1. Einleitung
Warum entwickelte sich in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ein umfangreicher und großzügiger Wohlfahrtsstaat? Manfred G. Schmidt weist darauf hin, dass „zwei Sozialstaatsparteien“ die Motoren dahinter waren[1]. Eine dieser „Sozialstaatsparteien“ ist die SPD. Es ist offensichtlich, dass eine Partei mit einer starken Verankerung in der Arbeiterklasse den Aufbau eines Wohlfahrtsstaates vorantreibt. Dieses Phänomen war zumindest in den Phasen der wohlfahrtsstaatlichen Expansion bis Mitte der 1970er Jahre in vielen Demokratien zu beobachten und ist unter der These der Machtressourcen-Theorie bekannt[2].
Aber auch die CDU wird als eine der „Sozialstaatsparteien“ bezeichnet. Obwohl die CDU allgemein als konservative oder Mitte-rechts-Partei eingestuft wird, spielte sie eine ebenso bedeutende Rolle in der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung wie die SPD[3]. Allerdings ist die Forschung zur Rolle der CDU im Feld der Wohlfahrtspolitik bisher nicht so umfangreich, liegt der Fokus der Wohlfahrtsstaatsforschung doch häufig auf der SPD. Ein Defizit in der Forschung besteht vor allem darin, dass der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), die die Wohlfahrtspolitik der CDU maßgeblich geprägt hat, bislang nicht ausreichend Aufmerksamkeit gewidmet wurde[4].
Die Wohlfahrtspolitik der CDU ist ohne die Berücksichtigung der CDA kaum verständlich. Die CDA ist eine von acht Vereinigungen[5] innerhalb der CDU und repräsentiert die soziale Ausrichtung dieser Volkspartei. Sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene hat die CDA oft das jeweilige Ministerium für Arbeit und Soziales geleitet[6], und aufgrund ihrer Bindegliedfunktion zwischen der CDU und den Gewerkschaften war ihr Einfluss erheblich[7]. Wegen der rückläufigen Mitgliederzahl seit den 1980er Jahren schien der Einfluss der CDA abzunehmen[8], allerdings könnten sich mit der Wahl des von 2005 bis 2024 amtierenden CDA-Vorsitzenden Karl-Josef Laumann zum stellvertretenden Parteivorsitzenden der CDU im Mai 2024 erneut Möglichkeiten eröffnen, den politischen Einfluss der CDA wieder zu stärken.
Ziel dieser Studie ist es, das wohlfahrtsstaatliche Reformkonzept der CDA durch eine Analyse ihrer Aktivitäten festzustellen. Der Untersuchungszeitraum konzentriert sich auf die Jahre 1992 bis 1994, als die deutsche Wirtschaft einen Abschwung erlebte: Nach der Wiedervereinigung setzte die Bundesregierung umfangreiche fiskalische Maßnahmen zum Aufbau Ostdeutschlands um; dennoch geriet die Wirtschaft in eine Rezession, die 1993 in negativem Wachstum mündete. In diesem Kontext wurde der „Standort Deutschland“ infrage gestellt, und es wurde nach grundlegenden Reformen des Wohlfahrtsstaates gerufen. Welche Konzepte für die Zukunft des Wohlfahrtsstaates arbeitete die CDA in dieser schwierigen Zeit aus?
2. Der deutsche Wohlfahrtsstaat in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung
Der deutsche Wohlfahrtsstaat nach dem Zweiten Weltkrieg gilt als typisches Beispiel für das kontinentaleuropäische Wohlfahrtsstaatsmodell. Dieser Typus, der als „konservativer“, „bismarckianischer“ oder „christlich-demokratischer“ Wohlfahrtsstaat bezeichnet wurde, zeichnete sich – den nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten ähnlich – durch hohe Sozialausgaben aus. Er unterschied sich von diesen allerdings in fünf zentralen Aspekten: Erstens lag ein starker Schwerpunkt auf der passiven Arbeitsmarktpolitik, die sich auf monetäre Transfers stützte, während die aktive Arbeitsmarktpolitik, zu der beispielsweise die berufliche Aus- oder Weiterbildung zählt, nur schwach ausgeprägt war. Zweitens waren Transferleistungen umfassend ausgebaut, wohingegen Sach- und Dienstleistungen wie die außerfamiliale Kindertagesbetreuung vernachlässigt wurden. Dies ließ sich auch darauf zurückführen, dass die Sozialpolitik drittens das männliche Ernährermodell unterstützte, was zu einer niedrigeren Erwerbsbeteiligung von Frauen führte. Viertens fungierten neben dem Staat halböffentliche Organisationen, wie die Wohlfahrtsverbände in Deutschland, als zentrale Akteure sozialstaatlicher Leistungserbringung. Und fünftens basierte der deutsche Wohlfahrtsstaat nicht auf dem Prinzip des Universalismus; vielmehr war das Sozialversicherungssystem grundsätzlich nach Berufsgruppen und Berufsstatus segmentiert[9].
Wie die Bezeichnung „christlich-demokratischer“ Wohlfahrtsstaat impliziert, ist der kontinentaleuropäische Wohlfahrtsstaat das Ergebnis des Einflusses nicht nur sozialdemokratischer, sondern auch christlich-demokratischer Parteien auf dessen Gestaltung. Übertragen auf den deutschen Kontext bedeutet dies, dass die CDU, insbesondere die CDA einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat.
In dieser Studie wird das wohlfahrtsstaatliche Reformkonzept der CDA analysiert, wobei häufig auf die christliche Soziallehre[10] Bezug genommen wird. Zwar lassen sich aus den drei Prinzipien – dem Personalitätsprinzip, dem Solidaritätsprinzip und dem Subsidiaritätsprinzip – grundlegende Reformansätze der CDA ableiten, doch richtet sich der Fokus dieser Studie darauf, welches konkrete Reformkonzept die CDA daraus unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lage in Deutschland Anfang der 1990er Jahre entwickelt hat. Es ist daher notwendig, das Augenmerk auf die konkreten Aktivitäten der CDA zu legen.
3. Die 25. Bundestagung der CDA im Jahr 1993
Die 25. Bundestagung der CDA fand vom 4. bis 6. Juni 1993 in der Stadthalle Chemnitz statt. Auf der Bundestagung wurde die Chemnitzer Erklärung mit dem Titel „Einheit durch Gerechtigkeit“ verabschiedet, die umfangreiche Richtlinien der CDA nach der Wiedervereinigung festlegte. Aus dieser Erklärung lässt sich das wohlfahrtsstaatliche Leitbild der CDA in den folgenden sechs zentralen Aspekten herleiten.
Erstens geht es um die Verteidigung der sozialen Marktwirtschaft. In der Chemnitzer Erklärung wurde der Wert der sozialen Marktwirtschaft als ein System betont, das „die Freiheit des Wirtschaftens unwiederbringlich mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs verbindet“. Die soziale Marktwirtschaft könne „Leistung und soziale Gerechtigkeit“ sowie „Wettbewerb und Solidarität“ gleichzeitig verwirklichen. Laut der CDA war es außerdem nicht der Kapitalismus, den die Menschen in Ostdeutschland durch die friedliche Revolution angestrebt hätten, sondern die soziale Marktwirtschaft.
Zweitens steht der Erhalt der Sozialversicherung im Fokus. Die Sozialversicherungen seien „Fundament des Sozialstaates Deutschland“ und zugleich „leistungsbezogen und subsidiär organisiert“. Die CDA äußerte sich kritisch gegenüber Bestrebungen, die Sozialversicherungen durch private Versicherungen zu ersetzen. Außerdem wurde gefordert, neben der Renten-, Arbeitslosen-, Unfall- und Krankenversicherung auch eine Pflegeversicherung als fünfte Säule des Sozialversicherungssystems zu etablieren.
Drittens steht der Schutz der wirtschaftlich schwächeren Sozialgruppen im Mittelpunkt. In der Gesellschaft existierten „Starke und Schwache, Gesunde und Gebrechliche, Glückliche und Unglückliche“, weil „die Leistungsgerechtigkeit des Marktes nicht identisch mit der sozialen Gerechtigkeit“ sei. Es sei daher unerlässlich, durch Sozialpolitik eine gerechte Verteilung der Lebenschancen sicherzustellen.
Viertens wird die Erhaltung der Tarifautonomie hervorgehoben. Diese habe dazu beigetragen, die „Entlastung des Staates“ im Arbeitsmarkt zu gewährleisten und den sozialen Frieden zu bewahren.
Fünftens fordert man die materielle Gleichstellung von „wertvoller Nichterwerbsarbeit“ wie der Kindererziehung und der Pflege mit der Erwerbsarbeit. Diese Tätigkeiten sollten in der Sozialversicherung entsprechend berücksichtigt und finanziell angemessen unterstützt werden.
Sechstens wird die Notwendigkeit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik hervorgehoben. Ziel sei es, „möglichst viele Menschen in den Arbeitsmarkt“ zu integrieren. Die Regierung müsse hierzu eine aktive Arbeitsmarktpolitik betreiben, einschließlich steuerfinanzierter Beschäftigungsprogramme und der Ausweitung beruflicher Qualifizierungsmaßnahmen[11].
Die Chemnitzer Erklärung kann in vielerlei Hinsicht als kohärent mit den traditionellen Positionen der CDA betrachtet werden. Es ist nachvollziehbar, dass die CDA, die stets eine Kombination aus freiem Markt und staatlicher Ordnungspolitik angestrebt hatte, die soziale Marktwirtschaft unterstützt. Ebenso ist es für die CDA folgerichtig, das Sozialversicherungssystem, die Tarifautonomie und die Wohlfahrtsversorgung durch die Familie zu bevorzugen, die im Einklang mit den Prinzipien der christlichen Soziallehre stehen. Bemerkenswert an der Chemnitzer Erklärung ist die Betonung der Integration in den Arbeitsmarkt durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die im kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaat im Vergleich zur passiven Arbeitsmarktpolitik weniger bedeutsam war.
Die aktive Arbeitsmarktpolitik wurde zwar bereits 1969 mit Arbeitsförderungsgesetz eingeführt, gewann jedoch zunehmend an Bedeutung für die CDA. Auf der Bundestagung 1991 war sie ein wichtiges Thema[12], was sich auf der Bundestagung 1993 noch deutlicher zeigte, insbesondere im Beschluss „Die Berufsausbildung: Ein gleichwertiger Bildungsweg“. Dieser Beschluss unterstrich, dass sowohl in Deutschland als auch in Europa Reformen auf dem Arbeitsmarkt, in der Wirtschaft und im Bereich der Bildung und Berufsausbildung erforderlich sind. Nach den Vorstellungen der CDA kam insbesondere der Berufsausbildung eine bedeutende Rolle zu, da sie „Persönlichkeitsentfaltung, die Entwicklung der Mündigkeit mit Qualifizierung für berufliche Arbeit verbindet“. Dadurch könne der Eintritt zum Arbeitsmarkt erleichtert und durch Beschäftigung die „Existenzsicherung“ gewährleistet werden.
Im Beschluss von 1993 plädierte die CDA dafür, „den Erwerb berufspraktischer Qualifikationen mit allgemeinbildenden Abschlüssen zu verbinden“ und die „Schutz- und Fördermaßnahmen für Jugendliche ohne Schulabschluss“ zu verstärken. Zudem sollten der Studienplan und der Unterricht an die Integration in den Arbeitsmarkt angepasst werden.
In diesem Zusammenhang wurde die Weiterbildung, die zentrales Element der aktiven Arbeitsmarktpolitik ist, als eine der entscheidenden Reformmaßnahmen hervorgehoben. Die CDA argumentierte, dass Weiterbildung für die langfristige Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit notwendig sei. Dieses System müsse auch für Personen ohne Qualifikationen zugänglich sein, wobei die Ausbildungszeiten flexibel gestaltet werden sollten. Während der Weiterbildung sei eine angemessene wirtschaftliche Unterstützung sowie Urlaubsansprüche zu gewährleisten. Auch die „Vereinbarkeit von Berufsausbildung, Kinderbetreuung und Pflege in der Berufsbildungspolitik“ müsse Berücksichtigung finden. Um der Weiterbildung das entsprechende Gewicht zu verleihen, müsse die Verabschiedung eines Bundesgesetzes angestrebt werden, das die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten von Wirtschaftsverbänden, Tarifpartnern und Regierung festlege[13].
4. Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaft berufstätiger Frauen in der CDA
Neben der Forderung, die aktive Arbeitsmarktpolitik auszuweiten, gab es auch im Bereich der Familienpolitik eine bemerkenswerte Initiative: Die Abkehr vom männlichen Ernährermodell. Diese wurde in den Anträgen der Arbeitsgemeinschaft berufstätiger Frauen (AbF), einer internen Organisation der CDA, bei der Bundestagung zum Ausdruck gebracht. Im Antrag „Eigenständige wirtschaftliche und soziale Sicherheit für die Frauen in Europa“ erörterte die AbF, dass Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen in keinem europäischen Land akzeptabel seien und sowohl den Arbeitsmarkt als auch die soziale Sicherung reformiert werden müssten.
Bezüglich der Arbeitsmarktpolitik betonte die AbF, Gleichberechtigungspolitik und Chancengleichheit für Frauen seien in Europa von vorrangiger Bedeutung. Sie setzte sich daher für den chancengleichen Zugang zu Bildungs- und Ausbildungsplätzen, Weiterbildung und beruflichem Aufstieg ein. Zudem verlangte die AbF die Beseitigung der Lohndiskriminierung der Frauen und die Umsetzung des Grundsatzes „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“.
Im Bereich der sozialen Sicherung unterstrich die AbF die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sie plädierte für ein flächendeckendes Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen und einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, die Anerkennung des Erziehungsurlaubs mit Beschäftigungsgarantie[14] sowie die bessere Anrechnung der Pflege- und Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung[15].
Zwar übernahm die AbF in der von Männern dominierten CDA keine führende Rolle, dennoch war sie bemerkenswert aktiv: Sie veranstaltete eigenständige Bundestagungen und führte regelmäßig Seminare sowie Gespräche mit Ministerinnen und Politikerinnen durch[16].
Bei den Aktivitäten der AbF in den Jahren 1992 und 1993 lag ein Schwerpunkt auf Änderungen des Grundgesetzes (GG): Am 4. November 1992 richtete die AbF ein Forderungsschreiben an die Verfassungskommission, in der sie eine Ergänzung des Artikel 3 Absatz 2 GG vorschlug. Nach dem Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ sollte der Zusatz eingefügt werden: „Aufgabe des Staates ist es, Bedingungen für die gleichberechtigte Teilhabe der Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen zu schaffen; Maßnahmen zum Ausgleich bestehender Nachteile sind zulässig.“
Überdies forderte die AbF einen neuen Absatz in Artikel 6 GG: „Die staatliche Gemeinschaft ist verpflichtet, Kindererziehung und Pflegeleistungen in der Familie anzuerkennen. Um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleisten, besteht ein Rechtsanspruch auf familienergänzende Kinderbetreuungsplätze.“[17]
Die gesetzliche Verankerung der Gleichberechtigung war eine weitere zentrale Forderung der AbF. Die AbF appellierte an die Bundesverwaltung, Gleichberechtigung substanziell zu verwirklichen. Die Förderung der Frauen müsse durch Maßnahmen unterstützt werden, die ihre beruflichen Qualifikationen verbessern und ihre gesellschaftliche Teilhabe effektiv fördern. Es müsse dazu ein Maßstab zur Bewertung der Gleichberechtigung festgelegt werden.
Die AbF führte zudem aus, dass in jeder Dienststelle ein konkreter „Frauenförderplan“ erarbeitet werden solle. Die Stellenausschreibungen sollten in der Regel in geschlechtsneutraler Sprache erfolgen sowie Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung ermöglichen. Gleichzeitig betonte die AbF die Relevanz der Betreuungsarbeit in der Familie und setzte sich für flexible Arbeitszeiten sowie eine Ausweitung der Teilzeitarbeit ein, die auch bezahlte Freistellungen für die Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Menschen umfassen sollten[18].
Der Beschluss „Frauen für Soziales, Männer für die Wirtschaft?“, der auf der Bundestagung der AbF am 11. und 12. September 1993 in Königswinter verabschiedet wurde, zielte auf die Förderung der Erwerbsbeteiligung und des sozialen Aufstiegs von Frauen ab. In diesem Kontext wurde der deutsche Arbeitsmarkt einer detaillierten Analyse unterzogen: Die strukturellen Disparitäten in der deutschen Wirtschaft manifestierten sich nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch in der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung. Frauen waren einem besonders hohen Risiko der Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Der gesellschaftliche Druck, dass verheiratete Frauen von ihrem Ehemann „versorgt“ werden könnten und daher nicht unbedingt erwerbstätig sein müssten – schließlich nähmen sie so insbesondere in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit den Männern die Arbeitsplätze weg –, war besonders stark ausgeprägt. Dies führt aber zu erheblichen Einschränkungen für Frauen, sich eine eigenständige soziale Absicherung aufzubauen.
In Königswinterer Beschluss der AbF wurden zwei Reformen angeregt. Die erste Reform betraf „Forderungen für eine aktive Arbeitsmarktpolitik/Frauenförderung“. Nach Auffassung der AbF müssten „gezielte berufliche Weiterbildungsmaßnahmen“ durchgeführt werden, um Frauen die Möglichkeit zu geben, eine Anstellung oder Wiedereinstellung zu finden. Das Arbeitsamt sollte verpflichtet werden, die Arbeitsmarktverwaltung unter Berücksichtigung der weiblichen Erwerbsquote zu gestalten und die Ergebnisse dieser Frauenförderung regelmäßig zu veröffentlichen. Die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und öffentlichen Subventionen sollte vom Nachweis einer aktiven Frauenförderung der jeweiligen Unternehmen abhängig gemacht werden.
Die zweite Reform betraf die „Eigenständige wirtschaftliche und soziale Sicherung von Frauen/Vereinbarkeit von Beruf und Familie“. Nach Ansicht der AbF sei der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz sofort umzusetzen. Zudem müsste die Zahl der Einrichtungen zur Ganztagsbetreuung von Kindern aller Altersstufen bedarfsorientiert erhöht werden, um den Anforderungen erwerbstätiger Frauen gerecht zu werden[19].
Die von der AbF gewünschte aktive Frauenförderung und der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen waren darauf ausgerichtet, Frauen durch ihre eigene Erwerbstätigkeit zur wirtschaftlichen Selbstständigkeit zu verhelfen. Darüber hinaus strebte die AbF durch die Reform des Grundgesetzes und die rechtliche Verankerung der Gleichberechtigung an. Aus diesen Bestrebungen lässt sich die Richtung eines Reformkonzepts erkennen, das auf die Abkehr vom männlichen Ernährermodell zielte. Diese Ausrichtung wurde 1993 nicht von der gesamten CDA unterstützt, wie die Chemnitzer Erklärung zeigt, die solche Forderungen nicht enthielt. Allerdings ist bemerkenswert, dass die CDA, um einem Mitgliederrückgang entgegenzuwirken, zunehmend die Interessen von Frauen in den Fokus rückte, wodurch die Positionen der AbF an Bedeutung gewinnen konnten[20].
5. Aktivitäten des CDA-Bundesvorstands
Auf der anderen Seite war der CDA-Bundesvorstand mit dem Reformkonzept zur aktiven Arbeitsmarktpolitik beschäftigt, das auf der Bundestagung in Chemnitz vorgeschlagen wurde. Um 1993 lassen sich die wohlfahrtsstaatlichen Ideen des CDA-Bundesvorstands in zwei Momenten erkennen: zum einen im Zusammenhang mit dem Haushaltsentwurf für 1994 und zum anderen im CDU-Beschluss „Für Wachstum und Beschäftigung“.
Der Haushaltsentwurf für 1994 war eindeutig von einer Konsolidierung geprägt. Die Sparvorschläge der Bundesregierung wurden in der Sitzung des CDA-Bundesvorstands am 10. und 11. September 1993 diskutiert. Dabei erkannte der CDA-Bundesvorstand an, dass der Wiederaufbau Ostdeutschlands zusätzliche finanzielle Anstrengungen des Staates erforderte und die enormen Staats- und Sozialversicherungsschulden eine umfassende Überprüfung sowohl der Einnahmen als auch der Ausgaben notwendig machten.
In den Diskussionen wurde jedoch akzentuiert, dass „das Gerechtigkeitsprinzip bei allen notwendigen Sparmaßnahmen angewandt und die Leistungsfähigkeit des einzelnen Bürgers hinreichend beachtet werden“ müsse. Der CDA-Bundesvorstand lehnte die vorgeschlagenen Kürzungen des Arbeitslosengeldes, der Arbeitslosenhilfe, des Schlechtwettergeldes sowie der Sozialhilfe ab. Das Sparpaket der Bundesregierung wurde „insgesamt als nicht sozial ausgewogen“ kritisiert, und es wurde auf stärkere Sparmaßnahmen in anderen Politikbereichen gedrängt.
Zudem argumentierte der CDA-Bundesvorstand, dass Einschnitte in die Arbeitsmarktpolitik falsch seien. Stattdessen müsse noch stärker in die aktive Arbeitsmarktpolitik investiert werden. Zur Finanzierung dieser Maßnahmen schlug er vor, dass alle Bürger durch Steuereinnahmen einen angemessenen Beitrag leisten sollten[21].
Der im Februar 1994 von der CDU verabschiedete Beschluss „Für Wachstum und Beschäftigung“ umfasste weitreichende Reformen des Sozial- und Arbeitsmarktes, die darauf abzielten, den „Standort Deutschland“ zu stärken. Dieser Beschluss war geprägt von Sparmaßnahmen, wie etwa Kürzungen der Sozialausgaben. Der CDA-Bundesvorstand erhob Einwände gegen diesen Beschluss mit seinem eigenen Programm „Für mehr Beschäftigung und Wachstum: 26 Punkte-Programm der CDA zur Stärkung des Standortes Deutschland“.
In diesem Programm hielt der CDA-Bundesvorstand am Ziel der Vollbeschäftigung fest, obwohl die Vollbeschäftigung als zentrales Element des keynesianischen Wohlfahrtsstaats gilt und in den 1990er Jahren als überholt erschien. Darüber hinaus wurden neue Ideen in das Programm integriert: So betonte man die Notwendigkeit, „die vorhandene Arbeit auf mehr Menschen zu verteilen“, also „Worksharing“ nach niederländischem Vorbild zu betreiben. Daneben sollten auch die Möglichkeiten von Arbeitszeitkonten erweitert werden – ein Instrument, das zudem einen Beitrag zur verbesserten Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu leisten vermag.
Gleichzeitig legte der CDA-Bundesvorstand großen Wert auf eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Nach dessen Ansicht müsse der Arbeitsmarkt stärker präventiv ausgerichtet werden, und die notwendigen Ausgaben müssten für neue Arbeitsförderungsprogramme sichergestellt werden. Arbeit in das Zentrum seiner Forderungen zu stellen, beruhte auch auf der Überzeugung, dass Arbeit eine Form der Selbstverwirklichung sei[22].
Sowohl die Stellungnahmen der CDA zum Haushaltsentwurf der Bundesregierung für 1994 als auch zum CDU-Beschluss „Für Wachstum und Beschäftigung“ verdeutlichen, dass der CDA-Bundesvorstand während der Zeit der Haushaltskonsolidierung auf der Ausweitung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik bestand. Darüber hinaus schlug er nach der Bundestagung 1993 vor, die unzureichende Arbeitsmarktintegration zu verbessern.
6. Fazit
Nach der Wiedervereinigung verfolgte das wohlfahrtsstaatliche Reformkonzept der CDA zwei zentrale Ansätze: erstens die Abkehr vom männlichen Ernährermodell und zweitens die Stärkung der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Das männliche Ernährermodell war im Wohlfahrtsstaat Kontinentaleuropas, insbesondere in Deutschland, stark verankert, was eine eingeschränkte Arbeitsmarktpartizipation von Frauen zur Folge hatte. In der CDA entwickelte sich ein Reformkonzept, das – wie sich in den Aktivitäten der AbF zeigte – durch den Ausbau der Kindertagesbetreuung und die Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen deren wirtschaftliche Selbstständigkeit und soziale Sicherung stärken sollte.
Die aktive Arbeitsmarktpolitik spielte im kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaat der passiven Arbeitsmarktpolitik eine untergeordnete Rolle. Die CDA betrachtete Arbeit als ein Mittel zur Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung und setzte daher verstärkt auf berufliche Ausbildung und Beschäftigungsförderung, um eine breitere Teilhabe aller am Arbeitsmarkt zu ermöglichen[23].
Es ist weithin anerkannt, dass sich das wohlfahrtsstaatliche Konzept der SPD nach der Wiedervereinigung verändert hat. Die SPD erlebte eine „Entsozialdemokratisierung[24]“, befürwortete nicht immer großzügige Geldleistungen und setzte auch Maßnahmen um, die auf Widerstand der Gewerkschaften stießen. Wie diese Studie jedoch zeigt, zeichnete sich auch innerhalb der CDU, einer der „zwei Sozialstaatsparteien“, die Ausarbeitung eines Reformkonzepts ab. Dieses antizipierte sowohl den später von der Regierung Schröder angestoßenen (z.B. das Tagesbetreuungsausbaugesetz) und von der Regierung Merkel (z.B. das Kinderförderungsgesetz) forcierten Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen, als auch die unter der Regierung Merkel ergriffenen Maßnahmen zur Verbesserung der beruflichen Qualifikation, etwa durch das Berufsbildungsgesetz und das Qualifizierungschancengesetz, und damit die zukünftige Ausrichtung des deutschen Wohlfahrtsstaates.
[1] Manfred G. Schmidt, Die Sozialpolitik der zweiten Großen Koalition (2005 bis 2009), in: Christoph Egle und Reimut Zohlnhöfer (Hg.), Die zweite Große Koalition: Eine Bilanz der Regierung Merkel 2005-2009, Wiesbaden 2010, S.302-326, hier S.138.
[2] Laut Korpi fördern die Machtressourcen der Arbeitnehmer die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates. Vgl. Walter Korpi, The Democratic Class Struggle, London 1983.
[3] Vgl. Schmidt, Die Sozialpolitik der zweiten Großen Koalition (2005 bis 2009); Wolfgang Schroeder, Die Sozialpolitik der Union: Christdemokratische Sozialpolitik im Wandel der Zeit, in: Norbert Lammert (Hg.), Christlich Demokratische Union: Beiträge und Positionen zur Geschichte der CDU, München 2020, S.657-700.
[4] Als einige der wichtigsten Studien können zum Beispiel die Werke von Thomas von Winter und Wolfgang Schroeder genannt werden. Vgl. Thomas von Winter, Die Sozialausschüsse der CDU: Sammelbecken für christdemokratische Arbeitnehmerinteressen oder linker Flügel der Partei?, Leviathan 18(3), 1990, S.390-416; Wolfgang Schroeder, Das Katholische Milieu auf dem Rückzug. Der Arbeitnehmerflügel der CDU nach der Ära Kohl, in: Tobias Dürr und Rüdiger Soldt (Hg.), Die CDU nach Kohl, Frankfurt 1998, S.175-192.
[5] Weitere Vereinigungen innerhalb der CDU sind beispielsweise die Junge Union, die Senioren-Union, die Frauen-Union und die Kommunalpolitische Vereinigung, die sich auf bestimmte soziale Gruppen oder Themen konzentrieren und zur Politikgestaltung sowie zur Meinungsbildung innerhalb der Partei beitragen.
[6] In CDU/FDP-Bundesregierungen wurde das Amt des Arbeits- und Sozialministers stets von (ehemaligen) CDA-Abgeordneten wahrgenommen. Beispiele hierfür sind Anton Storch, Theodor Blank, Hans Katzer und Norbert Blüm.
[7] Ein Posten im DGB-Bundesvorstand ist der CDU vorbehalten und wird üblicherweise von einem Mitglied der CDA besetzt.
[8] Die Mitgliederzahl der CDA betrug 1980 über 40.000, lag jedoch im Juli 2019 bei 10.647. von Winter, Die Sozialausschüsse der CDU: Sammelbecken für christdemokratische Arbeitnehmerinteressen oder linker Flügel der Partei?, hier S.333; Horst Granderath, Carsten Pickert und Daniel Westermann, CDA – Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft, in: Norbert Lammert (Hg.), Handbuch zur Geschichte der CDU: Grundlagen, Entwicklungen, Positionen, Darmstadt 2023, S.361-363, hier S.361.
[9] Vgl. Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton 1990; Bruno Palier (Hg.), A Long Goodbye to Bismarck? The Politics of Welfare Reform in Continental Europe, Amsterdam 2010; Kees van Kersbergen, Social Capitalism: A Study of Christian Democracy and the Welfare State, London 1995.
[10] Die christliche Soziallehre, auf der die grundlegenden Werte der CDA basieren, gründet auf drei Prinzipien. Das erste Prinzip ist das Personalitätsprinzip: Jeder Mensch besitzt in seiner Gottesbildlichkeit eine unantastbare Würde und kann seine von Gott vorgegebenen Pflichten erfüllen, indem er Verantwortung in der Gemeinschaft übernimmt. Das zweite Prinzip ist das Solidaritätsprinzip. Demnach müssen die Menschen unabhängig von instanzmäßiger Unterstützung einander auf der Grundlage von Nächstenliebe und Barmherzigkeit helfen, wobei die Starken den Schwachen beistehen sollten. Das dritte Prinzip ist das Subsidiaritätsprinzip, was bedeutet, dass eine höhere Instanz wie der Staat nur dann eingreifen und Unterstützung leisten soll, wenn kleinere Organisationseinheiten wie die Kommune, die Nachbarschaft, die Familie oder der Einzelne nicht in der Lage sind, Probleme in eigener Verantwortung zu lösen. Vgl. Elmar Nass, Sozialprinzipien, in: Matthias Zimmer (Hg.), Grundsätzlich Christlich-Sozial, Freiburg im Breisgau 2023, S.13-28; Oswald von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit: Grundzüge katholischer Soziallehre, München 1980.
[11] Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), 04-013-134/3.
[12] In dem auf der Bundestagung 1991 verabschiedeten Beschluss „Arbeit an der Einheit – Einheit durch Arbeit“ wird die Notwendigkeit betont, das Problem der Arbeitslosigkeit in Ost und West unterschiedlich anzugehen. Um die Langzeitarbeitslosigkeit in den westdeutschen Ländern zu bewältigen, sollten neben der Ausweitung der Arbeitslosenunterstützung auch eine verstärkte Praxisqualifizierung und Ausbildung entsprechend den jeweiligen persönlichen Bedürfnissen gefördert werden. ACDP, 04-013-132/2.
[13] ACDP, 04-013-134/3.
[14] Hier wird auch betont, dass man nach der Elternzeit auf den selben Arbeitsplatz zurück kann.
[15] ACDP, 04-013-166/3.
[16] Zum Beispiel hat die AbF sich mit der damaligen Bundestagspräsidentin und ehemaligen Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, Rita Süssmuth, und der damaligen Bundesministerin für Frauen und Jugend, Angela Merkel, zu Meinungsaustauschen getroffen. Darüber hinaus hat sie mehrmals Aufklärungsaktivitäten organisiert, wie beispielsweise Seminare zu den Artikeln 3, 6 und 16 des Grundgesetzes sowie eine Ausstellung unter dem Titel „Frauen gestern und heute – die manipulierte Frau“.
[17] Ebd. Ingrid Sehrbrock, die die AbF in Hessen mitbegründete und als stellvertretende Bundesvorsitzende der CDA tätig war, brachte die Gründe der AbF, für die genannten Grundgesetzänderungen einzutreten, pointiert auf den Punkt, als sie betonte, der „im Grundsatz verankerte Verfassungsauftrag zur Gleichberechtigung von Mann und Frau [müsse] endlich Wirklichkeit“ werden. Ihr zufolge seien in der 12. Legislaturperiode dringend „Fraueninteressen in die Verfassung“ aufzunehmen.
[18] Darüber hinaus betonte die AbF, dass Teilzeitbeschäftigung das berufliche Fortkommen nicht beeinträchtigen und sich nicht nachteilig auf die dienstliche Beurteilung auswirken dürfe.
[19] ACDP, 04-013-163/1. Auf der Bundestagung der AbF wurden zudem Anträge zur Abstimmung gebracht, die ebenfalls Maßnahmen zur Abkehr vom männlichen Ernährermodell unterstützten. So schlug der CDA-Landesverband Rheinland-Pfalz beispielsweise vor, den ab 1996 vorgesehenen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für drei- bis sechsjährige Kinder vorzeitig einzuführen und den Bundestag zur Novellierung des Gleichberechtigungsgesetzes aufzufordern.
[20] Bereits im Jahr 1993 stand die CDA vor einem organisatorischen Rückgang und bemühte sich daher, ihre männerdominierte Struktur zu reformieren. Tatsächlich lag der Frauenanteil in der CDA 1993 lediglich bei 14,3 Prozent. Daher hatte die CDA auf der Bundestagung 1991 beschlossen, dass der Frauenanteil in den Gremien der CDA mindestens ein Drittel betragen sollte, um die Teilnahme von Frauen zu fördern und ihre Interessen stärker zu vertreten. ACDP, 04-013-134/1.
[21] ACDP, 04-013-142/2. Auf der Einnahmenseite wurde darauf hingewiesen, dass die Belastung der Mittelschicht ihre Grenzen erreicht habe. In der Überzeugung, dass auch die einkommensschwachen Schichten einen Beitrag zu den Staatseinnahmen leisten sollten, schlug der Bundesvorstand vor, die Einführung des für 1995 geplanten Solidaritätszuschlags vorzuziehen.
[22] ACDP, 04-013-143/1.
[23] Allerdings beabsichtigte die CDA nicht, den gesamten Wohlfahrtsstaat grundlegend zu verändern; das Sozialversicherungssystem, die bestehenden Sozialleistungen und die Tarifautonomie sollten weiterhin Bestand haben.
[24] Vgl. Richard Stöss, SPD am Wendepunkt, Marburg 2022.