Einfach nur die große Modi-Show?
Ja, wie von der Tagesschau betitelt war der G20-Gipfel tatsächlich „Die große Modi-Show“.[i] Plakate des indischen Premiers untermalt mit vielfältigen G20-Slogans wurden in ganz Delhi angebracht, sei es an Regierungsgebäuden, Bushaltestellen oder Toilettenhäuschen. Und ja, die BJP hat den G20-Gipfel in Teilen tatsächlich zu einer Wahlkampagne umfunktioniert, wie sowohl von der Opposition als auch von internationalen Medienhäusern unisono kritisiert. Und abermals ja, Indiens Ausgaben von über 460 Millionen Euro haben diesen G20-Gipfel zu einem der teuersten globalen Treffen aller Zeiten – und zum drittteuersten G20-Gipfel nach dem von China und Kanada – gemacht.[ii] Hervorzuheben ist aber vor allem, dass dieser G20-Gipfel den ersten Großauftritt Indiens im globalen Rampenlicht markiert. Ein Moment, den G7-Staaten nur allzu oft erlebt haben, während Indien in der Vergangenheit bestenfalls als Gastgeber regionaler Gipfeltreffen fungierte.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der G20-Gipfel deshalb besonders teuer war, weil Indien sich bei seinem ersten Auftritt auf großer Weltbühne keine Szenen wie beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg leisten konnte. Der G20-Gipfel in der Hansestadt wurde damals von Krawallen überschattet, mit einer Bilanz von 476 verletzten Polizisten.[iii] Bundeskanzler Scholz, der das Chaos 2017 in Hamburg als Bürgermeister zu verantworten hatte, dürfte bei seinem Besuch als Regierungschef in Indien deutlich entspanntere Tage verbracht haben. Die indische Regierung setzte 130.000 Sicherheitskräfte für die zwei Tage ein und sorgte für eine hermetische Absicherung.[iv] Das Steine-werfen von Hamburg wurde beim G20-Gipfel in Delhi durch Blumen-werfen ersetzt und der Gipfel avancierte vom Protestobjekt zur Folklore. In Neu-Delhi nahm die Bevölkerung klaglos hin, dass aus Sicherheitsgründen Geschäfte sowie Online-Lieferdienste zwei Tage lang schließen mussten.
Würde man die Hamburger um eine erneute Ausrichtung eines G20-Gipfels in ihrer Stadt bitten, wäre die Antwort sicherlich ein hanseatisch unterkühltes und deutliches Nein. In Delhi hingegen hätte nach den Erfahrungen des diesjährigen Gipfels wohl kaum jemand etwas dagegen, wenn ein solches internationales Großereignis erneut in Indiens Hauptstadt abgehalten werden würde. In Deutschland werden in der Bevölkerung gerne Kosten-Nutzen-Rechnungen bezüglich der Durchführung solcher politischer Großereignisse angestellt, wobei der Optimismus meist der Skepsis weichen muss. Für viele Inder hingegen ließ der G20-Gipfel ein Gefühl des Nationalstolzes aufkommen und wurde als Ausdruck einer zunehmenden internationalen Wertschätzung des Heimatlandes interpretiert.
Modi lieferte seiner Bevölkerung das Narrativ, nach dem sich die überwiegende Mehrheit sehnt: Ein Indien, das eine führende Position in der Welt einnimmt und nicht bloß Spielball globaler Großmächte ist. Ein Anspruch, der kaum zu bemängeln ist, zumal Modi weder Putins noch Xis Traum nach einem Großreich zulasten souveräner Staatsgebiete unabhängiger Nationen teilt. Auch kann man der BJP kaum vorwerfen, dass ihre G20-Kampagne bei der Mehrheit der Bevölkerung Begeisterung für ein auf demokratischen Grundsätzen beruhendes Forum ausgelöst hat. Vom Bänker bis zum Auto-Rikscha-Fahrer – egal, mit wem man in Indien spricht, die meisten sind stolz darauf, dass ihr Land Gastgeber des G20-Forums war, sowie auf dessen Botschaft der Inklusivität. Dieses Empfinden wird sicherlich auch auf dem afrikanischen Kontinent geteilt, wo die Aufnahme der Afrikanischen Union in die G20 von nun an mit Neu-Delhi und nicht etwa mit Beijing oder Moskau assoziiert werden wird. Ein Resultat des G20-Gipfels, welches auch für den Westen einen großen Gewinn darstellt.
Indien - ein Land mit weit mehr als nur seiner Hauptstadt
Lange in Erinnerung bleiben wird in ganz Indien zudem die Beteiligung der eigenen Bevölkerung im Rahmen zahlreicher G20-Veranstaltungen. Die Forderung nach einem solchen partizipativen Engagement wurde in verschiedenen Reden von Premierminister Modi unmittelbar zu Beginn der indischen G20-Präsidentschaft deutlich. Er betonte unter anderem, dass Indien „die G20 nicht nur zu einem diplomatischen Ereignis, sondern zu einem historischen Ereignis der Bürgerbeteiligung gestalten muss.“[v] In diesem Sinne hatte die indische Regierung beispielsweise eine Selfie-Kampagne gestartet, bei der die Bevölkerung aufgefordert wurde, Selfies vor beleuchteten Denkmälern zu machen, welche mit G20-Mottos versehen wurden. Außerdem wurden landesweit in 60 Städten im Rahmen der indischen G20-Präsidentschaft Veranstaltungen organisiert. Dabei wurden Provinzen, Regionen und Kulturen rund um Indien vorgestellt, die bisher noch nie das Licht politischer Veranstaltungen von globaler Bedeutung erblickt hatten.
Auch wenn diese Initiativen auf den ersten Blick vielleicht oberflächlich oder unseriös erscheinen mögen, trugen sie doch wesentlich dazu bei, die breite Masse der Bevölkerung mit der diplomatischen Vision der Regierung zu verbinden und zu begeistern. Die Bemühungen um eine solche partizipative Diplomatie sind dabei nicht auf die G20-Präsidentschaft beschränkt und haben auch nicht erst mit ihr begonnen. Anzeichen für eine solche Diplomatie waren in einer Reihe von politischen Initiativen der Vergangenheit zu erkennen. Auf internationaler Ebene sind Diaspora-Kundgebungen zu einem festen Bestandteil der Auslandsbesuche von Premierminister Modi geworden – ein Versuch, Indien durch seine Soft Power global in Szene zu setzen und Inder im Ausland mit den geopolitischen Bestrebungen des Landes zu erreichen. Unabhängig davon, wie diese Maßnahmen bewertet werden, steht fest, dass die Modi-Regierung durch die Einbeziehung der Massen und verschiedener indischer Regionen im Rahmen der G20-Präsidentschaft ihre Diplomatie demokratisiert und vervielfältigt hat.
Aus „India“ wird „Bharat“
Zudem bewies Modi auf dem G20-Gipfel einmal mehr, dass er die Kunst beherrscht, Themen von nationaler Relevanz auf die internationale Bühne zu übertragen und so seine politische Botschaft auf einer breiteren Plattform zu platzieren. Das Namensschild „Bharat“, das anstelle von „India“ vor dem Premierminister während des G20-Gipfels aufgestellt wurde, wurde mit einer klaren Intention anlässlich des G20-Gipfels verwendet und führte weltweit zu Schlagzeilen über eine mögliche offizielle Umbenennung von des Landes in „Bharat“. Tatsächlich sind Umbenennungen im indischen Kontext keineswegs ungewöhnlich, sondern fast schon zur Norm geworden. Seit 2018 hat die BJP Städte in mehreren Bundesstaaten umbenannt und die Namen der Städte „hinduisiert“. Auch die Kongresspartei implementierte Umbenennungen von Millionenmetropolen wie Bangalore, welche seit 2014 offiziell Bengaluru heißt. Hierbei sollte die britische Kolonialgeschichte aus Städtenamen verbannt werden. Mit der suggerierten Namensänderung Indiens führt Modi die Hinduisierungs-Kampagne seiner Partei erstmalig auf ein internationales Parkett.
Gleichzeitig beherrschte die Namensänderungsdebatte wochenlang sämtliche indische Schlagzeilen und lenkte somit die Bevölkerung von den wachsenden Unruhen angesichts der Zunahme gewaltsamer innerstaatlicher Konflikte ab. Ein Beispiel bietet der Bundesstaat Manipur: bei den ethnischen Ausschreitungen, die dort am 3. Mai 2023 ausbrachen, kamen nach Angaben der Polizei des Bundesstaates 175 Menschen ums Leben, rund 5000 Häuser wurden niedergebrannt und etwa 250 Kirchen und 130 Tempel zerstört.[vi] Der Bundesstaat befindet sich weiterhin in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand und die von der BJP geführte Bundesstaats- und Landesregierung war bisher außerstande, den Konflikt zu befrieden. Wenige Monate vor den indischen Parlamentswahlen kann die Bharat-Debatte dabei als politischer Schachzug Modis interpretiert werden, um von eigenen Versäumnissen abzulenken.
Ein zweifelhafter internationaler Ruf als gute Wahlwerbung
Ein weiterer Manöver Modis, mit dem er diesmal ein Thema von internationaler Relevanz auf nationales Parkett verlagerte, betrifft die gegenwärtige diplomatische Eiszeit zwischen Indien und Kanada. Das Treffen zwischen dem kanadischen Premierminister Trudeau und Modi am Rande des G20-Gipfels brachte die belasteten Beziehungen zwischen den beiden Ländern zum Vorschein. Der BJP sind die in jüngster Zeit zunehmenden Proteste indischer Diaspora-Sikhs[1] in Kanada gegen die eigene Regierung ein Dorn im Auge. Neu-Delhi reagiert empfindlich auf solche Proteste, insbesondere auf einen Vorfall im Juni 2023, bei dem kanadische Polizeikräfte einen Umzugswagen zugelassen haben sollen, der die Ermordung der einstigen indischen Premierministerin Indira Gandhi durch ihre Leibwächter im Jahr 1984 darstellte.[vii] Modi bewertete die Reaktion Kanadas auf diese Sikh-Kundgebungen als unzureichend und thematisierte sie während seines Gesprächs mit Trudeau am Rande des G20-Gipfels. Als Antwort auf die von Indien geäußerten Bedenken verteidigte Trudeau das Recht auf freie Meinungsäußerung und friedlichen Protest. Er betonte, dass die Handlungen einiger weniger nicht die gesamte Sikh Gemeinschaft repräsentiere und dass Kanada stets Gewalt verhindert und gegen Hassreden vorgehe. Auch brachte Premierminister Trudeau während des G20-Gipfels seinerseits Besorgnis über die Menschenrechtslage in Indien zum Ausdruck.
Nur eine Woche nach dem G20-Gipfel verschärfte sich der indisch-kanadische Disput weiter, nachdem Trudeau vor dem kanadischen Parlament verkündete, es gebe „glaubwürdige Beweise“[viii], dass indische Regierungsagenten an der Ermordung des kanadischen Staatsbürgers, Hardeep Singh Nijjar, auf kanadischem Boden beteiligt gewesen seien. Die indische Regierung wies diese Behauptungen als absurd zurück. Konkrete Beweise, die indische Regierungsbeamte mit der Tötung in Verbindung brächten, wurden bisher nicht publik gemacht. Unabhängig davon, welche Seite in diesem Fall Recht behalten wird, haben die kanadischen Anschuldigungen einen Schatten auf die G20-Erfolge Indiens geworfen.
Doch was auf internationaler Ebene zumindest eine erhöhte Skepsis gegenüber Indien auslösen könnte, hat auf nationaler Ebene den gegenteiligen Effekt. Die konstanten verbalen Anschuldigungen gegen eine kleine, aber lautstarke Gruppe von Sikh-Extremisten in Kanada – Indien hatte sich vor Nijjars Tod für die Auslieferung von 26 verdächtigen „Sikh-Terroristen“ indischer Abstammung eingesetzt – und die verstärkte Wahrnehmung einer Bedrohung durch Sikh-Separatisten innerhalb Indiens liefern Modi ein wertvolles politisches Narrativ im Vorfeld der nationalen Wahlen im nächsten Jahr.[ix] Sie fördern sein Image als starkes Staatsoberhaupt, das zum Schutz seines Landes auch wirtschaftliche Handelseinbußen in Kauf nimmt. Und die Sikh-Separatisten stellen aus Sicht vieler Inder eine reale Gefahr dar, für deren Lösung Modi seine schnörkellose Politik propagieren kann. Dieselbe Strategie hatte ihm bereits bei den Parlamentswahlen im Jahr 2019 zusätzliche Stimmen eingebracht, als Modi auf islamistische Terroranschläge mit einem nicht verhandlungsbereiten Auftreten versus Pakistan reagierte, was bei großen Teilen der indischen Bevölkerung gut ankam. Zudem stehen indische Medienhäuser und die große Mehrheit der Inder hinter ihrem Premierminister und verurteilen Trudeaus Anschuldigung als Lüge.
Für die BJP birgt die überspitzte Darstellung von Sicherheitsrisiken, die von radikalen Sikhs ausgehen, auch keinerlei Risiko Wählerstimmen zu verlieren. Die BJP hatte sich anfangs bemüht, die rund 21 Millionen indischen Sikhs als Wählerschaft zu gewinnen. Modi selbst hatte in der jüngsten Vergangenheit wiederholt Sikh-Tempel, so genannte Gurdwaras, besucht. Diese Strategie änderte sich jedoch nach 2021, als Sikhs den Großteil der Bauernproteste gegen die Regierung Modi bildeten, die ein Jahr lang andauerten und damit endeten, dass Modi seine umstrittenen Reformvorschläge im Agrarsektor zurückzog. Die BJP, frustriert über die Bauernproteste, wich von ihrem Ziel ab, Stimmen der Sikhs für sich gewinnen zu wollen. Viele hochrangige BJP-Vertreter bezeichneten die Demonstranten offen als „Khalistanis“[2], die von ausländischen Kräften aufgehetzt und finanziell für Ihren Protest unterstützt worden seien.[x] Diese Anschuldigungen wurden von den fast 60 Prozent des Bundesstaates Punjab ausmachenden Sikh nicht vergessen, welche bei den Bundesstaatswahlen im Jahr 2022 die BJP mit nur 2 von möglichen 117 Sitzen abstraften.[xi] Die BJP hat also nicht viele Sikh-Wähler zu verlieren, sondern eher zahlreiche andere Wählerschaften zu gewinnen, indem sie einen rigorosen Umgang mit einer als besonders bedrohlich empfundenen Gruppe von Separatisten demonstriert. Ob auch dieser Schachzug aufgehen wird, dürfte sich bei Abschluss der nächstjährigen Parlamentswahlen zeigen.
[1] Die Sikh-Religion ist eine monotheistische Religion, welche im indischen Bundesstaat Punjab gegründet wurde. Sie wird weltweit als Sikhismus bezeichnet und hat rund 25 bis 27 Millionen Anhänger, wovon die Mehrheit in Indien lebt. Ihre Gläubigen werden als Sikh bezeichnet.
[2] Der Begriff „Khalistan“ bezieht sich dje Idee einer nationalistischen Bewegung unter den Sikh, einen unabhängigen Staat in Indien und Pakistan zu errichten, der den heutigen Punjab und umliegende Gebiete umfassen soll. Die Anhänger dieser Bewegung werden als Khalistanis bezeichnet.
[i] Peter Hornung (2023): G20-Treffen in Indien: Die große Modi-Show, Tagesschau, in: https://rb.gy/fjti1 [20.09.2023]
[ii] DNA (2023): How much did India’s G20 Summit 2023 cost? Know which country hosted most expensive G20 yet, in: https://rb.gy/p50g8 [20.09.2023]
[iii] Focus Online (2023): Hamburger CDU-Fraktion fordert nach G20-Krawallen Scholz-Rücktritt, in: https://rb.gy/76ru7 [20.09.2023]
[iv] Nikunj Ohri & Shivangi Acharya & Krishn Kaushik (2023): Anti-drone systems, 130,000 security officers to guard India's G20 Summit, Reuters, in: https://rb.gy/j0vg4 [20.09.2023]
[v] Narendra Modi (2023): India’s G20 Presidency: Human-centric, G20 Secretariat Newsletter Seite 4, in: https://shorturl.at/egvQW [20.09.2023]
[vi] Hindustan Times (2023): Manipur violence: Death toll touches 175 mark, few stolen weapons recovered, says police, in: https://shorturl.at/AJMQ6 [20.09.2023]
[vii] Aryan Prakash (2023): 'Celebration' of Indira Gandhi's killing: What really happened at Canada event?, Hindustan Times, in: https://tinyurl.com/rcme5tmz [20.09.2023]
[viii] Daniel Block (2023): The Killing in Canada Shows What India Has Become, The Atlantic, in: https://tinyurl.com/3mrytbxc [20.09.2023]
[ix] Suhasini Raj & Mujib Mashal & Hari Kumar (2023): Sikh Separatism Is a Nonissue in India, Except as a Political Boogeyman, The New York Times, in: https://tinyurl.com/2p96aah6 [20.09.2023]
[x] Harikishan Sharma & Avishek G Dastidar (2021): How protesting farmers were targeted by Govt, BJP, The Indian Express, in: https://tinyurl.com/4m2ypasb [20.09.2023]
[xi] Jagran Josh (2022): Punjab Election Result 2022: AAP Sweeps Punjab, wins 92 seats-Check Full List of Winners and Party-wise Seat Tally, in: https://tinyurl.com/bdex3jcp [20.09.2023]
Bereitgestellt von
Auslandsbüro Indien
Themen
Über diese Reihe
Die Konrad-Adenauer-Stiftung ist in rund 110 Ländern auf fünf Kontinenten mit einem eigenen Büro vertreten. Die Auslandsmitarbeiter vor Ort können aus erster Hand über aktuelle Ereignisse und langfristige Entwicklungen in ihrem Einsatzland berichten. In den "Länderberichten" bieten sie den Nutzern der Webseite der Konrad-Adenauer-Stiftung exklusiv Analysen, Hintergrundinformationen und Einschätzungen.