April 2023 in Sofia stattgefunden hat. Dabei wurde die aktuelle Studie des KAS-Medienprogramms „Blurring the Truth - Disinformation in Southeast Europe" vorgestellt.
Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den zehn untersuchten Ländern in der Region?
Wenn wir über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sprechen, gibt es eine klare Grenze, die man zwischen den slawischen und den nicht-slawischen Ländern in der Region ziehen kann. Wenn wir über ausländischen Einfluss durch Medien sprechen, sprechen wir hauptsächlich über russischen Einfluss. So ist es logisch, dass in den slawischen Ländern dieser Einfluss und damit die gezielte Desinformation groß ist. Serbien ist das beste Beispiel dafür. Aber das Gleiche gilt auch für Bulgarien, die Republik Moldau, die Republik Srpska in Bosnien und Herzegowina sowie Nordkosovo. Auch in Ländern wie Rumänien, Albanien und Nordmazedonien gibt es pro-russische Kräfte, Kanäle der Desinformation, aber sie sind deutlich schwächer; ich würde sogar sagen, marginal. Ein besonderer Aspekt der Desinformation in Südosteuropa ist das Schüren ethnischer und kultureller Konflikte. Ein Beispiel dafür ist der Konflikt zwischen Serbien und Kosovo sowie der Konflikt um die Republik Srpska in Bosnien und Herzegowina; aber auch die historischen Auseinandersetzungen zwischen Bulgarien und Nordmazedonien. Diese Art von Konflikte ist der perfekte Boden für Desinformation, für die Verbreitung von Fake News und Möglichkeiten, nationalistische Gefühle zu reizen. Ich muss klar sagen: Der Kreml weiß, wo er hier ansetzen muss und nutzt es gnadenlos in seinem hybriden Krieg aus. Kein Zweifel: Russland scheut kein Geld für die Verbreitung falscher Informationen, die alte Konflikte entfachen und neue schaffen.
Wenn Sie sagen, dass die zehn südosteuropäischen Länder, die Sie analysiert haben, pro-russische Kräfte betreiben, lassen Sie uns klarstellen, was Sie meinen - sprechen wir von Kreml-Kampagnen oder von politischen Akteuren auf lokaler Ebene?
Die Analyse der Situation in der Region zeigt, dass es sich um eine Mischung aus verschiedenen Akteuren und Kanälen handelt. Doch die Quelle von Desinformationen ist meistens der Kreml. Aber wir müssen trotzdem klar stellen – auch andere Länder wie China oder einige arabische Länder nutzen Propagandakanäle. Der Hauptunterschied ist, dass die russische Propaganda-Maschine destruktiv ist. Ihr Ziel ist die Zerstörung unserer liberalen Gesellschaften. Das Ziel ist zu spalten. Zu lange haben wir unterschätzt, was Fehlinformationen mit uns machen können, und wir haben nichts unternommen. Ich spreche nicht nur von Politikern in Südosteuropa, sondern in ganz Europa.
Was sind die Kanäle für die Verbreitung von Desinformation und manipulativen Informationen?
Propaganda und Desinformation gab es schon immer und wird es immer geben. Aber nicht so allgegenwärtig wie im heutigen digitalen Zeitalter, in dem wir leben. Das Internet und soziale Netzwerke ermöglichen es, dass sich Desinformation mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet. Stellen Sie sich vor, was erst passieren wird, wenn künstliche Intelligenz immer weiter in unser tägliches Leben eindringt! Desinformation lebt durch Multiplikatoren; von denen, die sie verbreiten. Der Multiplikator ist nicht Russland. Russland ist der Urheber und dann kommen die sogenannten „useful idiots/nützlichen Idioten", die ohne Nachzudenken falsche Informationen vor allem in sozialen Netzwerken verbreiten. Entschuldigen Sie den Ausdruck "nützliche Idioten", aber er ist bereits Teil der Terminologie zu diesem Thema. Multiplikatoren sind eine Vielzahl von Menschen - Wissenschaftler, Politiker, Journalisten, aber auch die gewöhnlichen Nutzer sozialer Netzwerke. Sehr oft verbreiten sie Fake News, ohne es zu merken. Desinformation verbreitet sich besonders gut in einem unkontrollierten, unregulierten Umfeld wie dem Internet.
Was würden Sie denen sagen, die Ihnen vorwerfen, dass dies ein Versuch ist, Zensur durchzusetzen?
Das Gleichgewicht ist schwierig. Es sollte eine Regulierung geben, aber auf keinen Fall in staatlichem Besitz. Die Medien sollten in der Lage sein, sich selbst zu regulieren. Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus Deutschland: In unserem Land gibt es einen Presserat, in dem alle Medien vertreten sind. Er ist eine ehrenamtliche Organisation von Verlegern und Journalisten. In diesem Rat sind politische Parteien und Institutionen in keiner Weise vertreten. Fast alle Desinformationskampagnen laufen über soziale Medien. Das bedeutet, dass die Reaktion gegen Fake News auch da sein sollte. Eine Regulierung in diesem Bereich ist äußerst schwierig, aber notwendig. Seit vergangenem Jahr haben wir in der EU den sogenannten Digital Service Act zur Regulierung digitaler Dienste, der noch in allen Mitgliedstaaten eingeführt werden muss. Leider sehe ich für Bulgarien ein Problem, weil ich nicht das Gefühl habe, dass daran gearbeitet wird, den digitalen Raum zu regulieren. Ich denke, dass die Regierung und vor allem der Rat für elektronische Medien diesem Thema mehr Aufmerksamkeit schenken sollten.
Wie erkennt man Qualitätsmedien und zuverlässige Informationen?
Seriöse Medien und Journalisten identifizieren sich nicht mit Politikern und Parteien. Weder mit der Regierung noch mit der Opposition. Es geht um journalistische Ausbildung, um ein Bewusstsein für die Rolle von Journalisten. Das ist keine leichte Aufgabe. Ich bin auch Journalist, ich habe nach der Wende in Leipzig studiert, an der Schmiede des journalistischen Kaders in der damaligen DDR. Damals wurde die Rolle der Journalisten als Sprachrohr für die Kommunistische Partei verstanden. In einer demokratischen Gesellschaft sind Journalisten Beobachter sozialer und politischer Prozesse, keine Akteure. Ein weiteres Problem, das wir in ganz Südosteuropa sehen, ist die unzureichende Medienfinanzierung. Dies gilt sowohl für die Vergütung von Journalisten als auch für die Fähigkeit der Medien, sich selbst zu finanzieren. Natürlich gibt es in allen zehn Ländern, die Gegenstand unserer Studie sind, wunderbare Ausnahmen, Beispiele für seriöse Medien und gute Journalisten. Aber das sind leider nur wenige.
Herr Sittig, Sie haben die Länder Südosteuropas in slawische und nicht-slawische Länder eingeteilt. Ist das die Prämisse des russischen Einflusses? Was bedeutet das Verständnis einer demokratischen Gesellschaft und ihrer Struktur?
Die kulturellen und historischen Beziehungen zu Russland sind eine sehr wichtige Voraussetzung, aber es ist bei weitem nicht nur Russland. Das größte Problem ist für mich der schlecht entwickelte Qualitätsjournalismus. Wenn es in einer demokratischen Gesellschaft ein gesundes Medienumfeld gibt, wenn Journalisten ihre Rolle in einer demokratischen Gesellschaft erkennen, dann haben sie das Vertrauen von Zuschauern, Zuhörern und Lesern. In einem solchen Umfeld kann sich Desinformation nur schwer verbreiten. Leider ist dies in den zehn Ländern Südosteuropas, die wir untersucht haben, nicht der Fall. Im Allgemeinen haben die Menschen in den Ländern der Region nicht viel Vertrauen in die Eliten, egal ob es sich um Politiker, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder Institutionen handelt. Und das überträgt sich auch auf die Medien. Ein Grund dafür ist, dass diese Gesellschaften nicht vollständig demokratisch sind.
Wer ist anfällig für Fehlinformationen?
Es gibt viele intelligente Menschen mit guter Bildung und sogar wissenschaftlichen Titeln, die auch anfällig für Fehlinformationen sind. Und das nicht nur in Verbindung mit Russland. Es ist, als hätten wir die Pandemie vergessen - erinnern Sie sich an die Anti-Impf-Bewegungen, die Proteste der Verschwörungstheoretiker? Sie waren auch Opfer von Fehlinformationen, die mit den Ängsten der Menschen spielten. Leider ist Bulgarien ein beredtes Beispiel dafür.
Wie kann Desinformation begegnet werden?
Das wichtigste Instrument ist die Medienkompetenz. Wenn wir uns die vergangenen 20 bis 25 Jahre ansehen, denke ich, dass wir eine ganze Generation verloren haben, die mit schwindelerregend schnell wachsenden digitalen Medien aufgewachsen ist. Unsere Kinder kennen kein anderes Kommunikationsmedium. Aber niemand von uns, ob Eltern oder Lehrer, hat ihnen sagen können, wie sie in dieser Umgebung leben sollen. Ganz zu schweigen davon, dass ihnen niemand die Rolle der Medien und Journalisten in einer demokratischen Gesellschaft erklärt hat. Ich spreche nicht nur von Bulgarien. Ich bin überall gefragt worden, ob Facebook-Posts Journalismus sind. Nein, das ist definitiv kein Journalismus! Heutzutage kann jeder etwas in sozialen Netzwerken veröffentlichen, ob es wahr ist oder nicht - und egal mit welchen Motiven. Deshalb glaube ich, dass wir es gerade den Kindern schuldig sind, sie in Medienkompetenz zu schulen, um seriöse Nachrichten von manipulativen Informationen zu unterscheiden. Ich freue mich, dass es zum Beispiel im Kosovo ein Pilotprojekt zum Schulfach Medienkompetenz gibt.
Das sind Maßnahmen, die in Zukunft Früchte tragen werden. Was kann jetzt kurzfristig getan werden?
Unabhängige Fact-Checking-Organisationen und -Abteilungen in den Medien sind ein Instrument gegen Desinformation. Sie sind wichtig, aber unzureichend. Denn sie können nur auf die bereits verbreiteten falschen Informationen reagieren. Darüber hinaus erreicht der Faktencheck nur eine begrenzte Gruppe von Personen, je nachdem, welche Plattform jemand verwendet. Fehlinformationen dagegen verbreiten sich schnell und gehen von einem Kanal zum anderen. Zudem: Desinformation richtet sich immer an die Emotionen der Menschen. Sie wecken Ängste, sähen Zweifel und Verwirrung. Und Internet-Faktencheck-Portale enthalten in der Regel trockene wissenschaftliche Informationen, die sich eben nicht so einfach lesen lassen. Ein Instrument gegen Desinformation sind natürlich seriöse Qualitätsmedien. Das bedeutet, dass sie gut finanziert sein müssen, um ihre Arbeit erledigen zu können. Lassen Sie mich noch einmal als Beispiel Deutschland anführen, wo öffentlich-rechtliche Medien das größte Vertrauen genießen. Mehr als 60 Prozent der Deutschen glauben den Informationen, die sie von den öffentlich-rechtlichen Sendern erhalten. In diesen Medien können sich Fake News nicht durchsetzen. Und ihre Zuschauer und Zuhörer, die an zuverlässige Informationen gewöhnt sind, können der Manipulation nicht erliegen.
Wichtig ist auch die Stärkung der Zivilgesellschaft und die Erziehung zu mehr Verantwortungsbewusstsein der Menschen. Denn Demokratie ist nicht auf Politiker und Parteien beschränkt. Im Gegenteil, die Bürger sind das Herzstück einer demokratischen Gesellschaft. Aber die Bürger müssen sich ihrer Rolle bewusst sein und an die Macht der Demokratie glauben, sie zu schützen, auch vor Desinformation.