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Reportajes internacionales

Mehr Parlamentarismus, mehr Demokratie?

de Florian C. Feyerabend, Philipp Artz

Armenier stimmen für Verfassungsreform

Am vergangenen Sonntag stimmten die Armenier in einem Referendum mehrheitlich für eine umstrittene Verfassungsreform, welche einen Wechsel vom derzeitigen semipräsidentiellen System zu einem parlamentarischen System vorsieht. Offiziellen Angaben zufolge stimmten mehr als 63 Prozent für die Verfassungsänderung und somit dafür, dass ein Großteil der Befugnisse des Präsidenten auf den Regierungschef übergeht. Kritiker vermuten hinter der Reform einen geschickten Schachzug des Präsidenten Serzh Sargsyan zur weiteren Machtsicherung. Beobachter berichten von massivem Abstimmungsbetrug.

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Die von dem Präsidenten Serzh Sargsyan initiierte und von seiner regierenden „Republikanischen Partei Armeniens“ unterstützte Verfassungsreform ist ungeachtet möglicher Unregelmäßigkeiten von einer offensichtlich breiten Mehrheit der Abstimmungsberechtigten angenommen worden. Dem vorläufigen Endergebnis der Zentralen Wahlkommission zufolge haben 63,35 Prozent für die Annahme der Reform gestimmt, während 32,35 Prozent sich dagegen ausgesprochen haben. Von den insgesamt 2.566.782 Abstimmungsberechtigten hat nur knapp die Hälfte (50,77 Prozent)ihre Stimme abgegeben.

Fünf Kernpunkte der Verfassungsreform

Gegenstand des Referendums war eine Verfassungsreform zur Überführung des semi-präsidentiellen Systems in ein parlamentarisches mit den folgenden Kernpunkten:

1. Kompetenzerweiterung der Regierung. So sollen die wichtigsten präsidentiellen Vollmachten und Befugnisse auf den Premierminister und sein Kabinett übertragen werden, zum Beispiel auch der Oberbefehl über die Streitkräfte. 2. Stärkung der Rolle der Nationalversammlung. Zukünftig wird die Legislative über die Besetzung des Postens des Regierungschefs entscheiden und die Regierung kontrollieren. Zugleich ist auch ein Wechsel zu einem reinen Verhältniswahlrecht vorgesehen. Gelingt es der stärksten Fraktion nicht mindestens 54 Prozent der Parlamentssitze auf sich zu vereinen (alleine oder in einer Koalition) wird ein zweiter Wahlgang notwendig („54-Prozent-Kriterium“). Dies soll nach offizieller Darstellung die Bildung stabiler Regierungen vereinfachen. 3. Reformierung des Amts des Staatspräsidenten. Dieser wird zukünftig nicht mehr in einer direkten Wahl bestimmt, sondern von einem Wahlkolleg für eine einmalige Amtszeit von sieben Jahren gewählt (statt der bisher fünf Jahre mit der Möglichkeit auf einmalige Wiederwahl). Durch die weitgehende Kompetenzübertragung auf Premierminister und Kabinett wird er zukünftig nur noch über symbolische Macht verfügen und vorwiegend repräsentative Aufgaben wahrnehmen. 4. Stärkung der Kompetenzen der Regionen. Diesen soll mehr Eigenständigkeit zugestanden werden, damit diese im Zuge einer verstärkten Anwendung des Subsidiaritätsprinzips zu einer effizienteren Selbstverwaltung der Regionen beitragen können. 5. Erleichterung des Verfassungsreformprozesses. Zukünftig soll die Nationalversammlung auch ohne Plebiszit die Verfassung ändern können.

Das Referendum vom 6. Dezember 2015 war von dem Präsidenten Sargsyan und der Regierung angesetzt worden, um die geplante Verfassungsänderung durchsetzen zu können. Bereits ein halbes Jahr nach Beginn seiner letzten Amtszeit hatte Präsident Sargsyan am 4. September 2013 mit der Einsetzung einer ad-hoc Verfassungskommission den Reformprozess angestoßen. Ein im März 2014 veröffentlichtes Konzeptpapier hatte bereits Grundzüge und Kernpunkte der angestrebten Reformen erkennen lassen. Der endgültige Entwurf zur Reformierung der Verfassung der Republik Armenien war schließlich im August 2015 vom Präsidenten an die armenische Nationalversammlung übersandt worden und wurde am 5. Oktober mit den Stimmen der regierenden nationalkonservativen „Republikanischen Partei Armeniens“ sowie der linksnationalistischen „Armenischen Revolutionären Föderation“ (Daschnaken) und der Oligarchenpartei „Prosperous Armenia“ im Parlament angenommen. Dadurch war der Weg für das Referendum am 6. Dezember geebnet.

Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung

Auch wenn die Verfassungsreform dem offiziellen Ergebnis nach von einer breiten Bevölkerungsmehrheit getragen wurde, gibt es Kritik an dem Abstimmungsprozess. So fand keine Beobachtung des Plebiszits durch OSZE/ODIHR statt, so dass eine unabhängige und umfassende Abstimmungsbeobachtung nicht gewährleistet war. Zwar haben die interparlamentarischen Versammlungen der GUS – die von „einer freien und fairen Abstimmung“ spricht – und des Europarats Beobachter nach Armenien entsandt, dennoch reichen diese Kurzzeitbeobachtungsmissionen nicht aus, um eine umfassende Kontrolle sicherzustellen.

Neben diesen internationalen Missionen haben sich bis zu 3.000 Vertreter der armenischen Zivilgesellschaft an der Kontrolle des Referendums beteiligt. Diese lokalen Beobachter sprechen von verschiedenen und teilweise offensichtlichen Unregelmäßigkeiten im Abstimmungsprozess. Neben der Auffüllung von Urnen mit vorgefertigten Stimmzetteln soll es auch zu Stimmenkauf gekommen sein. Im Anschluss an das Referendum hatten verschiedene Oppositionsgruppen daher zu Protesten aufgerufen und eine Demonstration vor dem Gebäude der Zentralen Wahlkommission abgehalten. Offizielle Quellen sprechen jedoch von einem einwandfreien Ablauf des Plebiszits.

Pro und Contra

Im Falle von Armenien handelt es sich um einen langen Prozess des Systemwechsels. Die 1995 nach Erlangung der Unabhängigkeit angenommene Verfassung, welche die Verfassung aus Sowjetzeiten aus dem Jahr 1978 ersetzte, sah ein rein präsidentielles System vor. Durch die erste Verfassungsreform 2005 unter dem damaligen Präsidenten Robert Kocharyan wurde dieses System jedoch auf ein semi-präsidentielles System umgestellt. Bei einem semi-präsidentiellen System bildet sich die Regierung aus einer doppelköpfigen („bikephalen“) Exekutive, die zum einen von dem direkt gewählten Präsidenten und zum anderen von dem durch das Parlament gewählten Premierminister gebildet wird. Mit der jetzigen Reform wurde der Schritt hin zu einem rein parlamentarischen System gegangen.

Demnach ist das Amt des Regierungschefs abhängig von der Unterstützung durch die parlamentarische Mehrheit. Er kann daher im Zweifelsfall auch bei ausreichender Mehrheitslage vom Parlament abgewählt werden. Die Befürworter der Verfassungsreform sehen vor allem in dieser Abberufbarkeit der Regierung durch das Parlament einen wichtigen Fortschritt auf dem Wege zu einer funktionierenden Demokratie. Demzufolge werde dadurch die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber der Nationalversammlung gesteigert und damit einhergehend die Notwendigkeit Entscheidungen zu legitimieren und transparent zu handeln. Zum anderen würden dem Parlament mehr Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten gegenüber der Regierung an die Hand gegeben. Auf diese Art und Weise werde ein Mehr an Demokratie sichergestellt. Diese Sichtweise wurde auch von der sogenannten Venedig-Kommission des Europarates geteilt, welche den Verfassungsreformentwurf im Vorfeld als sehr zufriedenstellend bewertete. Jedoch setzt ein parlamentarisches System eine funktionierende Opposition voraus, um die Kontrollfunktion des Parlaments effektiv wahrnehmen zu können. Kritiker weisen darauf hin, dass genau dies in Armenien nicht gegeben ist.

Im Zuge der Parlamentswahl 2012 hat die „Republikanische Partei Armeniens“ die Hälfte der bislang 131 Parlamentsmandate gewonnen. Die andere Hälfte der Mandate wurde von den verschiedenen Oppositionsparteien besetzt unter denen die Partei „Prosperous Armenia“ mit 37 Mandaten die stärkste Kraft bildete. Anfang 2015 hat sich diese eng mit der Person des Oligarchen Gagik Tsarukian verbundene Partei auf Druck des armenischen Präsidenten als funktionierende Oppositionspartei faktisch aufgelöst. Mit dem Abschied Tsarukians aus der Politik ist „Prosperous Armenia“ als ernstzunehmender parlamentarischer Spieler weggefallen. Die Partei ist zwar weiterhin mit Abgeordneten im Parlament vertreten, übernimmt aber die Funktion einer Scheinopposition, die den Kurs der Regierungsmehrheit stützt. Kritiker und unabhängige Quellen sprechen von einer geheimen Absprache hinter verschlossenen Türen zwischen dem Parteivorsitzenden und Oligarchen Tsarukian und dem armenischen Präsidenten Serzh Sargsyan.

Bei der Parlamentsabstimmung über den Verfassungsreformentwurf am 5. Oktober 2015 votierte „Prosperous Armenia“ denn auch für die Annahme der Verfassungsreform. Lediglich der „Armenische Nationalkongress“ (sieben Parlamentssitze) des ersten armenischen Präsidenten Levon Ter-Petrosyan und die nationalliberale „Heritage“-Partei (fünf Parlamentssitze) des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Raffi Hovannisian stimmten geschlossen gegen die Annahme der Reformen. Den Oppositionsparteien gelang es jedoch nicht, eine öffentliche Diskussion über die Verfassungsreform anzustoßen oder gemeinsam Kräfte gegen das Referendum zu mobilisieren.

Aufgrund des offensichtlichen Fehlens einer schlagkräftigen parlamentarischen Opposition stufen Beobachter Armenien mittlerweile als ein dominantes Einparteiensystem bzw. als sogenanntes „1½-Parteiensystem“ ein. Die nun durch die Verfassungsreform neugeschaffenen Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten werden daher von der Opposition aller Voraussicht nach nicht effektiv wahrgenommen werden können, argumentieren Kritiker. Zugleich begünstige das „54-Prozent-Kriterium“ die dominante „Republikanische Partei Armeniens“.

Ein weiterer schwerwiegender Kritikpunkt ist, dass es der Regierungspartei nicht um eine voranschreitende Demokratisierung der ehemaligen Sowjetrepublik gehe, sondern um den Machterhalt des derzeitigen Präsidenten. Serzh Sargsyan ist seit 2008 Staatspräsident Armeniens und befindet sich nach seiner Wiederwahl 2013 derzeit in seiner zweiten und verfassungsrechtlich letzten Amtszeit, die 2018 endet. In diesem Zusammenhang werfen ihm Oppositionspolitiker vor, dass er sich durch die Reform für das freiwerdende – und nun mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattete – Amt des Regierungschefs positionieren wolle, um die Verfassungsschranke zu umgehen und im Amt des Premierministers weiterhin die Richtlinien der Politik vorzugeben. Sargsyan hatte als Reaktion auf diese Kritik öffentlich mehrfach versichert, dass er nach Ablauf der letzten Amtsperiode für kein weiteres öffentliches Amt kandidieren werde – auch nicht für das des Regierungschefs. Unabhängige Beobachter gehen aber davon aus, dass er zwar nicht zwingend als Premierminister, wohl aber in Funktion des Parteivorsitzenden der regierenden „Republikanischen Partei Armeniens“ als „graue Eminenz“ die Zügel weiterhin fest in der Hand behalten wird.

Parlamentarismus kein Garant für mehr Demokratie

Mit dem klaren Ausgang des Plebiszits vom vergangenen Sonntag geht ein Systemwechsel einher, weg von einem semi-präsidentiellen, hin zu einem parlamentarischen Regierungssystem. Ob dadurch tatsächlich ein Mehr an Demokratie gewonnen wird, bleibt derzeit jedoch mehr als fraglich.

Berichte über Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung sowie der Mangel an öffentlicher Diskussion beziehungsweise das öffentliche Desinteresse an der Verfassungsreform stimmen bedenklich. Offen ist derzeit auch, ob Präsident Sargsyan nach Ablauf seiner letzten Amtszeit 2018 das politische Feld räumen wird. Unstrittig ist jedoch, dass es in Demokratien nur sekundär darauf ankommt, ob es sich um ein parlamentarisches, präsidentielles oder semi-präsidentielles System handelt. Prioritär ist das Vertrauen und die Akzeptanz des Systems innerhalb der Bevölkerung sowie das Vorhandensein einer wirklichen politischen Kontrolle der Exekutive durch eine parlamentarische Opposition. Hier besteht für die Republik Armenien durchaus noch Nachholbedarf. In einem schwierigen Umfeld muss Armenien für seine Demokratie eintreten.

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erscheinungsort

Eriwan Armenien