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"Der Riese ist aufgewacht"

autori Lukas Lingenthal, Lena Fischer

Massenproteste in Brasilien - Eine Zwischenbilanz dreier intensiver Wochen

Bereits seit über drei Wochen finden in ganz Brasilien Demonstrationen statt. Als eine der Konsequenzen hat der Nationalkongress innerhalb von drei Tagen mehr Gesetzesvorhaben „abgearbeitet“ als sonst in drei Jahren. So bringt es zumindest der Volksmund etwas überspitzt auf den Punkt. Doch auch ohne Übertreibung hat der Riese Lateinamerikas in den vergangenen Wochen eine politische Dynamik und Bewusstseinsschaffung erlebt, wie es vorher niemand hätte erahnen können. Auf vielen Plakaten der Demonstranten prangerte daher der Spruch „O gigante acordou“ – der Riese ist aufgewacht.

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Entzündet hatten sich die Proteste Anfang Juni an einem relativ kleinen Funken: die Erhöhung der Fahrpreise des öffentlichen Nahverkehrs in mehreren Städten. Vor allem in São Paulo gingen einige hundert bis tausend Demonstranten gegen diese auf die Straße, aufgerufen durch die Organisation „Passe Livre“, die sich originär für einen vollkommen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr einsetzt. Solche kleineren Demonstrationen gibt es öfters in Brasilien. Doch dieses Mal kamen weitere Faktoren hinzu, die aus dem kleinen Strohfeuer in kürzester Zeit einen Flächenbrand machen sollten, der die gesamte politische Elite des Landes unter enormen Druck setzte.

Zum einen führte die übertriebene Gewalt von Seiten der Polizei bei einigen der Aktionen, vor allem in São Paulo, zu einer Welle der Empörung. Zum anderen lagen die Proteste in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum FIFA Confederations Cup - der Generalprobe für die im kommenden Jahr anstehende Fußball-Weltmeisterschaft. Für die Stadien der Fußball-WM wurden entgegen aller vorherigen Versprechen Summen in Milliardenhöhe aus den öffentlichen Kassen ausgegeben, obwohl zu Beginn eine weitestgehend private Finanzierung geplant war. Auch die versprochenen Verbesserungen für die Bevölkerung, zum Beispiel im Bereich der Infrastruktur und des öffentlichen Nahverkehrs, sind bis heute kaum spürbar und hinter dem zurückgeblieben, was anfangs angedacht war. Dazu kam eine über Jahre angestaute Wut über das marode Bildungs- und Gesundheitssystem. Für viele Brasilianer war es ein Hohn, dass für diese wichtigen Sektoren der öffentlichen Versorgung trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs der vergangenen Dekade und der steigenden Steuereinnahmen des Staates angeblich nicht genügend Geld vorhanden war, für die Stadien nach FIFA-Standard aber schon. Auch die Korruption in Brasiliens Politik war den Bürgern schon seit langem ein Stein des Anstoßes. Dies alles entlud sich nun auf einen Schlag und so war die Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen bei weitem nicht die einzige Forderung, die auf den Transparenten der Demonstranten zu lesen war.

Erst verhalten, dann ganz schnell – die Reaktionen aus der Politik

Während der gesamten drei Wochen des Confederations Cup hielten die Proteste in hunderten Städten des Landes an. Nicht immer überall zur gleichen Zeit, doch brach der Strom an Nachrichten über Demonstrationen im ganzen Land keinen Tag ab. Den Höhepunkt erlebte die Protestbewegung am Donnerstag, den 20. Juni, als in über hundert Städten zur selben Zeit Millionen von Menschen auf die Straße gingen.

Bis dahin hatten sich die führenden Politiker des Landes noch sehr zurückhaltend geäußert und sich vor allem überrascht gezeigt. Die Bürgermeister vieler Städte waren die ersten, die mit konkreten Stellungnahmen reagierten und auf die erste Forderung, die Rücknahme der Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr, eingingen. Schon nach dem ersten großen Protesttag am 17. Juni wurde in einem Dutzend der Städte, darunter Rio de Janeiro und São Paulo, die Fahrpreiserhöhung zurückgenommen. Doch dies nahm den Protesten keineswegs den Wind aus den Segeln, sondern verstärkte sie sogar nach dem Motto „Jetzt erst recht!“, was nur wenige Tage später, am 20. Juni, deutlich wurde.

Präsidentin Dilma Rousseff hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt öffentlich eher verhalten dahingehend geäußert, dass Demonstrationen generell ein Zeichen der Stärke einer Demokratie seien, dass die „Stimmen der Straße“ gehört werden müssten und dass sie aber jegliche Art von Gewalt deutlich verurteile und nicht als Teil der legitimen Demonstrationen ansehe. Spätestens nach dem 20. Juni war jedoch klar, dass dies allein nicht reichen würde, um die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen, und dass die Präsidentin, aber auch die Gouverneure und die Abgeordneten des Nationalkongresses und der Landesparlamente, konkreteres liefern mussten.

Am 24. Juni traf sich Rousseff mit allen 27 Gouverneuren und den 26 Oberbürgermeistern der Hauptstädte. Im Anschluss an dieses Treffen verkündete sie einen „nationalen Pakt“. Dafür bediente sie sich zum ersten Mal in ihrer Amtszeit einer Ansprache an die Nation per Gleichschaltung aller Fernseh- und Radiosender. Dieses Instrument ist der Präsidentin für Belange von höchstem nationalem Interesse vorbehalten. Dabei rief sie zu einem schnellen und geschlossenen Handeln aller beteiligten Entscheidungsträger der verschiedenen föderalen Ebenen auf und versprach den Demonstranten, dass ihre Forderungen Gehör finden würden.

In der anschließenden Sitzungswoche des Nationalkongresses, vom 25. bis 27. Juni, fielen sodann im Rekordtempo mehrere grundlegende Entscheidungen zur Korruptionsbekämpfung sowie zu den Ausgaben für Bildung und Gesundheit. Auch die Abgeordneten und Senatoren sahen sich angesichts der Bilder von den auf dem Dach des Parlamentsgebäudes protestierenden Demonstranten mindestens dem Druck ausgesetzt, den Rousseff verspürt haben muss. Vor allem die Forderungen nach härterem Vorgehen gegen die Korruption und für mehr Ausgaben für das Bildungs- und Gesundheitswesen waren Anliegen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den im Nationalkongress anstehenden Entscheidungen standen.

Bekämpfung der Korruption

Bekämpfung der Korruption

So wurde die Ablehnung eines Verfassungsänderungsvorschlages, welcher die Ermittlungsbefugnisse des Ministério Público - einer Art unabhängiger Staatsanwaltschaft - einschränken sollte, auf vielen Plakaten gefordert. Gab es vor den Protesten in der Abgeordnetenkammer des Nationalkongresses noch eine knappe Mehrheit für diese Verfassungsänderung, wurde sie nun mit überwältigender Mehrheit abgelehnt.

Der sogenannte PEC37 hatte im Grunde zum Ziel, das Recht der strafrechtlichen Ermittlung dem Ministério Público zu entziehen und in Zukunft allein der Polizei zu überlassen. Bisher waren beide Institutionen gleichermaßen ermittlungsberechtigt. Zu diesem Zweck sah der PEC 37 vor, den Artikel 144 der Verfassung, der sich auf die öffentliche Sicherheit bezieht, um einen neuen Absatz zu ergänzen, der ausdrücklich und ausschließlich die Bundespolizei für die Ermittlungen bezüglich der in dem Artikel genannten Straftaten ermächtigte.

Dieser Gesetzesentwurf hatte die Gründung der Kampagne „Brasil contra a impunidade" (Brasilien gegen Straflosigkeit) zur Folge. Die der Kampagne zugehörigen Juristen und politischen Akteure sind der Meinung, dass ein Großteil der strafrechtlichen Untersuchungen in der Vergangenheit einzig und allein auf die Initiative des Ministério Público zurückzuführen sei. Im brasilianischen Kontext sei ein System von Checks and Balances auch zwischen voneinander unabhängigen Ermittlungsbehörden notwendig. Als ein Beispiel wird dabei stets auf den Mensalão-Prozess verwiesen, der zu einem großen Teil auf Ermittlungsergebnissen des Ministério Público basierte. Dieser Prozess, in dem 2012 Urteile gegen mehrere aktuelle und ehemalige Politiker des Regierungsbündnisses ergingen, geht auf einen Korruptionsskandal aus der ersten Amtszeit Lulas zurück und ist der bislang größte Gerichtsprozess Brasiliens in einem Korruptionsfall gewesen.

Eine weitere Entscheidung des Nationalkongresses betraf die Verschärfung der Strafen für Korruptionsverbrechen. In den Vorjahren war diese bereits zwei Mal abgelehnt worden. Nun wurde im Eilverfahren durch beide Kammern des Hauses beschlossen, dass Korruption in Zukunft als schweres Verbrechen eingestuft wird. Dieses entschiedene und schnelle Vorgehen einer großen Mehrheit der Abgeordneten verschreckte einen ihrer Kollegen besonders. Der Abgeordnete Natan Donadon, der wegen Korruption bereits verurteilt worden war, sich jedoch bislang auf seine Immunität als Abgeordneter berufen konnte und nun aber von der Polizei gesucht wurde, tauchte kurzzeitig unter. Wenig später, am 28. Juni, stellte er sich jedoch den Behörden. Damit ist er der erste Abgeordnete Brasiliens seit dem Ende der Militärdiktatur, der während seiner Amtszeit eine Haftstrafe antritt. Von seiner Partei PMDB wurde er mittlerweile ausgeschlossen.

Offen blieb noch die Abstimmung über einen zweiten Verfassungsänderungsvorschlag, den sogenannte PEC 33. Dabei handelt es sich um eine geplante Änderung von insgesamt drei Artikeln der Verfassung, die sich auf die Beurteilung der Verfassungskonformität von Gesetzen beziehen. Danach sollte zunächst der Artikel 97 der Verfassung dahingehend geändert werden, dass in Zukunft eine Mehrheit von vier Fünfteln der Richter des Verfassungsgerichts notwendig wäre, um ein Gesetz für verfassungswidrig zu erklären - das wären neun von insgesamt elf Stimmen. Bislang ist eine absolute Mehrheit, also sechs Stimmen, ausreichend. Bei verfassungsändernden Gesetzesvorhaben wäre der Oberste Gerichtshof nicht mehr die letzte Entscheidungsinstanz. Stattdessen müsste der Kongress im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtes noch einmal über das jeweilige Gesetzesvorhaben abstimmen. Bei fehlender Mehrheit im Parlament würde eine Volksbefragung folgen. Auch bei der Harmonisierung der Rechtsprechung sollten Kompetenzen des Verfassungsgerichts an den Nationalkongress übergehen. Die Auslegung von strittigen Rechtsnormen würde demnach in Zukunft dem Parlament obliegen, das in beiden Kammern mit absoluter Mehrheit darüber entscheiden könnte.

Joaquim Barbosa, Vorsitzender Richter des Obersten Gerichtshofs und seit dem Mensalão-Prozess ein gefeierter Volksheld, kritisiert den PEC33 als Eingriff in die Gewaltenteilung scharf. Genau wie bei dem PEC37 wird bei den Demonstrationen auch eine Ablehnung des PEC33 gefordert. Als besonders provokativ empfinden zudem viele Brasilianer, dass zwei der im Mensalão-Prozess durch den Obersten Gerichtshof verurteilten PT -Abgeordneten Mitglieder des Rechtsausschusses des Nationalkongresses sind und in dem Ausschuss die Arbeit an dieser Verfassungsänderung vorangetrieben haben.

Öleinnahmen für Bildung und Gesundheit

Öleinnahmen für Bildung und Gesundheit

Doch neben der Bekämpfung von Korruption waren zwei weitere wesentliche Hauptforderungen der Demonstranten die Verbesserung des öffentlichen Bildungs- und Gesundheitswesens. Auch hierauf reagierte der Nationalkongress. Präsidentin Rousseff hatte bereits einige Wochen zuvor einen Gesetzesentwurf eingebracht, nach dem 100 Prozent der staatlichen Einnahmen aus der Ölförderung vor der brasilianischen Küste in die Bildung fließen sollten. Dieser Entwurf wurde nun aufgegriffen und dahingehend modifiziert, dass letztlich 75 Prozent der Einnahmen der Bildung und 25 Prozent dem Gesundheitssektor zugutekommen sollen. Dies soll rückwirkend für alle staatlichen Einnahmen aus Ölförderungen gelten, die eine Lizenz nach dem 3. Dezember 2012 erhalten haben.

Damit dürfte ein über Monate schwelender Streit über die Verteilung der Einnahmen aus der Ölförderung entschieden sein. Vor allem aus den Erdölfeldern vor der Küste der Bundesstaaten Rio de Janeiro, Espirito Santo und São Paulo erhofft sich Brasilien in den kommenden Jahren Milliardeneinnahmen. Bisher galt neben der technischen Herausforderung, Öl aus bis zu 7.000 Metern Tiefe zu fördern, die unsichere Gesetzeslage als ein Grund für den nur schleppenden Anlauf der Förderung.

Wieder auf der Agenda: Die politische Reform

Neben den Punkten, die offensichtlich auf den Transparenten der Demonstranten zu lesen waren, hatte Präsidentin Rousseff in ihrer Ansprache an die Nation einen weiteren auf die Tagesordnung gesetzt: die politische Reform. Die politische Reform ist ein ganzes Gesetzespaket, welches grundlegende Neuregelungen vorsieht, jedoch bereits seit Jahren im Nationalkongress ohne wirkliche Fortschritte behandelt wird. Dabei geht es insbesondere um die Reform der Parteienfinanzierung und des Wahlmodus, die in Ihrer jetzigen Fassung als eine der Ursachen für Korruption und Günstlingswirtschaft sowie für die nur sehr geringe Bedeutung von Parteiprogrammen und eine geringe Bürgerbeteiligung gelten. Nun steht zur Debatte, ob die Parteien- und Wahlkampffinanzierung zumindest teilweise aus öffentlichen Geldern realisiert werden soll, um so die Abhängigkeit von Großspendern zu verringern. Die Alternative zum derzeitigen Wahlmodus einer Verhältniswahl mit offenen Parteilisten ist die Einführung von Wahlkreisen oder Wahldistrikten, in denen jede Partei jeweils einen Kandidaten benennen darf. Dadurch soll eine höhere Bindung der Abgeordneten an ihre Wählerbasis gefördert werden. Außerdem soll dadurch verhindert werden, dass ein einzelner Kandidat, der sehr viele Stimmen auf sich vereint, andere Kandidaten der Parteiliste mitziehen kann, obwohl die Partei an sich nur wenige Stimmen erhalten hat. Auch die Frage danach, ob es unabhängige Kandidaten geben kann, könnte Inhalt der Reform werden. Bisher ist die Zugehörigkeit zu einer Parteiliste Voraussetzung für die Aufstellung zur Wahl. Dass noch weitere Punkte der politischen Reform mitbehandelt werden, wie zum Beispiel die Einführung einer Sperrklausel, ähnlich der 5-Prozent-Hürde in Deutschland, ist eher unwahrscheinlich. Dazu dürfte der Zeitdruck zu groß sein, weshalb sich Rousseff auch bereits auf die ersten beiden Punkte als Priorität festgelegt hat.

Die Präsidentin hatte zunächst angekündigt, die politische Reform durch eine verfassungsgebende Versammlung durchführen zu wollen, musste sich in diesem Punkt jedoch nur einen Tag später korrigieren. Denn eine solche Gesetzesreform ist durch eine verfassungsgebende Versammlung gar nicht möglich und zudem auch nicht notwendig, da es sich um Änderungen einfacher Gesetze handelt. Stattdessen schlug Rousseff nun vor, eine Volksbefragung über die politische Reform durchzuführen, die anschließend über den normalen Weg der Legislative beschlossen werden müsste. Dieses Projekt liegt nun beim Nationalkongress, der über den genauen Inhalt des Plebiszits entscheiden muss.

Doch viele Aspekte sind noch ungeklärt. Allen voran die Frage, ob ein solches Plebiszit überhaupt in der von der Präsidentin vorgeschlagenen Form möglich ist. Auch der Zeitrahmen stellt ein Problem dar. Damit etwaige Gesetzesänderungen bereits für die Präsidentschafts- und Kongresswahlen 2014 gültig sind, müssten sie mindestens ein Jahr vorher in Kraft treten, also spätestens am 5. Oktober 2013. Die Oberste Wahlbehörde hatte dafür einen straffen Zeitplan vorgeschlagen. Nach einem Treffen von Vertretern der Regierungskoalition im Kongress verkündete Vizepräsident Temer jedoch, dass der Zeitplan nicht einzuhalten sei. Stattdessen wird die Volksbefragung nun wohl frühestens im Oktober 2014 abgehalten, vielleicht sogar zusammen mit einer eventuellen Stichwahl um das Präsidentenamt. Dies ist sicherlich nicht das, was sich die Brasilianer nach der Ankündigung Rousseffs erhofft hatten. Die Präsidentin hat damit also eine Angriffsfläche gegen die eigene Person geschaffen, die ursprünglich nicht da war.

Anhaltende Demonstrati onen

Während sich die Ereignisse in Brasília überschlugen, wurden die Demonstrationen landesweit fortgeführt. Viele Demonstranten sahen nun die Zeit gekommen, sich nicht allzu schnell abspeisen zu lassen und mit Nachdruck auf den Forderungen zu bestehen. Viele davon seien schließlich nicht über Nacht zu erfüllen und dürften nicht, wie in der Vergangenheit schon so oft geschehen, im Mühlwerk der Ausschüsse des Nationalkongresses zerredet werden.

In den Spielstätten des Confederations Cups fanden an den Spieltagen stets große Märsche rund um die Stadien statt. Oft endeten die Proteste in gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen Randalierern und der Polizei. Die große Mehrheit der Demonstranten blieb zwar stets friedlich und distanzierte sich ausdrücklich von der Gewalt als Mittel. Jedoch gab es immer wieder auch Berichte von unverhältnismäßig hartem Vorgehen der Polizei gegen friedliche Demonstranten. Die Sicherheitskräfte schienen in einigen Situationen schlicht überfordert mit der Lage, für die tatsächlich nur relativ wenige Einheiten ausgebildet sind. Solche Großdemonstrationen hatte es in Brasilien schließlich seit über 20 Jahren nicht mehr gegeben. Entsprechend fielen einige Polizisten in Verhaltensmuster zurück, die man eher beim Kampf gegen bewaffnete Drogenbanden vermuten würde. Die Staatsanwaltschaft hatte daraufhin angekündigt, Fälle von zu harter Polizeigewalt zu untersuchen.

Doch trotz der anhaltenden Proteste, die in einigen Städten auch nach der Woche der Entscheidungen in Brasília zehntausende von Demonstranten zusammenbrachten, gewann man mehr und mehr den Eindruck, dass sich die Bewegung zerfaserte. Auf viele der Hauptforderungen der Demonstranten hatte die Politik reagiert. Die Demonstrationen wurden mit immer mehr Themen angereichert, die teilweise nur kleine Gruppen betreffen. Ein entscheidendes Anliegen konnten immerhin die Gruppen erreichen, die für die Rechte Homosexueller eintreten und mit denen sich während der Proteste viele der übrigen Demonstranten solidarisiert hatten. Ein Gesetzesvorhaben, welches eine psychologische Behandlung ermöglichen sollte, um homosexuelle Personen zu „heilen“, wurde, nachdem es bereits durch die entscheiden Ausschüsse beschlossen worden war, durch die Abgeordnetenkammer zu den Akten verfügt, ohne Gültigkeit zu erlangen.

Die Proteste wurden jedoch nicht nur zur Äußerung legitimer Anliegen genutzt. Es kam auch zu einigen Fällen von Missbrauch. So wurde zum Beispiel in Facebook zu Demonstrationen aufgerufen, mit denen die Organisatoren lediglich Unruhe stiften wollten, um die anschließende Verwirrung für Plünderungen auszunutzen. Auch war bei Facebook ein Aufruf zum Generalstreik am 1. Juli aufgetaucht, von dem sich die führenden Gewerkschaftsverbände jedoch distanzierten. Sie selbst wollen nun für den 11. Juli einen Generalstreik ausrufen.

Schwindende Zustimmungswerte für Dilma Rousseff

Dennoch hielten die ernst gemeinten politischen Proteste bis zum Endspiel des Confederations Cups am 30. Juni an, wenn auch mit geringeren Teilnehmerzahlen. Rousseff hatte ihre Anwesenheit auf der Ehrentribüne abgesagt, war sie doch bereits bei der offiziellen Eröffnung in Brasília von den Fans ausgepfiffen worden. Ihre Beliebtheitswerte sind seither drastisch gefallen. Laut dem Meinungsforschungsinstitut Datafolha bewerten gerade noch 30 Prozent der Brasilianer ihre Arbeit als positiv. Das vorherige Ergebnis, welches Anfang Juni veröffentlicht wurde, attestierte ihr noch eine Zustimmungsquote von 57 Prozent. Mit diesem dramatischen Zustimmungsverlust von 27 Prozentpunkten innerhalb nur weniger Wochen ist die Präsidentin heute bei einem Wert engelangt, der unter dem ihrer beiden Vorgänger im letzten Jahr ihrer ersten Amtszeit liegt. Bei Fernando Henrique Cardoso (PSDB) waren es 39 Prozent, bei Luiz Inácio „Lula“ da Silva 36 Prozent. In der Wirtschaftspolitik hatten ihr Anfang Juni noch 49 Prozent der Befragten eine gute Kompetenz bescheinigt, nun ist deren Zahl auf 27 Prozent gesunken. Auch das Krisenmanagement der Staatschefin während der letzten Wochen wird von nur einem knappen Drittel der Befragten als gut bezeichnet. 38 Prozent halten es für mittelmäßig, 26 Prozent für schlecht.

Den Vorschlag zu einem Plebiszit zur politischen Reform hält hingegen eine große Mehrzahl der Befragten für eine gute Idee: 73 Prozent sprachen sich dafür aus. Auch die Proteste an sich werden laut dieser Umfrage von einem großen Teil der Bevölkerung mitgetragen: 81 Prozent der Befragten äußerten sich positiv. Diese Ergebnisse bringen nicht nur die schlechten individuellen Werte Rousseffs zum Ausdruck, sondern die allgemeine große Unzufriedenheit mit der Arbeit der brasilianischen Politiker. Nicht ohne Grund waren auf den Demonstrationen keinerlei Parteifahnen erwünscht, ganz gleich aus welchem politischen Lager. Es wundert daher auch nicht, dass die in Aussicht gestellte Volksbefragung und die Protestbewegung als Ganzes eine solch hohe Zustimmung erfahren.

Aussicht auf ein erfolgreiches Finale?

Es ist offensichtlich, dass Dilma Rousseff nun schwer angeschlagen ist, was vor wenigen Monaten noch niemand vermutet hätte. Der Druck und die Nervosität waren ihr sichtlich anzumerken. Nach den Demonstrationen vom 17. Juni flog sie zunächst nach São Paulo, um sich mit ihrem Amtsvorgänger Lula zu beraten, was ihr als Schwäche ausgelegt wurde. Ihre voreilige Ankündigung der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung am 24. Juni musste sie nur einen Tag später korrigieren. Vor ihren öffentlichen Auftritten hatte sie sich zudem nicht mit ihrem wichtigsten Koalitionspartner, der PMDB, abgestimmt. Ihr Vizepräsident Michel Temer reagierte entsprechend irritiert auf diese Alleingänge. Und schließlich könnte gerade die Popularität, die das von ihr vorgeschlagene Plebiszit genießt, ihr nun wegen der vielen Ungereimtheiten und Verzögerungen gefährlich werden.

Doch nicht nur Rousseff handelte plötzlich übereilt. Auch die Geschwindigkeit, mit der im Nationalkongress Gesetzesvorhaben beschlossen oder abgelehnt wurden, war zuvor nicht gesehen worden und zeugt von dem enormen Druck, den auch die Abgeordneten spürten.

Ob die Proteste noch einige Zeit weitergehen – und wenn ja, in welchem Ausmaß –, ist nach wie vor schwer vorauszusehen. Die brasilianischen Demonstranten haben in wenigen Wochen viel erreicht und werden in jedem Fall aufmerksam verfolgen, welche messbaren Konsequenzen nun dem politischen Handeln in Brasília und den Landeshauptstädten entspringen. Allen Beteiligten dürfte mittlerweile klar sein, dass die Brasilianer – und allen voran die brasilianische Mittelschicht – in Zukunft strenger darauf achten werden, was ihre Volksvertreter tun und wohin ihre Steuergelder fließen. Sie scheinen tatsächlich aufgewacht zu sein, wie es auf vielen Plakaten zu lesen war. Selbst ein Confederations Cup, den Brasilien in einem phänomenalen Endspiel mit 3:0 gegen Spanien gewann, kann die fußballverrückten Brasilianer hiervon nicht mehr ablenken. Im Verhältnis zu den Protesten war dieser Sieg nur eine Randnotiz.

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