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Lagebericht Irak: Proteste der Bevölkerung eskalieren

z Regina Frieser, Gregor Jaecke

Die größten Bürgerproteste seit Amtsantritt des Premierministers bedrohen die Stabilität der Regierung und der Region

Seit Anfang Oktober 2019 kommt es im Irak landesweit zu Ausschreitungen. Auslöser der Proteste sind grassierende Korruption, mangelnde staatliche Dienstleistungen vor allem in der Elektrizitäts- und Wasserversorgung sowie sehr hohe Arbeitslosigkeit. Die Sicherheitskräfte reagieren gewaltsam auf die Proteste, teils mit Tränengas und scharfer Munition.

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Landesweit werden zeitweise Ausgangssperren verhängt und Social-Media-Kanäle stillgelegt. Bis zum 7. Oktober 2019 verzeichnet das Land etwa 100 Tote und über 6000 Verletzte. Die Regierung reagiert mit Gesprächsangeboten an die Bevölkerung und verspricht erneut die Umsetzung der geplanten Reformen; zusätzlich werden finanzielle Wiedergutmachungen für die von den Sicherheitskräften verletzten und getöteten Demonstranten angekündigt.

Dies führt allerdings bisher nicht zur nachhaltigen Deeskalation der Situation. Die Demonstranten stellen der Regierung ein Ultimatum; bis zum Ende der wichtigen schiitischen Trauerzeit Arbaeen um den 15. Oktober 2019 sollen weitere Schritte geklärt werden. Sollte die Regierung die Forderungen bis dahin nicht erfüllen können, sind weitere Demonstrationen angekündigt. [0]

 

Leere Reformversprechen, mangelnde staatliche Dienstleistungen und schwierige Lebensbedingungen treiben Bürger auf die Straße

 

Anschließend an die seit Wochen schwelenden Proteste von Universitätsstudenten und jungen Arbeitslosen wachsen die Demonstrationen rund um den Bagdader Tahir Square am 01. Oktober 2019 stark an. Mit mehreren hundert Teilnehmern sind dies die größten Demonstrationen gegen die Regierung von Premierminister Adel Abdul-Mahdi seit seinem Amtsantritt im Oktober 2018. Auch in anderen irakischen Provinzen und Städten, wie in Nasriyah, Basra und Najaf, gibt es größere Proteste. Laut irakischer Quellen werden die Demonstrationen nicht von politischen Parteien oder anderen institutionellen Organisationen initiiert, sondern zunächst durch lose Bürgerverbände über die sozialen Medien koordiniert.

Auslöser ist zum wiederholten Mal, ähnlich zu den Protesten der letzten Jahre[1], die andauernde Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierung. Insbesondere die unbefriedigte zivile Nachfrage nach verbesserten staatlichen Dienstleistungen, Regierungs- und Administrationsreformen sowie mangelnden Beschäftigungsmöglichkeiten stehen dabei im Mittelpunkt[2]. Grund ist unter anderem die starke Korruption, unter der viele Einnahmen des rohstoffreichen Landes und internationale Hilfsgelder zum Wiederaufbau in ehemaligen Konfliktgebieten versiegen. Auch die mangelnde Versorgung mit Wasser und Elektrizität erschwert vor allem in den südlichen Teilen des Landes die Lebensbedingungen deutlich. Besonderen Unmut erregen dabei die immer wiederkehrenden und dabei letztendlich ins Leere laufenden Beteuerungen der Regierung, die o.g. Missstände auszuräumen.

Nach dem Auftakt am 01. Oktober 2019 setzen sich die Demonstrationen mit steigender Teilnehmerzahl in den folgenden Tagen fort. Angriffe auf Medienhäuser, nationale und internationale Einrichtungen sowie unterschiedliche Parteizentralen werden innerhalb und außerhalb Bagdads verzeichnet. Auch über zunehmende Übergriffe gegenüber zivilgesellschaftlichen Aktivisten und Nichtregierungsorganisationen wird berichtet.

Nach einem Gesprächsangebot der Regierung Abdul-Mahdi an die Demonstranten am 5. Oktober, wird nun von einem Ultimatum der Demonstranten an die Regierung bis zum 15. Oktober gesprochen[3]. Sollte die Regierung die Umsetzung der versprochenen Reformmaßnahmen bis zu diesem Datum nicht glaubhaft begonnen haben und erste Ergebnisse vorweisen können, droht eine weitere Eskalation der Proteste.

Möglicherweise als Reaktion auf diese Forderungen, geht die Regierung Abdel-Mahdi am 08. Oktober 2019 ungewöhnlich hart gegen die Provinzregierungen (provincial councils) vor. In vielen Provinzen wird insbesondere das schleppende Vorangehen der Denzentralisierungsbemühungen und die ineffiziente Aufgabenerfüllung durch Provinzregierungen und lokale Verwaltungen als Hauptgrund für die schlechte Dienstleistungsqualität und die vielschichtige Korruption angeführt. Laut lokaler Quellen beschließt das nationale Parlament eine Einschränkung der Arbeit und Zuständigkeit der Provinzregierungen auf unbestimmte Zeit. Dieses Vorgehen ist zwar eine starke Maßnahme als Reaktion auf die Hauptforderung der Demonstranten, die Korruption einzudämmen und staatliche Dienstleistungen zu verbessern, kann aber auch eine weitere Eskalation und ein zusätzliches Aufbäumen der sehr machtbewussten regionalen Regierungen im aktuellen Konflikt bedeuten. Die Richtung der weiteren Entwicklungen ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht abzusehen.

 

Hartes Vorgehen der Sicherheitskräfte facht die Proteste weiter an und verschärft Eindruck von Ohnmacht der gewählten Regierung

 

Die zunächst friedlichen Proteste entwickeln sich durch das von Beginn an übertrieben harte Eingreifen der Sicherheitskräfte zu gewaltsamen Ausschreitungen. Trotz anders lautender Anweisungen aus der politischen Exekutive begegneten Polizei und Militär den Demonstranten mit Tränengas und nach unbestätigten Angaben teils mit scharfer Munition. Die Zusammenstöße führten so zu bisher 104 Toten und 6107 Verletzten auf Seiten der Demonstranten und der Sicherheitskräfte.

Insbesondere in den großen Städten des Landes wird die Lage als dramatisch bewertet: Neben dem oben erwähnten Abschuss scharfer Munition werden außerdem Angriffe von Scharfschützen unbekannter Herkunft auf die Zivilbevölkerung und Demonstranten gemeldet. Auch von gezielt getöteten Aktivisten aus der Provinz Basra im Süden des Landes wird berichtet.

Um die Situation zu deeskalieren und die Ausbreitung der Proteste einzudämmen, wurde außerdem direkt ab Beginn der Proteste am 02. Oktober 2019 eine Ausgangssperre verhängt, die jedoch von den Demonstranten umgehend gebrochen wurde. Zeitgleich wurden die Kommunikationskanäle blockiert und der Zugang zum Internet gesperrt, um den Nachrichtenaustausch über Social-Media zu verhindern; nach unbestätigten Quellen dauert die Blockade des Internets an. Die Reaktion der Regierung verursacht allerdings gegenteilige Wirkung. Die restriktiven Maßnahmen in Kombination mit der steigenden Anzahl von toten Demonstranten führen zu einer Intensivierung der Proteste.

Am Ende der ersten Protestwoche bietet die Regierung den Familien der Getöteten und Verletzten finanzielle Entschädigungen an. Premierminister Abdul-Mahdi kritisiert den Einsatz von übermäßiger Gewalt (Excessive Force) durch die Sicherheitsbehörden gegen Demonstranten und betont, dass dies nicht seine Absicht gewesen sei. Die Aussage wird jedoch in weiten Teilen der Bevölkerung als Schuldeingeständnis der Regierung für die Toten und als Signal für die befürchtete Ohnmacht der gewählten Regierung gegenüber den Sicherheitsbehörden gewertet.

Am Abend des 7. Oktober 2019 wendet sich das irakische Staatsoberhaupt, Präsident Barham Saleh, mit einer Fernsehansprache an die Bevölkerung. In ungewöhnlich direkter Sprache, allerdings relativ spät im Verlauf der Ereignisse, geht er dabei auf die Forderungen der Demonstranten ein, wiederholt die Mahnungen zur Deeskalation und Einheit der irakischen Akteure, während er zur Abkehr von gewaltsamen Maßnahmen aller Seiten aufruft und den Fokus auf Dialog setzt. Zur Umsetzung dieses Dialogs schlägt er die Einberufung eines Forums zwischen Zivilbevölkerung, nationalen und internationalen Experten und der Politik vor. Ob diese Ankündigungen zur Entspannung der Lage beiträgt, bleibt abzuwarten.

 

Politikelite scheitert bisher an der nachhaltigen Lösung der Probleme und wird durch die Proteste überrascht

 

Nachdem der Sommer 2019 verhältnismäßig ruhig blieb[5], unterschätzten die Politikeliten in Bagdad die seit Wochen im Land schwelenden Proteste arbeitsloser Universitätsstudenten und sind nicht auf einen Ausbruch großer Demonstrationen vorbereitet. Die von Regierungskreisen zusätzlich unterbewertete Entrüstung über die Entlassung des in der Bevölkerung sehr beliebten Militärkommandanten Abdul Wahab al-Saadi, dem ein großer Anteil an der territorialen Besiegung des sogenannten Islamischen Staates (IS) zugerechnet wird, gilt als weiterer Aufhänger für die Proteste.

Der im letzten Jahr erst an die Regierungsspitze gekommene parteilose Ministerpräsident Abdul-Mahdi hatte sich nach der schwierigen Regierungsbildung redlich bemüht, Reformen umzusetzen, war dabei aber wiederholt an der mangelnden Unterstützung im Parlament gescheitert: Die stark festgefahrenen politischen und ethnischen Konfliktlinien zwischen den Parteizusammenschlüssen (Parteiblöcken) in Verbindung mit einem schwerfälligen Verwaltungsapparat stellen ein großes Hindernis für die Umsetzung von Reformen dar[6]. Ein im Mai veröffentlichter Bericht Abdul-Mahdis, der den großen Fortschritt der Reformen seiner Regierung illustrieren sollte, war von allen Seiten heftig kritisiert worden. Die anfänglich als Vorteil gehandelte Parteilosigkeit des neuen Premierministers konnte dabei keinen positiven Einfluss entfalten. Ein reeller Fortschritt der Maßnahmen gegen Korruption und zur Verbesserung der administrativen Kapazitäten insbesondere in den Provinzen ist für die Bevölkerung bisher nicht spürbar geworden.

Gleichzeitig nimmt die Entfremdung der Bevölkerung vom politischen System weiter zu, da auch der aktuellen Regierung Abdul-Mahdi eine nachhaltige Lösung der Probleme nicht mehr zugetraut wird; dies wird mit der Dimension der aktuellen Proteste deutlich. Prominente Kritiker des Premierministers, darunter der einflussreiche schiitische Politiker und geistliche Führer Muqtada al-Sadr sowie der ehemalige Premierminister Haider al-Abadi, haben Abdul-Mahdis Rücktritt bereits gefordert. Ob die oben beschriebene Aussetzung der regionalen Regierungen als Maßnahme dazu beitragen kann, das verlorene Vertrauen in die Zentralregierung wieder herstellen kann, bleibt abzuwarten.

Allerdings erscheinen auch Neuwahlen als politische Lösung der Krise unwahrscheinlich. Da schon die Beteiligung bei den Parlamentswahlen im letzten Jahr sehr gering war (ca. 44 Prozent), kann das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung und die nachhaltige Verbesserung der Situation nicht durch eine Neuwahl wiederhergestellt werden, solange es sich innerhalb des Systems um die gleichen Akteure handelt.

 

Weitere Entwicklung und konkurrierende Einflussgrößen im Irak bedrohen die Stabilität der gesamten Region

 

Nicht nur aufgrund seiner geostrategischen Lage hat die Entwicklung im Irak Auswirkungen auf die Stabilität der gesamten Region. Sowohl die irakische Bevölkerung als auch ihre Regierung wehren sich zunehmend gegen einen Einfluss von außen. Die Demonstranten in Bagdad formulieren das in einem ihrer zentralen Bannersprüche „Iran barra, barra, Bagdad horra, horra“ – übertragen: „wenn der Iran geht, ist Bagdad frei“. Diese Anti-Iran Ressentiments erhalten auch durch die unsichere Nachrichtenlage und eine Reihe von Gerüchten zusätzlichen Vorschub. Es steht die Frage nach einer iranischen Einflussnahme auf die Proteste im Raum. Vor dem Hintergrund der sehr organischen Entwicklung der Proteste und der bisher sehr wenig in Erscheinung tretenden äußeren Einflüsse, erscheint ein Szenario einer iranischen Koordination allerdings weniger wahrscheinlich.

Ein punktueller Missbrauch des durch die Proteste entstehenden Machtvakuums durch externe, auch nicht-staatliche Gruppen ist allerdings nicht auszuschließen. Sollte es einer der Gruppe gelingen, die durch die Proteste noch vergrößerten Instabilitäten im Land auszunutzen, könnte das einen dramatischen Einfluss auf die Sicherheitslage im Irak und in der Region haben. Besonders vor dem Hintergrund des wieder erstarkenden IS ist ein handlungsfähiger und stabiler Irak auch besonders im Interesse der in der Nachbarschaft liegenden europäischen Staaten.

Der Irak befindet sich nach jahrzehntelangen kriegerischen Auseinandersetzungen in einer entscheidenden Übergangphase. Erste Erfolge im Sinne des Wiederaufbaus und der Konsolidierung des demokratischen Systems konnten erreicht werden. Sollten die eskalierenden Proteste zur nachhaltigen Instabilität und Handlungsunfähigkeit des politischen Systems führen, stünden alle bisher erreichten Erfolge auf dem Spiel.

Dieser Bericht wurde erstellt von Gregor Jaecke (Auslandsmitarbeiter) und Regina Frieser (Wissenschaftliche Mitarbeiterin) aus dem Auslandsbüro Syrien/Irak.

[0] Prognosen sind mit Stand 08. Oktober 2019 nicht nur aufgrund der Entwicklungslage, sondern auch aufgrund der eingeschränkten Kommunikation mit dem Zentralirak nur begrenzt möglich – alle Informationen dieses Berichts sind unter diesem Vorbehalt zu betrachten; Zahlenangaben variieren zwischen den unterschiedlichen Quellen.
[1] Im Sommer 2018 hatten eine große Dürre und die einhergehende Wasserknappheit insbesondere im Süden des Landes zu großen Protesten gegen die Lebensbedingungen und die Handlungsunfähigkeit der Regierung geführt.
[2] Im Irak sind 50 Prozent der Bevölkerung jünger als 29 Jahre. Die Arbeitslosigkeit liegt unter den Jugendlichen bei etwa 30 Prozent, Tendenz angesichts des hohen Bevölkerungswachstums steigend. Nach dem Corruption Perception Index 2017 von Transparency International liegt der Irak auf Platz 169 von 180 Ländern.
[3] Hintergrund des Datums ist das Ende des schiitischen Trauermonats Arbaeen und damit der Beginn wichtiger schiitischer Pilgerfahrten in Kerbala südlich von Bagdad am 19./20. Oktober 2019.
[4] Ziel der Dezentralisierung im Irak ist es, die Qualität der staatlichen Dienstleistungen durch den Abbau von Bürokratie in den lokalen Regierungen zu verbessern. Auch wenn die allgemeine politische Unterstützung für den Dezentralisierungsprozess stark ist, verzögert sich dessen Umsetzung und der Stand der Dezentralisierung variiert heute zwischen den verschiedenen Regierungssektoren. Die Implementierung ist darüber hinaus nicht ausreichend durch die Zentralregierung standardisiert, während gleichzeitig Mechanismen zur Rechenschaftsablage nicht durchgesetzt werden. Lokale Interpretationsspielräume werden als Machtinstrumente genutzt. In den regionalen Institutionen entstehen korrupte Strukturen.
[5]Im Gegensatz zum Sommer 2018; siehe Fußnote 2.
[6] Seit Jahrzenten zeichnet sich der Irak durch Auseinandersetzungen zwischen ethnischen und religiösen Gruppen (schiitische Araber, sunnitische Araber und Kurden) aus, die einer Stabilisierung des Landes entgegenstehen.

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Gregor Jaecke

Leiter des Auslandsbüros Südafrika

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