Wie kommt es, dass Hermann Melvilles Erzählung Bartleby, der Schreiber aus dem Jahr 1853 berühmter war als sein zuvor publizierter Roman Moby Dick? Warum wurde die kurze Story von dem radikal untätigen Anwaltsgehilfen Bartleby erst in den 1940er Jahren in Europa populär? Und was hat Bartleby für die Occupy-Bewegung und den Berliner „Verein Haus Bartleby“ so attraktiv gemacht?
Das erfuhr ein abermals international zugeschaltetes Publikum im 15. studio online der KAS von dem Schriftsteller, Dramaturgen und Übersetzer Karl-Heinz Ott. Er hat jetzt im Kampa Verlag Melvilles Geschichte aus dem Englischen ins Deutsche gebracht.
Melvilles Moby Dick sei ein Flop gewesen, erklärte Ott im Gespräch mit dem Literaturreferenten der Stiftung. Kein Abenteuerroman, sondern viel zu modern für seine Zeit. Daher habe Melville danach mit Bartleby eine Art harmloseren Ahab entworfen. Eine Figur, an der realistische, marxistische und psychoanalytische Interpretationen zerbrechen. Denn was ist Bartleby mit seinem bekannten Mantra „Ich möchte lieber nicht“ („I would prefer not to“)? Ein Vorläufer des Existentialismus, der glauben will, aber nicht glauben kann? Ein Miniatur-Messias, ein Erlöser oder ein Zerstörer? Ein entfremdeter Arbeiter oder ein Arbeitsverweigerer, ein Diogenes im Home Office oder ein unfreiwilliger kafkaesker Komiker? Oder aber der „Modellfall eines Außenseiters“, wie ein Zuhörer aus Kiel mutmaßte? Auf jeden Fall – das macht Karl-Heinz Ott in seinem Kommentar deutlich – ist die Figur ein andauerndes Rätsel und eine Herausforderung gerade auch für unsere Zeit.
Zum Abschluss der Veranstaltung gab es ein exklusives ‚Preview‘: Karl-Heinz Ott stellte den Anfang seines Romans Die Heilung von Luzon vor, der am 19. August im Hanser Verlag erscheint. Eine Geschichte von Wundern und der Heilbedürftigkeit von Beziehungen. Mit leichter Traurigkeit auf heiterem Grund. Was auch für Bartleby gilt, der nicht verhindern, aber darauf deuten kann, was er nicht will.
Michael Braun
Über diese Reihe
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