Vom Wahlkampf- in den Regierungsmodus
Am 28. Oktober 2018, dem Tag der Stichwahl, hielt ganz Brasilien den Atem an. Unter dem Wahlslogan „Brasilien über alles und Gott über alle“ schaffte der die Militärdiktatur glorifizierende Evangelikale Jair Messias Bolsonaro von der sozial-liberalen Splitterpartei PSL auf Anhieb den Einzug in den Präsidentenpalast Planalto – ohne jemals zuvor in seinem Leben ein Wahlamt der Exekutive innegehabt zu haben. Eine rund 30 Jahre dauernde Epoche, in welcher die bis heute stark von Fernando Henrique Cardoso geprägte Mitte-Rechts-Partei der Sozialen Demokratie Brasiliens (PSDB) auf der einen und die linke Arbeiterpartei (PT) von Luiz Inácio Lula da Silva auf der anderen Seite sich beständig an der Macht abgewechselt hatten, ging ihrem Ende zu.
Obwohl der 63-jährige Aufsteiger als Kongressabgeordneter in den davor liegenden sieben Legislaturperioden weniger mit konkreten Gesetzesvorhaben als mit unzähligen polemischen, beleidigenden und widersprüchlichen Aussagen auf sich aufmerksam gemacht - und außerdem neun (!) verschiedenen Parteien des rechten Spektrums angehört – hatte, nahmen ihn viele Brasilianer dankbar als vielversprechende Alternative wahr: als einen Kandidaten jenseits des tief in Korruptionsskandale verstrickten politischen Establishments.
Noch bevor der „Tropen-Trump“, wie Bolsonaro auch genannt wird, am 1. Januar 2019 in den Präsidentenpalast Planalto einzog, sahen viele Beobachter und Analysten die viertgrößte Demokratie der Welt bereits dem Untergang geweiht. Auch nach vier Monaten im Amt dominieren im In- und Ausland weiterhin negative Schlagzeilen. Und es häufen sich Facebook-Posts und Twitter-Meldungen des Staatspräsidenten und seines Familienclans, die mit der Würde des Präsidentenamts in der Tat schlicht unvereinbar sind.
Ein genauerer Blick auf das tatsächliche Regierungshandeln bzw. auf erste konkrete Maßnahmen muss allerdings zu einer differenzierteren Lageeinschätzung führen. Allem voran ist es Staatspräsident Bolsonaro gelungen, ein respektables Kabinett zu bilden und wichtige Reformvorhaben auf den Weg zu bringen. Auch die Wirtschaft stellt ihm sehr gute Noten aus. So sagt zum Beispiel André Clark, CEO von Siemens in Brasilien: "Die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den Unternehmern läuft sehr gut und effizient”.
Ein heterogenes, aber schlagkräftiges Kabinett
Das neue brasilianische Kabinett setzt sich aus drei sehr unterschiedlichen Flügeln zusammen. Zum ersten gehören reformorientierte Technokraten. Hier landete der Präsident vor allem durch die Ernennung von Wirtschaftsminister Paulo Guedes, einem Chicago-Boy und Finanzmarktspezialisten, und von Justizminister Sergio Moro, dem wohl landesweit wie international bekanntesten Korruptionsermittler Brasiliens, einen großen Coup.
Dem zweiten Flügel gehören ehemalige Generäle an, die – entgegen allseitiger medialer Befürchtungen und hektischer Abwehrreflexe vor allem im linken Lager – seit dem 1. Januar 2019 eine durchweg positive und ausgleichende Rolle gespielt haben. Gerade Vize-Präsident Hamilton Mourao konnte so manchen Patzer des Staatspräsidenten auffangen bzw. zurechtrücken, zum Teil mit Hinweis auf dessen angeschlagenen Gesundheitszustand (Bolsonaro war im Wahlkampf Opfer einer Messerattacke geworden und musste mehrfach operiert werden).
Auch der dritte, sogenannte ideologische Flügel kann nicht einfach pauschal als verheerend oder inakzeptabel abqualifiziert werden. Persönliche Gespräche in der Hauptstadt Brasilia etwa mit der evangelikalen Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, Damares Alves, haben auch hier zu einem differenzierteren Eindruck geführt.
Mit seiner überraschend starken Regierungsmannschaft muss Staatschef Bolsonaro nun dringend benötigte Reformen nicht nur beherzt vorantreiben, sondern auch rasch umsetzen und greifbare Ergebnisse liefern. Denn Brasilien steht vor immensen Herausforderungen!
In den ersten vier Monaten hat die Regierung bereits tatkräftig losgelegt: Um dem horrenden Haushaltsdefizit und der wachsenden Staatsverschuldung Einhalt zu gebieten, erklärte Bolsonaro die von den Vorgängerregierungen verschleppte Reform des Sozialversicherungssystem kurzerhand zur Priorität. Am 20. Februar übermittelte er den von Paulo Guedes entworfenen Vorschlag, der nach Auffassung aller Ökonomen die zentrale Stellschraube zur Sanierung des Haushalts darstellt, dem Abgeordnetenhaus. Das seit 1990 existierende Umlageverfahren soll zu einem kapitalgedeckten System umgebaut werden. Steigen sollen sowohl das Renteneintrittsalter als auch die Beitragszahlungsjahre.
Die für die Regierung überlebenswichtige und für die Zukunftsfähigkeit Brasiliens ganz allgemein entscheidende Reform setzt eine Verfassungsänderung voraus. Zwar stehen die meisten Parteien des Mitte-Rechts-Spektrums der Reform konstruktiv gegenüber, dennoch muss die Regierung, die über keine Mehrheit in den beiden Kammern verfügt, für die im Kongress notwendige 3/5-Mehrheit parteiübergreifend um Unterstützung werben. Nach gewissen Startschwierigkeiten scheint Bolsonaro dies erkannt zu haben und legt jetzt mehr „liderança“ (leadership) an den Tag als noch in den ersten Wochen seiner Amtszeit. Hier zeigt sich, wenn auch langsam, eine erste Wandlung vom Provokateur zum Politikgestalter.
Im Kampf gegen die systemimmanente Korruption und die organisierte Kriminalität sowie zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit hatte die Regierung bereits am Vortag ein von Minister Sergio Moro ausgearbeitetes Gesetzespaket mit 14 Maßnahmen, das sog. „Pacote Anticrime“, an den Kongress weitergeleitet. Es sieht u.a. vor, schwarze Kassen zu kriminalisieren, die sogenannte „Caixa 2“. Ebenso sollen in zweiter Instanz strafrechtlich Verurteilte grundsätzlich die Haftstrafe antreten müssen, auch wenn das Urteil noch nicht rechtskräftig ist – ein Novum nicht nur im brasilianischen Justizwesen.
Gleichzeitig arbeitet Moro an einer Strategie zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit des Landes, welches jährlich mehr als 60.000 (!) gewaltbedingte Todesopfer zählt. Diesem Ziel diametral entgegen steht jedoch die vom Präsidenten im Januar per Dekret angeordnete Liberalisierung des Waffenbesitzes. Das dem Wirtschaftsministerium unterstehende Institut für angewandte Wirtschaftswissenschaften (IPEA) zeigt in verschiedenen Studien, dass der Anstieg der Mordrate in Relation zu der Anzahl der zirkulierenden Waffen steht.
Außenpolitik noch ohne Kompass
Verwirrung und entsprechende Negativ-Schlagzeilen stiftete in den ersten vier Monaten vor allem der außenpolitische Zick-Zack-Kurs von Außenminister Ernesto Araújo, Hauptexponent des ideologischen Flügels im Kabinett. Viele seiner Meinungsäußerungen und Ankündigungen stehen in starkem Kontrast zu Brasiliens traditionellem multilateralen und moderierenden Ansatz. Ebenso wie der Präsident setzt auch Araújo auf einen stramm nationalen Kurs.
Im Januar zog sich Brasilien aus dem UN-Migrationspakt zurück. Der im Wahlkampf angekündigte Rückzug aus dem Pariser Klimaabkommen ist bisher allerdings nicht vollzogen worden und es ist derzeit unklar, was daraus wird. In der Diskussion um den Klimawandel sieht der Außenminister eine linke Verschwörungstheorie und spricht von „Kulturellem Marxismus“: Ziel sei, die staatliche Regulierung zu erhöhen. Internationale Institutionen würden darüber hinaus den Klimawandel als Vorwand missbrauchen, um souveränen Staaten wie Brasilien Vorschriften zu machen und sich in deren innere Angelegenheiten einzumischen. Die zunächst angestrebte Verlegung der brasilianischen Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem ließ die Regierung nach Bolsonaros dreitägiger Israel-Reise wieder fallen. Spätestens nach dem Regierungsbesuch des Präsidenten in Washington Mitte März ist allerdings klar, dass die Beziehungen Brasiliens zu den USA in Zukunft enger werden dürften.
Auch nach vier Monaten im Amt befinden sich der Präsident und sein engeres Umfeld, vor allem der Außenminister, tendenziell noch immer im Wahlkampfmodus, auch wenn langsam gewisse Verbesserungen erkennbar sind. Gleiches gilt allerdings auch für die von der Wahlniederlage erschütterte Opposition, die sich bislang vor Allem darauf konzentriert, die Gesellschaft weiter zu polarisieren und Ängste zu schüren. Zu nennen ist vor allem die Arbeiterpartei PT, die auch nach den Wahlen vom Oktober 2018 damit beschäftigt ist, ihre frühere Ikone, den wegen Korruptionsstraftaten zu mehr als 12 Jahren Freiheitsstrafe verurteilten und inhaftierten ehemaligen Staatspräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, als Helden zu feiern und zu versuchen, dessen vorzeitige Freilassung zu bewirken. Konstruktive und themenbezogene Oppositionsarbeit sieht anders aus.
Fazit: Die brasilianische Demokratie erscheint gefestigt
Entgegen aller Befürchtungen - und entsprechend negativer Berichterstattung gerade auch in vielen deutschen Medien sowohl im Vorfeld der Wahlen als auch seit Bolsonaros Amtsantritt am 1. Januar 2019 - sind die Institutionen der viertgrößten Demokratie der Welt zum jetzigen Zeitpunkt in einem guten Zustand. Eine (Militär-)Diktatur ist in Brasilien ebenso wenig errichtet worden wie ein faschistisches Regime oder dergleichen. Die Presse- und die Meinungsfreiheit sind in Brasilien nach wie vor in vollem Umfang gegeben – wie schon ein Blick auf die tägliche kritische Berichterstattung zeigt. Organisationen der Zivilgesellschaft und Nichtregierungsorganisationen können ihrer Arbeit zumindest bis zum heutigen Tag wie gewohnt und ohne Behinderungen von staatlicher Seite nachgehen. Eine sogenannte „Vorläufige Maßnahme“ des Staatspräsidenten vom 2. Januar 2019 ließ zunächst aufhorchen, geschehen ist seitdem jedoch nur wenig. Sie legt Zuschnitt und Zuständigkeiten des neuen Kabinetts fest und weist dem Staatssekretariat (Secretaria de Governo da Presidencia) unter Leitung von General Carlos Alberto dos Santos Cruz dabei die Befugnis zu, die Aktivitäten internationaler Organismen und von Nichtregierungsorganisationen in Brasilien zu überwachen, zu koordinieren, zu bewerten und zu begleiten ("supervisionar, coordenar, monitorar e acompanhar as atividades e as acoes dos organismos internacionais e das organizacoes nao governamentais no territorio nacional"). Einigen Organisationen wurden staatliche Mittel gekürzt, was allerdings das gute Recht jeder Regierung ist.
Die beiden schon wenige Wochen nach Amtsantritt eingebrachten Reformen sind vielversprechend für Brasiliens Zukunftsfähigkeit und rechtsstaatliche Stärkung. Vor allem haben sie das Potential, dem jahrelangen politischen Stillstand ein Ende zu setzen und endlich wieder Gestaltungsspielräume zu öffnen.
Von der Umsetzung der Reformen und der Lösung der bestehenden strukturellen Probleme wird die dauerhafte Legitimierung der Regierung ebenso entscheidend abhängen wie vom Verbleib der beiden „Superminister“ Guedes und Moro im Kabinett. Während der reformorientierte Flügel tatkräftig an der Umsetzung innen- und wirtschaftspolitischer Reformen arbeitet, ist die Außenpolitik noch auf der Suche nach einem klaren Kompass. Abzuwarten bleibt, welcher der drei Kabinettsflügel sich langfristig durchsetzen wird. Anstatt sie vorzuverurteilen oder geradezu zu beschimpfen, sollte die neue brasilianische Regierung auf jeden Fall an ihren Taten gemessen werden.
Fest steht, dass Brasilien als viertgrößte Demokratie, neuntgrößte Volkswirtschaft und in Bezug sowohl auf seine Bevölkerung als auch auf seine Fläche fünftgrößtes Land der Welt – noch dazu mit dem größten Anteil am Amazonasregenwald, dem größten Tropenwald der Erde – und außerdem als Mitglied der G-20 ein außerordentlich wichtiger Partner für Deutschland ist. Schon deshalb empfiehlt sich ein fairer und konstruktiver Umgang mit der Bolsonaro-Administration.
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