Wie zu Hochzeiten des Kalten Krieges geht es in den nächsten Jahren um nichts Geringeres als das Überleben der euro-atlantischen Sicherheitsordnung. Diese Ordnung war in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg Garant für Freiheit, Frieden, Wohlstand und Demokratie in (West-)Europa und Nordamerika. Die Sicherheit nordamerikanischer und (west-)europäischer Staaten war dabei stets voneinander abhängig. Auf beiden Seiten des Atlantiks blieb man auf die jeweils andere Seite angewiesen. Zum Erhalt dieser euro-atlantischen Ordnung trug vieles bei. Vor allem muss eine Sicherheitsordnung effektiv militärisch gesichert werden. Militärmacht ist die wichtigste Machtressource von Staaten, nicht wirtschaftliche Stärke, Soft Power oder abstrakte „Zivilmacht“. Historisch gesehen hielt keine Sicherheitsordnung ewig. Über Jahrhunderte hinweg waren es insbesondere Großmächte, die um „Gleichgewicht oder Hegemonie“ [1] rangen. Im Zuge des Zweiten Weltkriegs und des damit verbundenen machtpolitischen Aufstiegs der USA nahm dieses Ringen planetarische Züge an, betraf seither Ozeane und Landmassen im globalen Maßstab, daneben den Weltraum und seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert auch den Cyberraum.
Kernwaffen sind keine „Relikte des Kalten Kriegs“
Es ist eine historische Binsenweisheit, dass Ordnungen militärisch gesichert werden müssen. Dennoch geriet sie bei vielen ziemlich in Vergessenheit in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, im Zuge zahlreicher Auslandseinsätze als Primäraufgabe der Streitkräfte und angesichts der hohen Bedeutung der Terrorismusbekämpfung nach 9/11. Das politische Klima war gerade in Deutschland über viele Jahre bestimmt von der ebenso überheblichen wie naiven Rede, Kernwaffen seien „Relikte des Kalten Kriegs“: „[S]ie haben keinen militärischen Sinn mehr, sie schaffen keine Sicherheit, und sie haben […] keine Zukunft.“ [2] En vogue war der einseitige Fokus auf nukleare Rüstungskontrolle, nukleare Abrüstung und die Fiktion der Welt ohne Kernwaffen. Für viele vorgestrig, peinlich und fortschrittshemmend, wenn nicht reaktionär und bellizistisch, wirkten hingegen jene, die vor Provinzialismus und ideologisch motivierter Ignoranz warnten angesichts Kernwaffenmodernisierung (vor allem China, Russland, USA), Kernwaffenverbreitung (Indien, Pakistan, Nordkorea) und der Bedeutung von Kernwaffen in Militärstrategien der Atommächte.
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Die nukleare Abschreckung war jedenfalls von zentraler Bedeutung, um die euro-atlantische Sicherheitsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Aufwachsende Nuklearfähigkeiten bestärkten die USA, sich dauerhaft als Ordnungsmacht in Westeuropa zu engagieren – und dies trotz wachsender Risiken aufgrund des sowjetischen Kernwaffenpotenzials. Diese Entwicklung war von welthistorischer Bedeutung. [3]
Für viele Menschen sind die vielgestaltigen Umwälzungsprozesse der letzten Jahre in Verbindung mit Ungewissheiten der Zukunft eine schockierende Erinnerung daran, wie wichtig das Thema nukleare Abschreckung tatsächlich bleibt. Stichworte sind: der machtpolitische Missbrauch nuklearer Abschreckung durch Russland im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und entsprechende rhetorische Drohgebärden, nukleare Aufrüstung und Kernwaffenmodernisierung vor allem durch China, Russland und die USA im Kontext massiv verschärfter strategischer Rivalitäten und nicht zuletzt die zweite US-Präsidentschaft Donald Trumps seit Anfang 2025.
Von Adenauer bis Merz: Deutschland bleibt nuklear bedroht
Um die aktuelle Position Deutschlands im westlichen System der nuklearen Abschreckung zu verstehen, lohnt vor allem der Blick zurück, insbesondere auf die späten Jahre der Ära Adenauer. Unter Bundeskanzler Konrad Adenauer wurden zentrale Elemente etabliert, die bis heute diese Position maßgeblich prägen. Angesichts vieler Veränderungen in der Zwischenzeit sind diese langen Kontinuitätslinien besonders bemerkenswert. Ein historisch-informierter Blick schärft zudem die Orientierung angesichts gegenwärtiger und zukünftiger Herausforderungen, denen sich die deutsche Bundesregierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz gegenübersieht. Ein solcher Blick kann auch dazu beitragen, Missverständnissen vorzubeugen und die Aufmerksamkeit auf praktisch Relevantes zu lenken. Inmitten öffentlicher Diskussionen, die oft alarmistisch, hysterisch oder ideologisch getrieben sind, bedarf es eines balancierten und möglichst irrtumsfreien Zugangs zu dem in jeder Hinsicht schwierigen und ernsten Thema der nuklearen Abschreckung.
Wie unter Adenauer gilt auch unter Merz: Die Bundesrepublik Deutschland bleibt nuklearen Bedrohungen ausgesetzt. Die Hauptbedrohung kommt aus Russland – oder wie Adenauer es damals ausdrückte: aus „Sowjetrussland“. Ähnlich wie die Sowjetunion unter Nikita Chruschtschows Führung betreibt die russische Regierung unter Wladimir Putin laut Einschätzung vieler Beobachter mittlerweile eine strategisch offensive Politik. Häufig wird übersehen, dass strategisch offensive Politik in strategisch defensive Politik (zurück)entwickelt werden kann. Beobachter, die mittlerweile von strategisch offensiver Politik ausgehen, sehen Kernziele der russischen Regierung darin, „Amerika aus Europa raus[zu]kicken“ [4], die westlichen Peripherien Eurasiens möglichst unbeschädigt politisch zu beeinflussen und die Position Russlands in der strategischen Rivalität gegen die USA zu stärken. Ausreichende Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten werden in der NATO als notwendig beschrieben, damit es nicht zu Erpressungsversuchen, kriegsgefährlichen Krisen, militärischer Aggression sowie entsprechenden Fehlwahrnehmungen und Fehlkalkulationen der russischen Führung kommt. Speziell gegen die nuklearen Bedrohungen, vor allem gegen die nukleare Hauptbedrohung aus Russland, braucht Deutschland im Kreis seiner NATO-Partner auch zukünftig wirksamen Schutz. Wichtigster Schutzmechanismus und zugleich ultimativer Garant der Sicherheit der Bundesrepublik ist die nukleare Abschreckung. Die USA erweitern ihre nukleare Abschreckung zugunsten der anderen NATO-Verbündeten, um deren Überleben zu sichern.
Nukleare Teilhabe statt eigener Kernwaffen
Zugleich ist Deutschland ein Nichtkernwaffenstaat. Anders als Großbritannien oder Frankreich verzichtet die Bundesrepublik auf Produktion und Kontrolle eigener Kernwaffen. Ihr nicht-nuklearer Status war und ist ein wichtiges Element des westlichen Systems der nuklearen Abschreckung und der stets in Entwicklung befindlichen nuklearen Weltordnung. Wir müssen zugleich von der wenig bekannten Überlegung ausgehen, dass für die Weltmacht USA das machtpolitisch inhärent asymmetrische Bündnis mit der Bundesrepublik strategisch mehr wog als das starke US-Interesse an nuklearer Nichtverbreitung. Die ursprüngliche Relevanz dieser Überlegung muss vor dem Hintergrund der sowjetisch-amerikanischen Rivalität im Kalten Krieg gesehen werden. Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte sich Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre persönlich energisch engagiert, damit der ursprünglich unbedingte, nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg zwangsläufig erfolgte Verzicht der Bundesrepublik auf Produktion und damit praktisch auf nationale Kontrolle von Kernwaffen zu einem bedingten, also an Bedingungen geknüpften Verzicht gemacht wurde. Beim deutsch-französischen Gipfeltreffen von Rambouillet im Juli 1960 „erinnerte“ Adenauer im Gespräch mit dem französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle an die Verhandlungen bei der Londoner Neun-Mächte-Konferenz Ende September/Anfang Oktober 1954 über Wiederbewaffnung, NATO-Beitritt und Souveränität der Bundesrepublik. US-Außenminister John F. Dulles, der Leiter der damaligen US-Delegation, habe nach Adenauers dort zuvor erklärtem „Verzicht auf ABC-Waffen (…) gesagt (…), dass dieser Verzicht ja nur rebus sic stantibus gelte. Also habe auch Dulles schon eine Zeit vorausgesehen, in der die nuklearen Waffen allgemeiner zugänglich seien.“ De Gaulle ging in diesem Austausch noch weiter: Die Strukturen des transatlantischen Bündnisses müssten reformiert werden. „Seiner Meinung nach bedeute dies, dass es eines Tages auch keine Diskriminierung zwischen Deutschland und Frankreich geben werde hinsichtlich der Waffen, über die diese beiden Länder verfügen.“ [5]
Im Unterschied zu Reformideen de Gaulles, die nachweislich gerade Adenauer als zu weitgehend erschienen, schlug Deutschland unter Adenauer einen Weg ein, den alle Bundesregierungen im Wesentlichen bis zum heutigen Tage fortsetzten. Durch die Beschaffung von Kampfflugzeugen des Typs F-35A Lightning II für die Luftwaffe soll dieser Weg auch zukünftig fortgesetzt werden: Im Rahmen einer bilateralen Kooperation mit den USA, die als nukleare Teilhabe bezeichnet wird, stellt die Bundeswehr eigens zertifizierte Waffensysteme, um auf Basis der NATO-Verteidigungsplanung im Krieg Kernwaffen der Vereinigten Staaten von Amerika einsetzen zu können. Diese Kernwaffen bleiben in der Verfügungsgewalt der USA und im Gewahrsam der US-Streitkräfte, soweit sie für die nukleare Teilhabe vorgesehen in Deutschland gelagert werden. Im Unterschied zu den späten Jahren der Kanzlerschaft Adenauers ist die nukleare Teilhabe seit Anfang der 1990er Jahre Dauereinsatzaufgabe der Luftwaffe, nicht mehr des Deutschen Heeres und auch nicht, wie unter Adenauer geplant, aber nicht realisiert, der Deutschen Marine. Sicherheitspolitisch stärkt die nukleare Teilhabe die transatlantische Westbindung der Bundesrepublik Deutschland und umgekehrt die Bindung der USA an die europäische Sicherheit.
Diese deutsch-amerikanische Kooperation führt nicht zu einer Sonderrolle oder Singularität der Bundesrepublik in der NATO. Vielmehr unterhalten die USA ähnliche bilaterale Kooperationen mit anderen NATO-Verbündeten, etwa mit Belgien, den Niederlanden und Italien. Arrangements mit der Türkei und Griechenland kommen hinzu. Auch Großbritannien wird wieder in die nukleare Teilhabe einsteigen und erwirbt auch zu dem Zweck F-35-Kampfflugzeuge. Die nukleare Teilhabe führt nicht dazu, dass die Anzahl der Atommächte zunimmt. Es findet hierdurch also keine Verbreitung von Kernwaffen statt. Auch am nicht-nuklearen Status Deutschlands ändert sich nichts. Vielmehr reflektiert nukleare Teilhabe die Realität dieses Status und ist ein Anreiz für manche Verbündete der Vereinigten Staaten, auf eigene Kernwaffen verzichten zu können. Durch nukleare Teilhabe übernehmen die mit den USA kooperierenden Staaten, auch als Nichtkernwaffenstaaten, eine Mitverantwortung für die erweiterte nukleare Abschreckung der USA im Rahmen der NATO. Das sendet ein Signal der Stärke, so offenbar bis heute die Kalkulation, und trägt zum Zusammenhalt im Bündnis bei, der das Gravitationszentrum der NATO darstellt. Nukleare Teilhabe ermöglicht den kooperierenden Nichtkernwaffenstaaten eine gewisse Mitsprache in Bezug auf Fragen der Nuklearstrategie und Nuklearpolitik in der NATO. Daneben ermöglicht nukleare Teilhabe den kooperierenden nicht-nuklearen US-Verbündeten, soweit Zeit und Umstände es zulassen, mit besonderem Gewicht etwaige Entscheidungsprozesse zu beeinflussen, die den Einsatz mindestens involvierter US-Kernwaffen in einem Verteidigungskrieg betreffen. Ein NATO-Partner, der weder über Kernwaffen verfügt noch bereit ist, an der nuklearen Teilhabe teilzunehmen, hat zwangsläufig weniger Einfluss auf diese existenziell wichtigen Themen.
Erweiterte nukleare Abschreckung und damage limitation
Die nukleare Teilhabe in der NATO ist ein wichtiger Baustein im westlichen System der nuklearen Abschreckung. Dessen aufbauorganisatorischer Dreh- und Angelpunkt war und ist, dass die auf die nukleare Hauptbedrohung aus Russland bezogene Abschreckungswirkung der US extended nuclear deterrence praktisch gesehen durch keine Alternative gleichwertig und rechtzeitig ersetzt werden konnte oder kann.
Selbst im hypothetischen Fall einer europäischen Revolution mit dem Resultat eines europäischen Bundesstaats, der im Bereich der äußeren Sicherheit die Gestaltungsmacht diverser europäischer Nationalstaaten – einschließlich der beiden Atommächte Großbritannien und Frankreich – übernähme und in ein massives nukleares Aufrüstungsprogramm einstiege, bliebe ein Versuch, Ersatz der US extended nuclear deterrence zu schaffen, eine jahre- bis jahrzehntelange Herausforderung. Dafür wären umfassende Anstrengungen und ein grundlegender Bewusstseinswandel hinsichtlich militärischer Macht erforderlich. Überlegungen über diesen hypothetischen Fall kranken mindestens an einer illusorischen Prämisse: Eine solche europäische Revolution ist praktisch ausgeschlossen. Kein verantwortlicher Politiker, der mit der Wahrung des Gemeinwohls beauftragt ist, kann praktisches Handeln in der nuklearen Sicherheitspolitik an einer solchen Idee ausrichten.
Praktisch relevant ist, dass die Größe, Diversität, geographische Verteilung und Überlebensfähigkeit des Kernwaffenpotenzials Russlands in Verbindung mit der schieren Weite des russischen Raums sowie der hohen Opferbereitschaft und Folgsamkeit der russischen Bevölkerung hohe Anforderungen an wirksame Abschreckung stellt. Es werden nicht nur robuste sub-strategische Kernwaffenfähigkeiten benötigt, um in einem der NATO aufgezwungenen Verteidigungskrieg sub-strategische Kernwaffeneinsätze Russlands abschrecken oder durch einen selektiven Einsatz die Abschreckung unter Wahrung der eigenen Interessenlage wiederherstellen zu können, damit der Angreifer seine Kriegshandlungen einstellt. Um ein Vielfaches wichtiger als solche sub-strategischen Fähigkeiten sind militärische Fähigkeiten, um, falls erforderlich, Schäden reduzieren zu können, die aufgrund feindlicher Kernwaffeneinsätze entstehen können. Die praktischen Erfordernisse, die eine „damage limitation“-Funktion an Militärfähigkeiten stellt, sind selbst bei operationalen Ambitionsgraden in unteren Bereichen exorbitant. Sie reichen von Intelligence-Fähigkeiten, robusten Führungs- und Kontrollsystemen sowie Luftverteidigungssystemen über konventionelle Luftmachtfähigkeiten bis hin zu potenten, überlebensfähigen strategischen Nuklearstreitkräften, die auch präemptiv wirksam weite Teile eines Systems relevanter Ziele im Feindgebiet bekämpfen können müssen. Nach Lage der Dinge waren und sind in der „westlichen Welt“ nur die USA in der Lage, solche hohen Anforderungen zu erbringen. Angesichts der nuklearen Aufrüstung der Volksrepublik China im 21. Jahrhundert ist es eine fundamentale Frage, inwiefern die USA zukünftig kapazitär in der Lage sein werden, Fähigkeiten für Niveaus von „damage limitation“ im Blick auf die Nuklearstreitkräfte Russlands und Chinas verfügbar zu halten, die für die Abschreckung als notwendig eingeschätzt werden.
Kernwaffenpotenziale von Frankreich und Großbritannien
Es ist vor diesem Hintergrund wichtig zu verstehen: Großbritannien und Frankreich verfügen über nationale Kernwaffenpotenziale. Diese ergänzen die Abschreckungswirkung der amerikanischen extended nuclear deterrence auf relativ geringe, wenn nicht minimale Art und Weise. Was hier zählt, sind Wahrnehmungen russischer Geheimdienste, Streitkräfte und Führungskreise. Im Kern stellen diese Nuklearstreitkräfte eine teure Zusatzversicherung dar, um im Falle eines Krieges besser versuchen zu können, die Kerngebiete Großbritanniens und Frankreichs zu Sonderschutzzonen (Sanktuarien) aufzuwerten und insofern mögliche Lücken des US-Schutzes zu füllen. Das heißt aber auch: Bezogen auf die nukleare Hauptbedrohung durch Russland machten die nationalen Kernwaffendispositive Frankreichs und Großbritanniens bislang keinen der beiden militärisch „unabhängig“ vom nuklearen Schutz durch die USA. Die britischen und französischen Nuklearstreitkräfte existierten stets innerhalb des westlichen Systems der nuklearen Abschreckung, in dem die USA die überragende Position innehatten. Die britischen und französischen Fähigkeiten stellen zugleich eine Police für den Fall dar, dass die USA ihre nach dem Zweiten Weltkrieg eingenommene Rolle als „raumfremde“ Macht in Europa wider Erwarten nicht mehr ausreichend oder gar nicht mehr spielen würden. Aus verschiedenen Gründen war und ist es gerade auch im britischen und französischen Interesse, dass die US extended nuclear deterrence für und die US-Rolle als Ordnungsmacht in Europa erhalten bleibt. Die jüngste Counterproliferation-Kampagne Israels und der USA gegen das Kernenergieprogramm der Islamischen Republik Iran kann zudem daran erinnern, wie wichtig es etwa für Frankreich in den 1960er Jahren war, auf dem Weg zur Atommacht vom Schutz durch die USA im Rahmen der NATO zu profitieren. Im Falle Großbritanniens kommt hinzu: Die britische Nuklearstreitmacht besteht aktuell aus vier strategischen U-Booten für ballistische Interkontinentalraketen (Submarine-launched ballistic missile / SLBM) des Typs TRIDENT II D5, die britische Nukleargefechtsköpfe verbringen können. Eigentümer der SLBM ist die US-Marine. Großbritannien hat ein Anrecht auf eine Zahl solcher Raketen.
Allgemein gesagt ist die französische Nuklearstreitmacht kapazitär robuster als die britische. Potenziell könnte sie eine sub-strategische Abschreckungsrolle in Europa zusätzlich zu sub-strategischen US-Nuklearstreitkräften und Systemen der nuklearen Teilhabe in der NATO spielen, falls dies mit den USA und anderen NATO-Partnern koordiniert werden kann. Seit den 1960er Jahren gab es gelegentlich gewisse Diskussionen über eine solche potenzielle Koordination, wobei Frankreich bis heute ablehnt, in der Nuklearen Planungsgruppe der NATO mitzuwirken. Offen zugängliche Unterlagen legen nahe, dass solche Diskussionsansätze über Jahrzehnte hinweg zu keiner praktisch nennenswerten Weiterentwicklung des westlichen Systems nuklearer Abschreckung führten. Dabei kann und soll hier nicht darüber spekuliert werden, was man öffentlich (noch) nicht in Erfahrung bringen kann. Die französischen Nuklearstreitkräfte bleiben im Wesentlichen kapazitär auf eine Vergeltungsfähigkeit begrenzt, um im Extremfall den „Machtzentren“ eines Feindes „inakzeptable Schäden“ zufügen zu können [6]. Im Verhältnis zu Russland hypothetisch auf sich allein gestellt, also hypothetisch ohne die Deckung durch den nuklearen Schutz der USA, liefe die strategische Situation der Atommächte Großbritannien und Frankreich auf eine massive Asymmetrie im Verhältnis zu Russland bei „damage limitation“-Fähigkeiten hinaus. Ob die Überlebensfähigkeit britischer und französischer Nuklearstreitkräfte auch in Extremfällen soweit gegeben wäre, dass beide jeweils Russland „inakzeptable Schäden“ durch nukleare Vergeltung zufügen könnten, kann nicht einfach als gegeben angenommen werden. Eine militärische Auseinandersetzung käme metaphorisch gesprochen einem „game of chicken“ gleich, bei dem ein MAZ-Sattelschlepper auf einen französischen Renault Twingo zurast. Wer weicht zuerst aus? Halten beide am Eskalationskurs fest, trägt der Sattelschlepper massive Schäden davon, aber der Twingo hat keine Überlebenschance. [7] Das mag für manche obszön, vulgär oder brutalisiert klingen. Analytisch gesehen hilft dieses Bild, Wirklichkeiten besser zu verstehen, ganz gleich, wie man diese bewerten will, und sie verdeutlicht: Nicht nur ist nukleare Abschreckung in dem Maße glaubwürdig, in dem sie als operativ einsetzbar erscheint. Vielmehr hing die erweitere nukleare Abschreckung im westlichen System der nuklearen Abschreckung eng mit Fähigkeiten zur „damage limitation“ zusammen.
Anpassungen im westlichen System nuklearer Abschreckung?
Die amerikanische extended nuclear deterrence ist auf absehbare Zeit in ihrer Abschreckungswirkung im Hinblick auf Russland praktisch nicht gleichwertig ersetzbar. Deren Abschreckungswirkung wird in sehr begrenztem Maße ergänzt durch britische und französische Nuklearstreitkräfte. An ihrem unteren, sub-strategischen Ende wird sie durch nukleare Teilhabe auch mittels Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland verstärkt. Dieses westliche System der nuklearen Abschreckung ist das Produkt historischer Entwicklungen und Rahmenbedingungen. In der Geschichte ist allerdings die Veränderung eine große Konstante.
Insbesondere wenn die nukleare Aufrüstung Chinas in den nächsten Jahren wie weithin erwartet andauern sollte, stellt sich eine alte Frage in neuer Form. Adenauer, sein Verteidigungsminister Franz Josef Strauß und strategisch denkende Köpfe in der damaligen Bundesregierung fragten sich: Da so viel von den strategischen Streitkräften der USA abhängt, was wird aus den nuklearen Schutzzusagen der USA für die NATO, wenn die Sowjetunion zukünftig strategisch-nuklear annähernd stark bewaffnet sein wird wie die Vereinigten Staaten?
Aus heutiger Sicht werden die USA, so die Erwartung vieler Experten sowie der US-Regierungen Trump I, Biden und Trump II, bis Mitte der 2030er Jahre mehr und mehr in der Lage sein müssen, zwei „nuclear peers“, also zwei annähernd stark bewaffnete Großmächte, nämlich Russland und China, gleichzeitig abzuschrecken. Es ist vom „two nuclear peer problem“ die Rede. Die Frage, inwiefern deswegen Anpassungen im westlichen System der nuklearen Abschreckung vorgenommen werden sollen oder müssen, ist komplex, hochpolitisch und von fundamentaler Bedeutung.
Andreas Lutsch ist Professor für Intelligence Analysis an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Berlin.
[1] Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. (Krefeld: Scherpe Verlag, 1948).
[2] Rede von Außenminister Guido Westerwelle zum Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung, 26.3.2010, https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/100326-bm-bt-abruestung-207068.
[3] James R. Schlesinger, „The Impact of Nuclear Weapons on History,” The Washington Quarterly 16,4 (1993), 5-12.
[4] Round Table mit Bruno Kahl, 9.6.2025, https://shows.acast.com/tabletoday/episodes/round-table-mit-bruno-kahl.
[5] Gespräch Adenauer-de Gaulle, Rambouillet, 29.7.1960, vormittags ab 11 Uhr, Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, III/25.
[6] Rede von Staatspräsident Emmanuel Macron über Verteidigungs- und Abschreckungsstrategie, 7.2.2020, https://www.elysee.fr/en/emmanuel-macron/2020/02/07/speech-of-the-president-of-the-republic-on-the-defense-and-deterrence-strategy.
[7] Leicht angepasst aus: Austin Long, „Damage Limitation in the 21st Century,“ in: Brad Roberts (Hg.), Counterforce in Contemporary U.S. Nuclear Strategy (Livermore, CA: Center for Global Security Research, Lawrence Livermore National Laboratory, 2025), 67f. https://cgsr.llnl.gov/sites/cgsr/files/2025-05/2025-0529-CGSR-Occasional-Paper-Counterforce-In-Contemporary-US-Nuclear-Strategy.pdf.
"Geschichtsbewusst" bildet eine Bandbreite an politischen Perspektiven ab. Der Inhalt eines Essays gibt die Meinung der Autorin oder des Autors wider, aber nicht notwendigerweise diejenige der Konrad-Adenauer-Stiftung.