Argentinien hat zum dritten Mal die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer gewonnen. Wie euphorisch ist die Stimmung im Land?
Das Finale der Fußball-WM hat hier kein Auge trocken gelassen, vor allem nachdem das bis weit in die zweite Halbzeit hinein sicher geglaubte Spiel zum Krimi und zur Zitterpartie wurde. Seitdem befindet sich das Land im Ausnahmezustand. Am Obelisken in der Innenstadt von Buenos Aires haben sich Millionen von Menschen zum Feiern versammelt, aber auch sonst überall in der Stadt und im ganzen Land wird auf den Straßen getanzt, gefeiert, gelacht, geweint, gehupt und getrommelt. Wildfremde Menschen umarmen sich und teilen ihre Freude. Es herrscht eine unglaubliche Euphorie und eine positiv mitreißende Stimmung.
Argentinien hat mit einer hohen Inflation und weiteren wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Wie lange kann diese neue Euphorie über den argentinischen Sieg diese Probleme verdecken?
Für viele Argentinier hat dieser Sieg einen enorm hohen symbolischen Wert. Das einst so reiche Einwandererland Argentinien befindet sich seit Jahrzehnten in einer schweren wirtschaftlichen Krise. Große Teile der einst breiten Mittelschicht sind bereits in die Armut abgerutscht. Zahlreiche gut ausgebildete junge Menschen verlassen das Land und bauen sich in Europa oder den USA eine Zukunft auf. Das macht natürlich etwas mit den Menschen, die da bleiben. Nicht umsonst haben mehrere der direkt nach dem Spiel interviewten argentinischen Fußballer mit Tränen in den Augen darauf hingewiesen, dass man es als Argentinier gewohnt sei, zu leiden. Der WM-Sieg hat gezeigt, dass man noch zu Großem fähig ist und dass nicht alles immer schlechter wird. Jetzt ist es Aufgabe der Politiker und der Gesellschaft, diese enorme Aufbrauchstimmung konstruktiv zu nutzen und nach vorne zu schauen.
Auch politisch ist das Land in erheblichen Turbulenzen. So wurde unlängst Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner zu sechs Jahren Haft wegen Korruption verurteilt. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage im Land ein?
Die politische Lage ist in der Tat sehr schwierig. Korruption und Misswirtschaft sind leider fest im Politikbetreib verankert. Cristina Fernández de Kircher ist die starke Führungsfigur im Peronismus, aber sie spaltet nicht nur das Land in Regierungsanhänger und Opposition, sondern ist auch innerhalb des Peronismus umstritten. Allerdings ist auch das Oppositionsbündnis gespalten. Uneinigkeit herrscht nicht nur unter den verschiedenen Parteien, sondern auch innerhalb der stärksten Oppositionspartei PRO über die Präsidentschaftskandidatur für 2023. Die ausufernde Korruption und die politischen Grabenkämpfe haben zu einer tiefen Vertrauenskrise der Bürger in die Politik geführt. Ein Großteil der Wähler sieht sich von keiner politischen Kraft adäquat repräsentiert, und auch in Argentinien erstarken radikale Kräfte.
Wie sehen Sie angesichts der genannten Herausforderungen die Zukunft Argentiniens, abseits des Fußballs?
Argentinien ist ein wunderbares Land mit riesigem Potential. Es verfügt über die zweitgößten Schiefergas- und Lithiumvorräte der Welt, bietet ideale Bedingungen für erneuerbare Energien und die Produktion grünen Wasserstoffs, ist bereits jetzt der siebtgrößte Weizenproduzent weltweit und kann bei 47 Millionen Einwohnern Lebensmittel für die zehnfache Zahl von Menschen produzieren. Das Bildungssystem ist im regionalen Vergleich immer noch sehr gut und die Wirtschaft ist im Tech-Bereich sehr innovativ, was die hohe Anzahl an Unicorns belegt. Allerdings müssen die eklatanten Missstände in der öffentlichen Verwaltung und der Politik bekämpft werden, damit Argentinien nicht das Land der ewigen Potentiale bleibt, sondern diese auch zum Wohle der Menschen nutzen kann.