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Reuters / Luisa Gonzalez

Country Reports

Historische Wahlen in Kolumbien

Linkspopulist Gustavo Petro wird neuer Staatspräsident

In einer Stichwahl waren am 19. Juni rund 38,8 Millionen Wählerinnen und Wähler aufgerufen, den nächsten kolumbianischen Präsidenten zu wählen. Linkspopulist Gustavo Petro vom Parteienbündnis Pacto Histórico setze sich mit 50,44 Prozent der Stimmen gegen seinen parteipolitisch unabhängigen Konkurrenten Rodolfo Hernández durch. Der 77-jährige Bauunternehmer, der durch eine stark populistisch geprägte Kampagne in den sozialen Netzwerken überraschend den Sprung in die Stichwahl geschafft hatte, kam auf 47,31 Prozent der Stimmen und erkannte das Wahlergebnis umgehend an. Im Vorfeld befürchtete Proteste im Falle eines engen Wahlergebnisses blieben damit aus. Der Wahlsieg Petros bedeutet für das traditionell von konservativen Kräften regierte Kolumbien eine politische Zeitenwende mit ungewissem Ausgang.

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Populismus im Wahlkampf

Nachdem Gustavo Petro die erste Runde der Präsidentschaftswahlen am 30. Mai mit 40,3 Prozent der Stimmen noch klar für sich entschieden hatte, ergaben die letzten Umfragen vor der Stichwahl ein technisches Unentschieden zwischen beiden Kandidaten. Rodolfo Hernández hatte zuvor als parteipolitisch unabhängiger Kandidat überraschend den favorisierten Kandidaten des Mitte-Rechts-Bündnisses, Federico Gutierrez, auf den dritten Platz verwiesen und damit die Wahlkampfstrategie des linken Lagers auf den Kopf gestellt. Denn diese war ursprünglich auf Gutiérrez als den vermeintlichen Vertreter des rechten Lagers von Expräsident Uribe und des amtierenden Präsidenten Duque ausgerichtet gewesen. Die Kampagne Petros stand ganz unter dem Motto Cambio (Wechsel), während Gutiérrez im Verständnis regierungskritischer Wählerschichten für Kontinuität und ein „Weiter so“ stand. Die verheerenden Umfragewerte für die Regierung Duque, die Unbeliebtheit von Ex-Präsident Uribe sowie die soziale Unzufriedenheit, die sich im Vorjahr in landesweiten Protesten geäußert hatten, bildeten einen schweren Ballast für den Kandidaten des Mitte-Rechts-Bündnisses. Hernández hatte sich dagegen geschickt als unabhängiger Außenseiter zwischen dem linken und rechten Lager positioniert und wetterte in volksnaher, häufig stark polemischer Sprache gegen die Vertreter des politischen Establishments. Mit dem überraschenden Einzug von Hernández in die Stichwahl verlor Petro das alleinige Monopol über das Zauberwort Cambio und sah sich plötzlich genötigt, in die Rolle des Staatsmanns zu schlüpfen und den populistischen - über die sozialen Netzwerke verbreiteten - Stammtischparolen des „Tiktok-Opas“ das Bild eines verantwortungsvollen Wandels entgegenzusetzen.

In der Endphase des Wahlkampfes lieferten sich beide Kandidaten ein Fernduell mit unseriösen Wahlkampfversprechen, da Hernández seiner Wahlkampfstrategie in den sozialen Medien treu blieb und sich einer Kandidatendebatte im TV verwehrte. Der Unternehmer versprach, sein Sammelsurium an teuren Wahlversprechen aus dem erfolgreichen Kampf gegen die Korruption zu finanzieren. Gustavo Petro stellte dagegen breit angelegte staatliche Sozialprogramme in Aussicht, deren Finanzierung nach Berechnungen von Experten den Umfang der Steuererhöhungen, die 2021 zu wochenlangen Protesten geführt hatten, um das Dreifache übersteigen würden. Zudem versuchte er, Hernández als Kandidaten des rechten politischen Lagers und frauenfeindlich darzustellen, da dieser in seinen Äußerungen ein stark traditionelles Rollenbild vertreten hatte.

So standen sich auf der Zielgeraden des Präsidentschaftswahlkampfs zwei Kandidaten gegenüber, die beide den Wunsch der kolumbianischen Wählerinnen und Wähler nach einem tiefgreifenden Wandel verkörperten, aber auf völlig unterschiedliche Weise interpretierten. Petros Wandel fußte auf dem Vorschlag eines radikalen Umbaus des Wirtschafts- und Sozialsystems mit massiver Investition und Lenkung des Staats. Der Wandel von Hernández zielt dagegen weniger auf Reformen des Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells, sondern vielmehr auf die politische Klasse selbst. Als klassischer Außenseiter prangerte er die Korruption und Selbstbedienungsmentalität der politischen Parteien an und versprach, den Staat wie ein Unternehmen zu führen. Die geschickte Inszenierung unter dem Berufstitel „Ingenieur“ sollte die Figur Hernández symbolisch von den traditionellen Berufspolitikern abgrenzen.

 

Wahlprozess und Ergebnisse

Die nationale Wahlbeobachtungsmission MOE (Misión Observación Electoral) registrierte am Wahltag die Ermordung eines Soldaten und zweier Unterstützer der Wahlkampagne von Gustavo Petro in unterschiedlichen Regionen des Landes. Zudem wurde ein Sprengstoffanschlag in der Nähe eines Wahllokals in der Region Norte de Santander gemeldet, bei dem drei Soldaten verletzt wurden. Von diesen schwerwiegenden Zwischenfällen in den Regionen abgesehen, verliefen die Wahlen jedoch weitgehend friedlich. Nationale und internationale Wahlbeobachter sprachen von einem gut organisierten und geregelten Ablauf des Wahlprozesses. Bislang gemeldete Unregelmäßigkeiten hatten keinen Einfluss auf das Gesamtergebnis. Bemerkenswert zügig ging die im Fernsehen live übertragene Vorauszählung der Stimmen voran. Bereits eine Stunde nach Schließung der Wahllokale stand Gustavo Petro als Sieger fest. Wenig später nach Auszählung aller Wahllokale wurde das vorläufige Endergebnis gemeldet: Gustavo Petro und seine Vizepräsidentschaftskandidatin Francia Márquez erzielten 50,44 Prozent und 11.281.013 Stimmen; Rodolfo Hernández und seine Vizepräsidentschaftskandidatin Marelen Castillo kamen auf 47,31 Prozent und 10.580.412 Stimmen. Mit 58,1 Prozent stieg die Wahlbeteiligung im Vergleich zur ersten Runde (54,9 %) und erreichte damit einen neuen Rekordwert. Das sogenannte voto en blanco (weißes Votum), mit dem Wähler in Kolumbien ihre Ablehnung beider Kandidaten zum Ausdruck bringen können, erhielt 501.987 Stimmen (2,24 Prozent).

Ähnlich wie schon in der ersten Runde gewann das Linksbündnis von Gustavo Petro deutlich den Hauptstadtbezirk Bogotá, die Küstenregionen am Atlantik und Pazifik sowie die Grenzregionen im Süden und Südosten des Landes, während Hernández abgesehen von der Hauptstadt die Regionen im Zentrum sowie an der Grenze zu Venezuela gewann. In den ärmsten und von Gewalt am stärksten betroffenen Regionen Kolumbiens Putumayo, Nariño, Valle und Cauca erzielte das Duo Petro Márquez rund 80 Prozent der Wählerstimmen. Entscheidend für den Wahlsieg war jedoch die Hauptstadt Bogotá, wo das Linksbündnis über 600.000 Stimmen mehr als die Wahlverlierer einsammelten. Der Unterschied im Gesamtergebnis beträgt rund 700.000 Stimmen (ca. 3,1 Prozent).

Bemerkenswert ist, dass es Hernández nicht gelungen ist, seine eigenen Wählerstimmen und die des drittplatzierten Kandidaten in der ersten Runde, Federico Gutierrez, auf sich zu vereinen. Beide hatten zusammen gerechnet knapp über 11 Millionen Stimmen erzielt. Petro, dem viele Experten nicht zugetraut hatten, das Ergebnis von rund 8,5 Millionen Stimmen aus dem ersten Wahlgang signifikant zu steigern, profitierte dagegen von der höheren Wahlbeteiligung und legte noch einmal deutlich zu.

Das Wahlergebnis hat für Kolumbien in mehrfacher Hinsicht historischen Charakter. Zum ersten Mal in der Geschichte werden die Geschicke des traditionell konservativ regierten Landes künftig von einem linken Präsidenten gelenkt. Mit Francia Márquez wird zudem erstmals eine weibliche Vertreterin der politisch und gesellschaftlich marginalisierten afrokolumbianischen Bevölkerungsgruppe Vizepräsidentin. Die Wahlbeteiligung erreichte eine historische Höchstmarke und auch die absolute Stimmenzahl für Petro und Márquez bedeutet einen neuen Rekordwert. Noch nie wurde ein Präsident mit über 11 Millionen Stimmen gewählt.

 

Reaktionen und Ausblick

Rund eine Stunde nach Schließung der Wahllokale, als die Vorauszählung bereits so weit fortgeschrittenen war, dass die von der Wahlbehörde veröffentlichten Ergebnisse als gesichert gelten konnten, wandte sich Rodolfo Hernández an die Öffentlichkeit, erkannte seine Wahlniederlage an und gratulierte Gustavo Petro zum Wahlsieg. Zugleich bot er ihm Zusammenarbeit bei der Einleitung des von Kolumbianern gewählten politischen Wandels an. Auch der amtierende Staatspräsident Duque verkündete auf Twitter, dass er Petro telefonisch zum Wahlsieg gratuliert und ein persönliches Treffen in den nächsten Tagen vereinbart habe, um eine transparente und geregelte Übergabe der Amtsgeschäfte zu gewährleisten. Ex-Präsident Uribe, ein erbitterter politischer Gegner Petros, erkannte den Wahlsieg seines langjährigen Widersachers ebenfalls umgehend an und rief dazu auf, die Interessen des Landes an oberste Stelle zu setzen. Der Wahlsieger selbst und seine Vizepräsidentin traten erst später am Abend vor ihre jubelnden Anhänger und Medien.

Francia Márquez blieb sich in ihrer Rolle als Aktivistin und Kämpferin für Umweltschutz, Menschenrechte und Gleichberechtigung treu und widmete den Wahlsieg den verschiedenen marginalisierten Bevölkerungsgruppen, die man künftig in den politischen Prozess einschließen wolle, insbesondere indigene und afrokolumbianische Gemeinschaften. In einem von Jubelstürmen seiner Anhänger begleiteten, langatmigen und wenig strukturierten Diskurs sandte der künftige Präsident Kolumbiens anschließend widersprüchliche Signale. So rief er zu einer Politik des Dialogs und der Liebe auf, die er der Logik des Hasses der Vergangenheit entgegensetzen wolle. Er lud die politische Opposition zum Dialog über die wichtigen Probleme Kolumbiens ein und sicherte zu, dass es unter seiner Regierung keine politische oder juristische Verfolgung von politischen Gegnern geben werde. Als Prioritäten nannte er Frieden, soziale Gerechtigkeit und Umweltgerechtigkeit. Erneut bekräftigte er, dass seine Regierung keine Verstaatlichung von Privatbesitz plane. Man könne nur umverteilen, wenn man vorher produziere. Dazu müsse man den Kapitalismus weiterentwickeln, so der künftige Präsident. Waren diese Worte noch an die Adresse und zur Beruhigung des Privatsektors und der Märkte gedacht, fiel Petro wenig später in den Jargon des Klassenkämpfers zurück, als er Kolumbien als Feudalsystem bezeichnete sowie die Agrarreform und das moderne Sklaventums thematisierte.

Petro wird sich an seinen Worten der Versöhnung und des Dialogs messen lassen müssen. Die nächsten Wochen bis zum offiziellen Amtsantritt am 7. August sowie die Besetzung der Kabinettposten werden Aufschluss darüber geben, inwiefern der neue Präsident bereit ist, politische Zugeständnisse zu machen und Kompromisse zu schmieden. Denn trotz seines historischen Wahlsiegs steht dem ehemaligen Bürgermeister von Bogotá und Wirtschaftswissenschaftler fast die Hälfte der kolumbianischen Wählerinnen und Wähler kritisch gegenüber. Einer der Hauptgründe für das tiefe Misstrauen vieler Kolumbianer gegenüber Petro ist seine nun schon über drei Jahrzehnte zurückliegende Mitgliedschaft in der Guerilla M-19, die sich im Vorfeld der neuen Verfassung von 1991 vom bewaffneten Kampf lossagte und sich erfolgreich in den politischen Prozess integrierte. Gerade im Militär sind die Vorbehalte gegen einen Oberbefehlshaber mit Guerillavergangenheit groß. Der neue Präsident muss seinen Worten Taten folgen lassen, auf seine politischen Gegner zugehen und versuchen, einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens für seine Reformvorhaben zu schaffen.

Auch im Kongress warten schwierige Verhandlungen auf das neue Führungsduo an der Spitze des kolumbianischen Staates. Denn trotz deutlicher Zugewinne bei den Kongresswahlen im März verfügt der Pacto Histórico mit seinen Partnern über keine Mehrheit, um Haushalt und Gesetzesprojekte alleine durchsetzen zu können. Hier wird Petro Kompromissangebote machen müssen, um entweder feste Allianzen mit den verschiedenen Fraktionen und ihren Parteien zu schmieden oder mit wechselnden Mehrheiten zu regieren. Eine weitere große Herausforderung ist die Finanzierung seiner zahlreichen Wahlkampfversprechen. Wo die notwendigen finanziellen Ressourcen für den massiven Ausbau des Sozialstaats herkommen sollen, ist nicht klar. Wenn die Hoffnungen der armen Bevölkerung und unteren Mittelschicht, insbesondere die Erwartungen der unzufriedenen Jugend, welche die massiven Sozialproteste 2021 getragen hat, enttäuscht werden, kann die Euphorie über den Wahlsieg in wenigen Monaten in erneute Proteste umschlagen.

 

Fazit

Der historische Wahlsieg eines linken Präsidentschaftskandidaten bedeutet für die kolumbianische Politik und Gesellschaft eine Zeitenwende mit ungewissem Ausgang. Gustavo Petro muss nun aus der Rolle des Oppositionspolitikers und Wahlkämpfers in die Rolle des Staatsmanns schlüpfen und zeigen, dass er willens und in der Lage ist, den von ihm angekündigten, breiten gesellschaftlichen Konsens zu schaffen und Lösungen für die zentralen Herausforderungen des Landes – Bekämpfung von Armut, Ungleichheit sowie der allgegenwärtigen Korruption und Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt sowie im Bereich Bildung, Gesundheit und Umweltschutz – zu finden. Auch die von ihm angekündigte Neuorientierung bei der Bekämpfung der Drogenkriminalität und im Bereich innere Sicherheit sowie die Entwicklung seines Verhältnisses zu Polizei und Militär werden von seinen Kritikern im In- und Ausland genau beobachtet werden. Zudem wird Petro an seiner Bereitschaft gemessen werden, die demokratischen Institution zu achten und autoritären Versuchungen zu widerstehen, wenn sein politisches Projekt auf Widerstand stößt.

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