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Essay

Das Scheitern der EVG: Rückblick mit Respekt, aber ohne Nostalgie

von Wilfried von Bredow

Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft war nicht lebensfähig

Nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs versuchten Frankreich, Großbritannien, Belgien und die Niederlande gegen die sowjetische Bedrohung eine gemeinsame europäische Armee aufzustellen, zu der auch ein wiederbewaffnetes Westdeutschland beitragen sollte. Wilfried von Bredow erläutert die unterschiedlichen Beweggründe der Beteiligten, den historischen Hintergrund, warum das Projekt scheiterte – und wieso der NATO-Beitritt der Bundesrepublik am Ende die „bessere Lösung“ war.

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Am 30. August 1954 ließ die französische Nationalversammlung den mühsam ausgehandelten Vertrag über die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft scheitern. Bis auf Italien hatten die anderen Verhandlungspartner, nämlich die Benelux-Staaten und die Bundesrepublik Deutschland, diesen Ende Mai 1952 vorgelegten Vertrag bereits ratifiziert. Über das Nein Frankreichs, wiewohl nicht wirklich eine Überraschung, zeigte sich der deutsche Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer schwer enttäuscht. In seiner Rundfunkansprache am 4. September 1954 machte er daraus kein Hehl. Zugleich meinte er, dass trotz dieses Scheiterns die von der Bundesregierung verfolgte Europapolitik das Ansehen und den Einfluss der Bundesrepublik außerordentlich gestärkt hätten.

 

Enttäuschung und Erleichterung

Das stellte sich als richtiges Urteil heraus. Die EVG war zwar vom Tisch, aber es blieb die Notwendigkeit, dem militärischen Übergewicht der Sowjetunion etwas entgegenzustellen und die Verteidigungsfähigkeit der NATO-Staaten in Europa zu erhöhen. Das sollte vor allem aus der Sicht Washingtons rasch geschehen. Und so verliefen die auf das Scheitern der EVG folgenden innerwestlichen Absprachen in ungewöhnlich raschem Tempo. Zunächst machte Großbritannien den Vorschlag, den Brüsseler Pakt zur Westeuropäischen Union (WEU) umzuwandeln und die Bundesrepublik aufzunehmen. Ende Oktober 1954 begann dann in Paris eine Konferenz, auf der mit wechselndem Teilnehmerkreis die Aufgaben der WEU festgelegt, der Deutschlandvertrag (der das Besatzungsstatut ablöste) ausgearbeitet, eine Lösung der Saarfrage konzipiert sowie die Aufnahme der Bundesrepublik mit eigenen nationalen Streitkräften in die NATO beschlossen wurde. Am 23. Oktober 1954 wurde das Konvolut der Pariser Verträge unterschrieben. Nach ihrer Ratifizierung durch die Parlamente der beteiligten Staaten wurde der NATO-Beitritt der Bundesrepublik am 5. Mai 1955 vollzogen, wenig mehr als acht Monate nach dem Aus der EVG. Von Konrad Adenauer ist der Satz überliefert, formuliert vor dem CDU-Bundesvorstand, die neue Organisation der westlichen Verteidigung sei für die Deutschen insgesamt viel besser, als es die EVG gewesen wäre.

23. Oktober 1954: Bundeskanzler Konrad Adenauer (2.v.l.) während einer Pressekonferenz nach der Unterzeichnung der Pariser Verträge (l.: Pierre Mendès-France, Ministerpräsident Frankreichs; v.r.: John Foster Dulles, Außenminister der USA; Anthony Eden, Außenminister Großbritanniens). Bundesregierung / Bundesarchiv B 145 Bild-00048344
23. Oktober 1954: Bundeskanzler Konrad Adenauer (2.v.l.) während einer Pressekonferenz nach der Unterzeichnung der Pariser Verträge (l.: Pierre Mendès France, Ministerpräsident Frankreichs; v.r.: John Foster Dulles, Außenminister der USA; Anthony Eden, Außenminister Großbritanniens).

Angesichts dieser Entwicklung könnte es so scheinen, als seien die Bemühungen zur Gründung der EVG nichts als ein unnötiger Umweg zum NATO-Beitritt der Bundesrepublik gewesen. Ganz falsch ist das nicht, jedoch würde man es sich mit dieser Einschätzung zu leicht machen. Denn die unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Konzepte, Motive und Vorstellungen über die Zukunft Europas und der europäischen Sicherheit bildeten damals in allen westeuropäischen Staaten eine komplexe Gemengelage. Um sie politisch zu ordnen und die unterschiedlichen Prioritäten abzugleichen, bedurfte es eines ebenfalls ziemlich komplexen diplomatischen Verfahrens.

 

Unterschiedliche Sicherheitsinteressen

Dabei spielten die Wahrnehmung der Bedrohung durch die kommunistischen Staaten und die übrigen Sicherheitsinteressen der beteiligten Regierungen die Hauptrolle. Für die USA besaß die Abschreckung eines sowjetisch instrumentierten Angriffs auf Westeuropa oberste Priorität. Bei den beiden europäischen Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, vor allem Frankreich, wog hingegen die Furcht vor einem erstarkenden und dann möglicherweise in aggressive militärische Politikmuster zurückfallenden Westdeutschland noch schwer. Allerdings sah man auch in London und Paris, dass nach dem Sieg der Kommunisten in China 1949, dem Beginn des Korea-Krieges 1950 und wegen des Rüstungsvorsprungs der Roten Armee die Sicherheitsdefizite Westeuropas und damit ihrer eigenen nationalen Sicherheit nicht ohne einen militärischen Beitrag der Bundesrepublik wirksam gemildert werden konnten.

 

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Frankreichs Dilemma lag darin, die zunächst einmal nicht kompatiblen Ziele Sicherheit vor Deutschland und Sicherheit mit Deutschland irgendwie in Einklang bringen zu müssen. Zudem war es in bewaffnete Konflikte in Südostasien und Nordafrika verstrickt, die einen hohen militärischen Einsatz verlangten. Auch Belgien und Großbritannien hatten es mit Aufständen und Unabhängigkeitsbestrebungen in ihren Kolonien zu tun. Die Niederlande hatten 1949 einen verlustreichen Krieg um die Unabhängigkeit Indonesiens verloren. Für alle vier Staaten galt, dass ihre militärischen Widerstandskräfte gegen die Bedrohung Westeuropas durch die Sowjetunion eingeschränkt waren. Deshalb lag es in ihrem Interesse, dass die Bundesrepublik einen Beitrag zur westlichen Verteidigung übernahm – trotz der noch frischen Erinnerung an den Krieg. Die USA sorgten sich vergleichsweise am wenigsten um den möglichen Wiederaufstieg eines revisionistischen deutschen Militarismus.

Washington lag sehr an der Verstärkung der NATO durch einen kompetenten militärischen westdeutschen Verteidigungsbeitrag. Ende Januar 1951 formulierte der damalige NATO-Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower ungern, aber aus Einsicht in die Notwendigkeit der westdeutschen Wiederbewaffnung eine Ehrenerklärung für die Mehrheit der Soldaten und Offiziere, die anständig und tapfer für ihr Land gekämpft hätten. Diese Auffassung konnte man damals zwar auch in Militärkreisen der europäischen Kriegsgegner Nazi-Deutschlands hören, aber eher vereinzelt. Und europäische Politiker hüteten sich vor entsprechenden öffentlichen Aussagen.

Was die junge Bundesrepublik betrifft, so sollte die Sicherheitspolitik ihres Kanzlers zwei Ziele erreichen: einmal die militärische Festigung der eigenen Grenzen zur DDR und zum Ostblock und zweitens den Aufstieg des Landes vom Objekt alliierter Politik zum eigenständigen, prinzipiell gleichberechtigten und souveränen Subjekt auf der internationalen Bühne. Um beides zusammenzubringen, brauchte es viel diplomatisches Geschick und große Beharrlichkeit.

 

Frankreichs Flucht nach vorne

Frankreich befand sich 1950 in einem Dilemma. Irgendeine Art deutscher Wiederbewaffnung war nicht zu verhindern. Mit ihr erhöhte sich auch die eigene Sicherheit, und die eigenen Truppen wären ein Stück weit entlastet. Um die Möglichkeit militärischer Alleingänge Deutschlands gar nicht erst zuzulassen, bot sich das Konzept einer Europäisierung des deutschen Potentials an, analog zur Vergemeinschaftung der damals als besonders kriegswichtig angesehenen Kohle- und Stahl-Industrien in der Montanunion. Im Pleven-Plan, benannt nach dem damaligen französischen Ministerpräsidenten René Pleven, wurde eine europäische Armee vorgeschlagen, die bis hinunter auf die Bataillonsebene tiefenintegriert sein und einer einheitlichen politischen und militärischen Autorität unterstehen sollte. Außerdem sollte es ein gemeinsames Verteidigungsbudget und ein europäisches Bewaffnungs- und Ausrüstungsprogramm geben.

Frankreichs Ministerpräsident René Pleven (rechts im Bild) am 29. Januar 1951 zu Besuch beim amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman (vorne links) im Oval Office. U.S. National Archives and Records Administration
Frankreichs Ministerpräsident René Pleven (rechts im Bild) am 29. Januar 1951 zu Besuch beim amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman (vorne links) im Oval Office.

Viele Abgeordnete in Paris betrachteten ähnlich wie die Regierung diesen Vorschlag vor allem unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung nationaler deutscher Streitkräfte. Diese Absicht wurde auch nicht verborgen. Die europäische Armee würde den Teilnehmerstaaten die Befehlsgewalt über ihre nationalen Kontingente prinzipiell belassen, nur Westdeutschland sollte seine Soldaten voll und ganz in die Verteidigungsgemeinschaft integrieren und im Übrigen auch außerhalb der NATO bleiben. Da für die Sicherheit Westeuropas die amerikanische Militärpräsenz unabdingbar war, sollten die gemeinsamen europäischen Verbände operativ der NATO unterstellt werden.

Der Pleven-Plan kam als Überraschung. Andererseits war in ihm das französische Kalkül leicht durchschaubar, drei sicherheitspolitische Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Sicherheitsgewinn gegenüber der Roten Armee, Verhinderung nationaler deutscher Streitkräfte und mehr Dispositionsfreiheit für die eigenen Streitkräfte. Man kann ihn also als ein Projekt aus rein nationalstaatlichen französischen Interessen interpretieren. Dass sich die Bundesrepublik nach anfänglichem Unbehagen darauf mit so viel Verve eingelassen hat, erklärt sich aus ihrer schwachen Ausgangsposition für Verhandlungen über die Wiederbewaffnung und aus einem ebenfalls kühlen Kalkül der eigenen Interessen und Potenziale heraus. So wie die französische Regierung Westdeutschland sicherheitspolitisch fest einbinden wollte, um dessen Gleichbehandlung und Souveränitätsgewinn zu verhindern oder mindestens zu verzögern, so wollte die Bundesregierung Frankreich in einen Verhandlungsprozess einbinden. An dessen Ende würde es entweder „echte“ supranationale europäische Streitkräfte geben (eher unwahrscheinlich). Oder Frankreich würde vor dem Sprung in die sicherheitspolitische Supranationalität zurückschrecken und damit den Weg für nationale deutsche Streitkräfte frei machen, wie unwillig auch immer. Dieser Ausgang schien jedenfalls nicht ganz unwahrscheinlich. Frankreichs Flucht nach vorne konnte in Bonn also durchaus als Chance für die Durchsetzung eigener Ziele angesehen werden.

 

Ein föderales Europa?

In der Politik geht es zwar vordringlich um eher materielle Machtinteressen. Aber gerade in Zeiten großer Erschütterungen wie nach 1945 spielen auch ideelle politische Gestaltungskonzepte eine wichtige Rolle. Ein damals in vielen westeuropäischen Gesellschaften populäres Zukunftskonzept war der die europäischen Staaten überformende Föderalismus. Die Zeiten der inner-europäischen Konflikte und Kriege wie etwa zwischen den „Erbfeinden“ Deutschland und Frankreich sollten endlich überwunden werden. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ würden mit solcher kriegerischen Vergangenheit endlich Schluss machen.

Dass solche post-nationalen Vorstellungen für Europa besonders in Westdeutschland auf Resonanz stießen (übrigens, wenn auch abgeschwächt, bis heute), ist leicht nachvollziehbar. Auch in anderen europäischen Gesellschaften wurden sie unterstützt, und beileibe nicht nur von politik-unerfahrenen Idealisten, sondern bis in höchste Kreise. In der Montanunion sahen viele den Kern für ein post-nationales Europa. Schuman-Plan und Pleven-Plan, beide auf das Wirken Jean Monnets zurückgehend, lassen jedenfalls zu, dass man sie so interpretiert. Und wenn auch die Politiker an den Entscheidungshebeln der Macht nicht wirklich daran dachten, die jeweiligen nationalen Interessen ihres Landes hintanzustellen, wollten sie die Perspektive der europäischen Föderalisten doch nicht gänzlich zurückweisen.

Bundeskanzler Konrad Adenauer (r.) am 5. April 1951 im Gespräch mit Jean Monnet (M.), Präsident der Pariser Schuman-Plan-Konferenz, über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, Montanunion; l.: Walter Hallstein, Staatssekretär im Auswärtigen Amt). Bundesarchiv B 145 Bild-F000029-0032
Bundeskanzler Konrad Adenauer (r.) am 5. April 1951 im Gespräch mit Jean Monnet (M.), Präsident der Pariser Schuman-Plan-Konferenz, über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, Montanunion; l.: Walter Hallstein, Staatssekretär im Auswärtigen Amt).

Die Konferenz über die Organisation einer Europäischen Armee

Zwischen der Ankündigung des Pleven-Plans (24. Oktober 1950) und der Vorlage des sehr detailreichen Vertrags über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (27. Mai 1952) lagen nicht einmal 20 Monate. Nach einem Anstoß der USA begannen Mitte Februar 1951 die Gespräche über die Bildung einer Europäischen Armee, im Sommer 1951 umbenannt in Konferenz für die Organisation einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Daran nahmen Frankreich, die Bundesrepublik, Italien, Belgien und Luxemburg teil, mit Verspätung auch die Niederlande.

Die Vorstellungen der Regierungen lagen anfangs sehr weit auseinander, was nicht verwundert, denn jede von ihnen verfolgte auch intern widersprüchliche Ziele. Eigentlich war alles umstritten: die Größe, organisatorische Gestalt und der Grad der Integration europäischer Verbände, die institutionellen Einrichtungen zu ihrer Lenkung und Kontrolle, der Finanzierungsschlüssel, das Ausmaß der Rüstungsbeschränkungen für deutsche Streitkräfte, das Verhältnis der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft zu den USA und zur NATO insgesamt.

Zwar gab es auf der Oberfläche einen politiktheoretisch wie -praktisch bedeutsamen Widerspruch zwischen einem eher supranationalen und einem eher intergouvernementalen Design für die EVG. Aber außer der Bundesregierung wäre keine europäische Regierung ernstlich bereit gewesen, die eigene Befehls- und Kommandogewalt über ihre Streitkräfte und damit ein Kernelement der nationalen Souveränität dauerhaft in einem europäischen Souveränitätspool aufgehen zu lassen. Auch die Bundesregierung verfocht ja das Ziel, über einen Verzicht auf (damals eh nicht vorhandene) Souveränitätselemente letztlich die Möglichkeiten eigener Souveränität zu verbessern.

Trotzdem wurde die EVG nach zähen Verhandlungen im Artikel 1 des Vertrags als „ihrem Wesen nach überstaatlich“ bezeichnet, mit gemeinsamen Organen, gemeinsamen Streitkräften und einem gemeinsamen Haushalt. Die treibende Kraft hinter dieser Formulierung war ausgerechnet Frankreich, und Deutschland zögerte nicht mit der Zustimmung. Tatsächlich standen beide Regierungen und besonders ihre militärischen Führungen dem überstaatlichen Konstrukt der Verteidigungsgemeinschaft mit erheblicher Skepsis gegenüber. Aus militärischer Perspektive erschien etwa die multinationale Aufstellung von Kampfverbänden auf Bataillonsebene als Albtraum. Immerhin kamen sich die Soldaten unter den Verhandlungsführern über alle nationalen Unterschiede und feindlichen Kriegserfahrungen hinweg ein Stück weit näher. Das hat die spätere Zusammenarbeit in der NATO gewiss erleichtert.

Insgesamt verdient der EVG-Vertrag vom Mai 1952 dennoch Respekt. Es ist unter beträchtlichem Zeitdruck zustande gekommen. Er enthält eine enorme Menge an Detailregelungen, wobei man allerdings froh ist, dass sie keinem Praxistest unterworfen wurden. Zwischen der Vorlage des Vertrags Ende Mai 1952 und seiner Versenkung in der französischen Nationalversammlung Ende August 1954 änderten sich die internationalen Rahmenbedingungen nur wenig. Aber Frankreich rückte nun höflich, aber mit Nachdruck von den eigenen supranationalen Verteidigungsvorschlägen ab. Damit war der Weg frei für die „bessere Lösung“, nämlich den NATO-Beitritt der Bundesrepublik.

 

Der lange Schatten des Scheiterns

Seit dem Scheitern der EVG im Sommer 1954 hat es immer wieder Vorstellungen und Pläne, auch Beschlüsse europäischer Gremien sowie verschiedene Ansätze zur Bildung multinationaler europäischer Streitkräfte gegeben. Bisher ist daraus nicht viel geworden. Aus heutiger Sicht sprechen für ein solches Projekt vor allem vier Gründe: Erstens hat sich die Bedrohungslage in Europa infolge des Überfalls Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 und der imperial-revisionistischen Politik Russlands deutlich verschärft. Zweitens gibt es trotz der über Jahrzehnte hinweg stabilen transatlantischen Sicherheitsverbindungen in der NATO neuerdings Unsicherheit über die Verlässlichkeit der amerikanischen Schutzbereitschaft für Europa. Drittens braucht die Europäische Union, wenn sie in der ersten Liga der von vielen Spannungen geprägten internationalen Ordnung mitspielen will, eigenständige Handlungsmacht. Diese gewinnt sie nicht allein über die Wirtschaftskraft. Auch militärische Handlungsfähigkeit gehört dazu, um die eigenen Interessen zu wahren und zu verteidigen. Und viertens schließlich könnten mit einer einsatzfähigen europäischen Streitmacht finanzielle Synergie-Effekte erzielt werden, die weit über die Vorteile der bisherigen Ansätze zu einer europäischen Verteidigungskooperation und multinationalen Integration im militärischen Bereich hinausreichen.

Die Erfahrung des Scheiterns der EVG bleibt ein historischer Prüfstein für die immer wieder aufflammende Debatte um das Verhältnis von nationaler Souveränität und europäischer Einigung. Die Lektion ist deutlich: Europäische Zusammenarbeit muss behutsam austariert werden – zwischen gemeinsamer Gestaltungskraft und der Wahrung nationalstaatlicher Identitäten.

 

Wilfried von Bredow ist emeritierter Professor für Außen- und Sicherheitspolitik an der Universität Marburg.

 

Literatur

Carstens, Karl / Mahncke, Dieter (Hrsg.): Westeuropäische Verteidigungskooperation, München 1972.

Kielmansegg, Sebastian Graf von: Die Verteidigungspolitik der Europäischen Union. Eine rechtliche Analyse, Stuttgart 2005.

Kielmansegg, Sebastian Graf von / Krieger, Heike / Sohm, Stefan (Hrsg.): Multinationalität und Integration im militärischen Bereich. Eine rechtliche Perspektive, Baden-Baden 2018.

Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.): Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956. Bd. 2: Die EVG-Phase, München 1990.

Noack, Paul: Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Entscheidungsprozesse vor und nach dem 30. August 1954, Düsseldorf 1977.

Scheffel, Nikolaus: Europäische Verteidigung. Von der EVG zur Europäischen Armee? Analyse und Modell aus europa- und verfassungsrechtlicher Perspektive, Tübingen 2022.

Seiller, Florian: Rüstungsintegration. Frankreich, die Bundesrepublik und die Europäische Verteidigungsgemeinschaft 1950 bis 1954, Berlin 2015.

Wiggershaus, Norbert / Foerster, Roland G. (Hrsg.): Die westliche Sicherheitsgemeinschaft 1948-1950. Gemeinsame Probleme und gegensätzliche Nationalinteressen in der Gründungsphase der Nordatlantischen Allianz, Boppard 1988.

 

"Geschichtsbewusst" bildet eine Bandbreite an politischen Perspektiven ab. Der Inhalt eines Essays gibt die Meinung der Autorin oder des Autors wider, aber nicht notwendigerweise diejenige der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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