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Reuters / Aziz Taher

Country Reports

Parlamentswahlen im Libanon: Lehren und Entwicklungsszenarien

Die Wahlergebnisse spiegeln den Wunsch der Menschen im Libanon nach Reformen wider. Werden sie diese auch bekommen?

Die Parlamentswahlen im Libanon haben für einige Überraschungen gesorgt. Die Mehrheit des Parteienblocks um die Hisbollah ist gebrochen. Der Rückzug des mehrmaligen Premiers Saad Hariri und seiner Partei Future Movement hat darüber hinaus zu einer Demobilisierung der sunnitischen Wähler geführt. Neue sowie etablierte Oppositionskräfte und unabhängige Kandidaten gehen indes gestärkt aus den Wahlen hervor. Nun stellt sich die Frage, ob es der fragmentierten Opposition gelingt, eine Allianz zu formen, die personelle und inhaltliche Alternativen anbietet, ob es zu einer Art Einheitsregierung kommt oder ob das Land in einer politischen Paralyse verharrt.

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Wahlen in einem krisengebeutelten Land

Die Parlamentswahlen am 15. Mai boten den Libanesinnen und Libanesen Gelegenheit, gleich in mehrfacher Hinsicht Bilanz zu ziehen. Es waren die ersten Wahlen seit Aufkommen der Massenproteste im Land im Oktober 2019, die sich gegen die korrupten Eliten gerichtet und die nicht weniger als einen Wandel des auf Klientelismus und religiösem Proporz basierenden Systems gefordert haben. Es handelte sich um die ersten Wahlen seit Beginn eines dramatischen, durch verantwortungslose Politik verursachten wirtschaftlichen Niedergangs, der sich ungebremst fortsetzt und weite Bevölkerungsteile in Armut gestürzt hat. Und schließlich waren es die ersten Wahlen seit der Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020, bei der über 200 Menschen ums Leben kamen und deren Untersuchung im Libanon immer noch nicht vorangeht und insbesondere von Hisbollah und Amal blockiert wird.

Umfragen im Vorfeld hatten indes gezeigt, dass die Erwartungen der Menschen im Libanon an die Wahlen als Triebfeder für politische Veränderung nicht besonders hoch waren.[1] Erst in der Woche unmittelbar vor den Wahlen, als die libanesische Diaspora zu den Urnen gerufen wurde und dreimal so viele Auslandslibanesen wie bei den letzten Wahlen ihre Stimme abgaben, machte sich eine Politisierung im Land bemerkbar. Die tatsächliche Wahlbeteiligung fiel mit rund 49 % dann trotzdem genauso niedrig aus wie bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2018.

Sowohl die Lebanese Association for Democratic Elections (LADE) wie auch die Wahlbeobachter Mission der EU stellten am Wahltag massive Manipulationsversuche und Einschüchterung fest: [2] Sie kritisierten darüber hinaus, dass es in teilweise erheblichem Umfang zum Kauf von Stimmen gekommen sei. LADE Beobachter mussten sich am Wahltag aufgrund von Anfeindungen und Drohungen insbesondere in Gebieten unter Einfluss der Hisbollah aus Wahllokalen zurückziehen.

 

Gewinner und Verlierer der Wahl

Wenngleich der Urnengang selbst also demokratischen Standards nur bedingt genügte, so muss doch konstatiert werden, dass die Durchführung der Wahlen ein wichtiger Meilenstein im politischen Prozess im Libanon war. Die Ergebnisse der Wahl haben die politischen Konstellationen im Land in mehrfacher Hinsicht aufgerüttelt:

Die Mehrheit, die Hisbollah, Amal, die Freie Patriotische Bewegung (Free Patriotic Movement, FPM) und ihre Verbündeten im Parlament innehatten, ist erst einmal dahin. Dem Block lassen sich nur noch 58 Sitze im 128 Abgeordnete umfassenden Parlament zuordnen. Mandate verloren haben dabei die FPM und Amal sowie vor allem eine Reihe kleiner Parteien aus diesem Bündnis. Amal und Hisbollah können für sich zwar verbuchen, dass es ihnen gelungen ist, alle 27 schiitischen Sitze im Parlament zu gewinnen, müssen sich jedoch auch damit abfinden, dass sie ihre Wähler nicht im selben Umfang wie 2018 mobilisieren konnten. Der Erfolg zweier unabhängiger Kandidaten im Wettstreit um Minderheitensitze im Süden des Landes ist auch auf diesen Umstand zurückzuführen und wird als Niederlage für das Duo gewertet.

Bemerkenswert ist zudem, dass insbesondere die pro-syrischen Parteien dieses Blocks verloren haben: Marada konnte nur noch einen Sitz erringen (zuvor drei Sitze), die Syrian Social Nationalist Party (SSNP) ist gar nicht mehr im Parlament (zuvor drei Sitze) und auch der Drusenführer Talal Arslan, der ebenfalls dem syrischen Regime nahesteht, konnte seinen Sitz nicht verteidigen. Diese Akteure hätten vor allem die Wahlhilfe der Hisbollah benötigt, der es aber wichtiger war, die Verluste ihrer Alliierten FPM und Amal im Rahmen zu halten.

Als große Gewinnerin der Wahlen wird gemeinhin die Protestbewegung des 17. Oktober wahrgenommen, die fortan mit 13 Abgeordneten im Parlament vertreten sein wird. Bisher gab es mit Paula Yacoubian nur eine Abgeordnete aus diesem Kreis. Es handelt sich hier jedoch keineswegs um einen kohärenten Block mit einer einheitlichen Programmatik, sondern um eine Reihe von unabhängigen Kandidaten sowie um jeweils einzelne Vertreter einzelner Oppositionsgruppen. Lediglich die Gruppe Taqqadom ist mit zwei Abgeordneten vertreten. Das Ergebnis der Protestbewegung hätte noch besser ausfallen können, wenn es ihr gelungen wäre, sich in mehr als zwei der 15 Wahlbezirken auf eine gemeinsame Liste zu einigen, anstatt sich gegenseitig Konkurrenz zu machen. Besonders hervorgetan hat sich dabei die Partei Citizens in a State (MMFD) des Politikveteran Charbel Nahas, die im ganzen Land angetreten ist und damit in absoluten Zahlen zwar die meisten Stimmen aller Oppositionsgruppen erhielt, es aber in keinem Wahlkreis über die Mindesthürde für ein Parlamentsmandat schaffte.

Auch die Machtverhältnisse im christlichen Lager haben sich verschoben, wenngleich weniger deutlich als dies zeitweise zu erwarten war. Die Partei Lebanese Forces (LF) hat sich mit einer klaren Positionierung gegen die Hisbollah als stärkste Partei etablieren und 19 Parlamentssitze erringen können. Die Verluste der FPM, der zweiten großen christlichen Partei, sind indes weniger deutlich ausgefallen, als dies von vielen erwartet worden war. Die Partei wird mit 17 Abgeordneten im Parlament vertreten sein. Dies ist u.a. auf geschickte Allianzbildung etwa mit der Amal Bewegung, mit der im Vorfeld der Wahlen immer wieder heftig gestritten worden war, sowie insbesondere mit der Hisbollah zurückzuführen, die sich – wie bereits erwähnt - darum bemühte, die Verluste ihres christlichen Verbündeten möglichst im Rahmen zu halten, auch auf Kosten anderer verbündeter Parteien.[3]

Die dritte Partei im christlichen Lager, Kataeb, die seit Übernahme des Parteivorsitzes durch Samy Gemayel im Jahr 2015 einen Modernisierungsprozess durchlaufen hat, hat sich ebenfalls klar gegen Hisbollah positioniert. Sie ist jedoch seit 2019 auch proaktiv auf die Protestbewegung zugegangen. In den Wahlkreisen, in denen sie angetreten ist, hat sie darüber hinaus gemeinsame Listen mit unabhängigen Kandidaten gebildet, zu denen auch ehemalige Verbündete der FPM gehörten, wie Neemat Frem oder Michel Mouawad, die – wie die Kataeb Abgeordneten auch - nach der Hafenexplosion im August 2020 aus Protest ihr Mandat niedergelegt hatten.

Das Vakuum im sunnitischen Lager, das nach dem Rückzug von Saad Hariri und seiner Partei Future Movement (FM) Ende Januar entstanden war, konnte niemand füllen. Die Versuche etablierter Politiker und ehemaliger FM Angehöriger wie Fouad Siniora oder Mustapha Allouch, das sunnitische Lager zu ordnen, scheiterten ebenso wie die Bemühungen auf lokaler Ebene etablierter sunnitische Politiker wie Fouad Makhzoumi in Beirut und Premierministr Najib Mikati in Tripoli ihre Machtbasis auszuweiten. Stattdessen konnten vor allem unabhängige Kandidaten und Vertreter der Protestbewegung sunnitische Parlamentssitze erringen. Damit bleibt die Frage offen, wer im auf konfessionelle Machtverteilung basierenden System des Libanons in Zukunft die Sunniten im Land vertreten wird.

 

Die großen Themen: Reformen, politische Ämter und Hisbollahs Waffen

Das Ergebnis der Wahlen spiegelt zunächst die Fragmentierung der politischen Landschaft wider und zwingt Oppositionsgruppen wie auch etablierte Parteien im Land sich neu zu positionieren. Maßgebliche Themen, um die herum sich Allianzen und Konfrontationen abzeichnen werden, sind: 

(1) Die Besetzung von politischen Ämtern im Nachklang der Wahlen, wie das Amt des Parlamentssprechers, die Auswahl eines Premierministers und die Bildung einer neuen Regierung sowie die Vorbereitung und Kandidatenkür mit Blick auf die für Oktober 2022 anstehende Wahl eines neuen Präsidenten. An Amal-Führer Nabih Berri führte beim Amt des Parlamentssprechers kein Weg vorbei, da alle schiitischen Parlamentsmandate in Hand von Amal und Hisbollah sind und der Sprecher ein schiitisches Parlamentsmitglied sein muss. Die Kandidatenfragen mit Blick auf das Amt des Premierministers, das einem Sunniten vorbehalten ist, und des Staatspräsidenten, der ein maronitischer Christ sein muss, sind indes weit weniger klar. Hier ist in den kommenden Wochen und Monaten ein Ringen um Kandidaten zu erwarten.

(2) Auf der Policy-Ebene lässt sich gleich eine Reihe von Fragen identifizieren, die als Indikatoren für die Ernsthaftigkeit der Reformbereitschaft politischer Akteure dienen können. Hier sind zum einen die Ausarbeitung und Durchführung der dringend benötigten Reformen entlang der Vereinbarungen mit dem Internationalen Währungsfonds zu nennen, mit dem im April 2022 ein vorläufiges Abkommen geschlossen wurde. Nicht weniger substanziell ist das Gesetz zur Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz, dessen Entwurf derzeit von der Venedig-Kommission des Europarats evaluiert wird und das im Sommer dieses Jahres zur Abstimmung kommen könnte. Wie wichtig dieses Thema ist, zeigt sich nicht zuletzt an der stockenden Aufklärung der Verantwortlichkeiten für die Hafenexplosion. Auch der Vorschlag zur Einführung eines elektronischen Abstimmungsverfahrens im Parlament steht im Raum, wodurch mehr Transparenz und damit auch politische Verantwortlichkeit hergestellt würde – bisher stimmen die Abgeordneten in der Regel per Handzeichen ab und der Parlamentssprecher stellt fest ob eine Mehrheit besteht oder nicht.

(3) Das größte Eskalationspotenzial hat indes die Frage des Umgangs mit der Hisbollah, deren Entwaffnung als Voraussetzung für eine Konsolidierung der staatlichen Institutionen des Libanons gesehen wird. Dies ist eine zentrale Forderung vieler etablierter wie neuer politischer Akteure. Hier schließt sich auch die Frage der grundsätzlichen außenpolitischen Positionierung des Libanons an. Die Involvierung der Hisbollah in zahlreiche der lokalen Konfliktherde wie Syrien, Irak und Jemen, hat immer wieder zur außenpolitischen Isolation des Libanons geführt.  

 

Entwicklungsszenarien zwischen Polarisierung und Paralyse

Drei grundlegend unterschiedliche Szenarien für den politischen Prozess der kommenden Monate lassen sich vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Konstellationen und Themen unterscheiden:

(1) Es kommt zur Bildung einer Art nationalen Einheitsregierung, die die meisten Akteure in der einen oder anderen Weise einbindet. Dieses Modell würde der Praxis der Machtteilung entsprechen, die im politischen System des Libanon omnipräsent und in erheblichem Maße für die Krise verantwortlich ist, die das Land derzeit durchlebt. Prädestinierter Premierminister könnte dabei Najib Mikati sein, der derzeit geschäftsführend im Amt ist.  In diese Richtung argumentierte Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah, der eingestand, dass sein Lager zwar die Mehrheit verloren habe, aber auch niemand sonst eine Mehrheit habe und daher die Zusammenarbeit aller Parteien geboten sei.[4]

(2) Eine Alternative hierzu wäre die Bildung eines parlamentarischen Mehrheitsblocks, der etablierte und neue Oppositionsgruppen und unabhängige Kandidaten im Parlament umfassen müsste. Eine solche Parlamentsmehrheit könnte einen Premierminister vorschlagen, den Staatspräsident Michel Aoun dann mit der Regierungsbildung beauftragen müsste, deren Zustandekommen aber letztlich auch von seiner Zustimmung abhinge. Der Parteichef der LF, Samir Geagea hat bspw. bereits angekündigt, dies versuchen zu wollen.[5] Denkbar wäre etwa ein Premier mit einer unabhängigen Expertenregierung und einem Reformprogramm für die Monate bis zur Präsidentenwahl. Es ist jedoch unklar, ob dieses Unterfangen gelingen wird, da viele der neuen Akteure im Parlament den etablierten Parteien im Allgemeinen ablehnend gegenüberstehen. Es stellt sich zudem die Frage, wie Hisbollah und ihre Verbündeten auf einen solchen Schritt reagieren würden. In jedem Fall wäre dies das Szenario mit dem größten Polarisierungs- und Eskalationspotenzial.

(3) Nicht auszuschließen ist auch ein drittes Szenario, in dem es weder zu einer Einheits- noch einer Mehrheitsregierung, sondern zu einer politischen Paralyse kommt. Insbesondere über Fragen der Besetzung des Premierministers und die Nachfolge von Präsident Michel Aoun einerseits und die Rolle der Hisbollah im Libanon andererseits würden sich hier unüberwindbare Konflikte bilden. Die aktuelle geschäftsführende Regierung bliebe dann bis auf weiteres im Amt, hätte aber nur sehr eingeschränkte Befugnisse. Weitere Kollateralschäden wären daher die dringend benötigten Reformen. Dies kann sich der Libanon angesichts der dramatischen Wirtschaftskrise und der immer weiter schwindenden Ressourcen des Landes zwar in keinem Fall leisten, viele halten es jedoch für das wahrscheinlichste Szenario.

Nicht ganz unerheblich dafür, welche Richtung die Entwicklung im Libanon einschlagen wird, ist auch der internationale Kontext. Iran, Saudi-Arabien, Frankreich und auch die USA sind in unterschiedlicher Weise im Libanon präsent, üben Einfluss aus und versuchen ihre Interessen zu wahren. Aus saudischer Sicht ist vor allem die regionale Rolle der Hisbollah als verlängerter Arm des Irans problematisch und man wünscht deren Eindämmung. Die USA haben nicht zuletzt durch die jüngst erweiterte Sanktionsliste gegen mit der Hisbollah verbündete Einzelpersonen deutlich gemacht, dass sie diese Sorgen teilen. Für Iran wiederum ist die Hisbollah ein wichtiges Instrument zur Ausweitung seines regionalen Einflusses. Die französische Politik sucht einen pragmatischen Mittelweg. Einerseits sieht man die Probleme, die Hisbollah regional verursacht, andererseits würden die französischen strategischen, politischen und wirtschaftlichen Interessen im Libanon bei einer Polarisierung und Eskalation mit ungewissem Ausgang gefährdet.

Wie einflussreich externe Akteure im Land sind hat sich zuletzt bei der Regierungsbildung im September 2021 gezeigt, als ein dreizehnmonatiger Stillstand erst nach einer Annäherung zwischen Frankreich und Iran überwunden werden konnte. Ähnlich ist jetzt davon auszugehen, dass der Verlauf der Verhandlungen zwischen Iran und der internationalen Gemeinschaft zur Wiederbelebung des Atomabkommens (JCPOA) genauso eine Rolle für den Libanon spielen wird wie die Gespräche zwischen Iran und Saudi-Arabien, die sich mit irakischer Vermittlung um eine Verbesserung ihrer Beziehungen bemühen.

 

[1]     

In einer Umfrage der KAS erklärte lediglich die Hälfte der Befragten, dass sie die Wahlen als Faktor für Veränderungen sehen. Study of Perceptions and Attitudes of Lebanese Citizens towards the Economic, Social and Political Situation in Lebanon. Beirut, Dezember 2021

[2]

European Union Election Observation Mission Lebanon Preliminary Statement, Vote-buying practices affected the voters’ free choice and resulted in a lack of level-playing field, Beirut, 17 May 2022

 L’Orient Le Jour, Des «centaines d’irrégularités», selon la LADE, 17. Mai 2022

[3]

Salah Hijazi, Comment le Hezbollah a permis à Gebran Bassil de limiter la casse, L’Orient Le Jour, 21. Mai 2022

[4]

Reuters, Hezbollah chief Nasrallah acknowledges loss of Lebanon parliamentary majority, 18. Mai 2022

[5]

National News Agency, Geagea: We support the formation of an effective majority government, 21. Mai 2022

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