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AKP-Verbotsantrag und Ermittlungen gegen den „tiefen Staat“ stellen die Türkei vor Zerreißprobe

Der politische Machtkampf zwischen den politischen Lagern in der Türkei hat sich in den letzten Wochen erneut zugespitzt und stellt das Land vor eine innenpolitische Zerreißprobe. Die Linien des Konflikts lassen sich nicht einfach nachzeichnen, im Wesentlichen verlaufen die Fronten jedoch zwischen den konservativ-religiösen Kräften um die Regierungspartei AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) und dem laizistisch-kemalistischen Lager.

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Am 9. Februar 2008 setzte die AKP im türkischen Parlament mit Unterstützung der oppositionellen MHP (Nationalistische Aktionspartei) die Verabschiedung einer Verfassungsänderung durch, mit der das Kopftuchverbot an den Universitäten aufgehoben werden soll. Am 22. Februar setzte Staatspräsident Abdullah Gül die Gesetzesänderung mit seiner Unterschrift in Kraft. Die Freigabe des Kopftuchs, das von den Verfechtern des Laizismus als ein Symbol des politischen Islams gesehen wird, war ein wichtiges Wahlversprechen der AKP vor den Parlamentswahlen im Sommer 2007.

Der von Präsident Gül ernannte neue Vorsitzende des Hohen Hochschulrats (YÖK) Prof. Ziya Özcan forderte in einem Rundschreiben die Universitätsrektoren auf, mit Beginn des neuen Semesters am 25. Februar das Kopftuch freizugeben. Die Mehrheit der Rektoren verweigerte sich jedoch dieser „Anweisung“ mit der Begründung, zunächst müsse das geltende Hochschulrecht entsprechend geändert werden.

Am 27. Februar reichten die Oppositionsparteien CHP (Republikanische Volkspartei) und DSP (Demokratische Linkspartei) beim Verfassungsgericht eine Klage ein, mit der die Gesetzesänderung zur Kopftuchfreigabe als verfassungswidrig erklärt (Verstoß gegen das Laizismusprinzip) und infolgedessen annulliert werden soll. Das Verfahren in dieser Angelegenheit ist vom Verfassungsgericht eröffnet worden und noch nicht abgeschlossen.

Am 11. März entschied das Oberste Verwaltungsgericht der Türkei, dass der Vorsitzende der Hochschulbehörde YÖK mit seiner Anweisung zur Freigabe des Kopftuchs seine Kompetenzen überschritten habe. Bis zum Urteil des Verfassungsgerichts über die Rechtsmäßigkeit der Verfassungsänderung gelten somit weiterhin die alten Regeln.

Dass die politische Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern des Kopftuchs außer einiger kleinerer Demonstrationen zuerst nicht weiter eskalierte, ist vor allem dem Umstand zuzurechen, dass Ende Februar eine Bodenoffensive der türkischen Armee gegen PKK-Stellungen im Nordirak durchgeführt wurde und damit die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit vorwiegend auf die Entwicklung in diesem Gebiet gerichtet war.

Am Freitag, den 14. März 2008, reichte der türkische Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalçınkaya beim Verfassungsgericht den Antrag zum Verbot der Regierungspartei AKP ein. Dieser Schritt kam überraschend, obwohl bekannt war, dass die Staatsanwaltschaft bereits seit einiger Zeit Indizien für ein mögliches Parteiverbot sammelte.

In dem Antrag wird der AKP vorgeworfen, ein Zentrum für Aktivitäten gegen die säkulare Republik zu sein und islamistische Pläne zu hegen. Dies soll mit einer langen Liste von „Beweisen“ belegt werden, darunter u. a. die von der AKP initiierte Verfassungsänderung zur Aufhebung des Kopftuchverbots an Universitäten. Dem Verbotsantrag ist eine Liste von 71 AKP-Politikern (darunter Ministerpräsident Erdoğan und Präsident Gül) beigefügt, denen für 5 Jahre jegliche politische Betätigung untersagt werden soll.

Der Antrag wurde vom Verfassungsgericht geprüft und am 31. März einstimmig als zulässig akzeptiert. Eine Mehrheit der Richter (7:4) entschied zudem, Staatspräsident Gül in die Klage mit einzubeziehen. Die AKP kann innerhalb eines Monats ihre Verteidigung einreichen, für die Urteilsfindung werden vermutlich weitere fünf bis sechs Monate erforderlich sein.

Das Verfassungsgericht setzt sich aus 11 Richtern (und 4 Ersatzrichtern) zusammen. Für den Beschluss eines Parteiverbots müssen mindestens 7 Richter stimmen. 8 der Verfassungsrichter wurden vom früheren Staatspräsident Sezer ernannt, der ein strikter Verfechter des Laizismus und politischer Widersacher der AKP war. Im letzten Sommer hatte das Verfassungsgericht die erste Runde der Präsidentschaftswahlen mit dem AKP-Kandidaten Gül für ungültig erklärt und damit eine politische Krise verursacht, die zu vorgezogenen Parlamentswahlen führte. Die AKP ging dann mit einem Wahlergebnis von knapp 47 Prozent deutlich gestärkt aus dem Konflikt hervor.

In den türkischen Medien wurden drei mögliche Szenarien für den Ausgang des Verfahrens diskutiert:

1.Der Antrag wird wegen unzureichender Beweisführung oder formeller Mängel nicht zugelassen (dieses Szenario ist nicht eingetreten).

2.Das Verfahren wird eingeleitet und endet mit einem Verbot der AKP und der politischen Verbannung ihrer Spitzenkräfte.

3.Das Verfahren wird eingeleitet, endet aber nicht mit einem Parteiverbot, sondern mit einer abgemilderten Strafe, wie z. B. dem Entzug der staatlichen Finanzförderung, oder einem Parteiverbot ohne Politikverbot für AKP-Führungskräfte (dies würde eine rasche Fortsetzung der AKP-Politik unter einem anderen Parteinamen ermöglichen).

Die AKP gab sich zunächst selbstbewusst und zuversichtlich, dass sie aus der Krise erneut gestärkt hervorgehen wird. Erdoğan hatte auf einer Klausurtagung der AKP-Führung Anweisungen zum weiteren Vorgehen gegeben: Ähnlich wie bei der Krise um die Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr solle sich die Partei als Opfer des autoritären Staatsapparates präsentieren und somit Sympathien bei der Bevölkerung sichern. Mittlerweile wird in der AKP die Möglichkeit geprüft, ob durch eine Änderung der Verfassung und des Parteiengesetzes das eingeleitete Verbotsverfahren gestoppt werden kann. Notfalls wolle man zu den Gesetzesänderungen ein Referendum abhalten, was allerdings die politische Krise nur noch steigern würde.

Nach der Aufnahme der Verhandlungen zum AKP-Verbotsantrag wird sich die politische Auseinandersetzung in der Türkei voraussichtlich weiter zuspitzen, die dringend notwendige Fortsetzung der Reformen könnte auf Monate hinweg blockiert sein und die EU-Annäherung könnte ins stocken geraten. Ein ev. Parteiverbot würde das Land in eine ernste politische Krise stürzen. Zudem deuten viele Wirtschaftsindikatoren seit einiger Zeit darauf hin, dass der Türkei alsbald eine Finanz- und Wirtschaftsflaute drohen könnte. Eine politische Lähmung der Regierung käme da völlig unpassend.

Seit 1963 hat das Verfassungsgericht 24 Parteien verboten, darunter die islamistischen Parteien „Wohlfahrtspartei“ und „Tugendpartei“, in denen viele Gründungsmitglieder der AKP ihre politische Karriere begonnen haben.

Ermittlungen gegen Geheim-Netzwerk

Im Zusammenhang mit dem AKP-Verbotsverfahren rückt derzeit auch die seit Sommer 2007 laufenden Ermittlungen gegen eine ultranationalistische Untergrundorganisation mit der Bezeichnung „Ergenekon“ in den Vordergrund der Aufmerksamkeit.

Im Rahmen der „Operation Ergenekon“ sind laut Medienberichten mittlerweile über 40 Personen verhaftet worden, denen vorgeworfen wird, an der Planung und Durchführung zahlreicher Mord- und Terroranschläge beteiligt gewesen zu sein und für 2009 einen Staatstreich vorbereitet zu haben. Das ganze Verfahren ist äußerst komplex und mit einer beträchtlichen politischen Brisanz verbunden. Da seit Beginn der ersten Festnahmen am 22. Januar 2008 zwar offiziell eine Nachrichtensperre verhängt wurde, in einigen Medien aber dennoch gezielt detaillierte Informationen über die laufenden Ermittlungen durchsickern, ist eine unabhängige Analyse der Fakten nicht möglich.

Die folgende Kurzdarstellung beruht auf Informationen einzelner Medien und soll deshalb nicht als verifiziert und vollständig verstanden werden:

Ausgangspunkt der laufenden Ermittlungen ist der Fund von 27 Handgranaten, TNT-Stangen und Zündern bei einer Hausdurchsuchung im Istanbuler Stadtteil Ümraniye im Juni 2007. Die Handgranaten konnten Mitgliedern einer nationalistischen Gruppierung (Kuvaicı – abgeleitet von Kuvayı Milliye, den nationalen Befreiungskräften von 1919) zugeordnet werden. Untersuchungen ergaben ferner, dass Granaten der gleichen Produktionsserie auch bei anderen früheren Straftaten benutzt worden waren – einem Mordanschlag auf einen Geschäftsmann in Izmir sowie einem Anschlag auf die Tageszeitung Cumhuriyet im Frühjahr 2006. Die Granaten sollen aus Armeebeständen stammen.

Nach mehrmonatigen Ermittlungen und Observierungen wurden im Januar 2008 weitere Festnahmen und Hausdurchsuchungen durchgeführt. Bei einer Razzia in sechs Städten wurden über 30 mutmaßliche Mitglieder einer Geheimorganisation Namens „Ergenekon“ (der Name entstammt einer Legende über die mythische Urheimat der Türken) verhaftet. Von der Bedeutung der Aktion zeugt, dass Ministerpräsident Erdoğan persönlich der Polizei zum Erfolg gratulierte.

Ergenekon habe sich laut Medienberichten als geheime paramilitärische Untergrundorganisation der Verteidigung der Prinzipien des Kemalismus verpflichtet und den Kampf gegen feindliche ausländische und inländische Kräfte aufgenommen. Dokumenten zufolge, die bei den Durchsuchungen gefunden wurden, solle gegen „Nachrichtendienste sowie legale und illegale Organisationen“ gekämpft werden, zu den akzeptablen Mitteln des Kampfes gehörten politische Morde, Drogenhandel, Attentate sowie die Zusammenarbeit mit dem organisierten Verbrechen. Brisant sind Informationen über die Morde und Attentate, bei denen die Verschwörer bereits die Fäden gezogen haben sollen: Auf ihr Konto könnten demnach der Mord an dem italienischen Priester Andrea Santoro in Trabzon gehen, das Attentat auf das Oberste Verwaltungsgericht, bei dem Richter Mustafa Yücel Özbilgin getötet wurde, und auch der Mord an den türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink.

Ergenekon verfüge über eine komplexe Organisationsstruktur, die aus legalen Gliederungen und illegalen militanten Gruppierungen besteht. Einzelne Gruppierungen wüssten nicht von der Existenz anderer, lediglich auf Führungsebene liefen die Organisationsfäden zusammen.

Unterstellt wird, dass die Gruppe durch spektakuläre Anschläge ein Klima schaffen wollte, dass spätestens 2009 einen Staatstreich der Armee gerechtfertigt hätte. Zu diesem Zweck sei u. a. Attentate auf den Schriftsteller Orhan Pamuk und die Kurden-Politiker Ahmet Türk, Leyla Zana und Osman Baydemir geplant gewesen. Ein mit Sprengstoff beladener Kleintransporter, der im vergangenen Jahr in Ankara aufgefunden wurde, wird ebenfalls Ergenekon zugeordnet. Mit einer damals verbreiteten Falschmeldung, drei weitere mit Sprengstoff gefüllte Transporter seien in Istanbul unterwegs, sollte Unruhe in der Bevölkerung geschürt werden.

Zu den bislang (bis März 2008) Verhafteten gehören Ex-Militärs, Rechtsanwälte, Schriftsteller, Richter und Journalisten. Darunter sind einige bekannte Persönlichkeiten, wie der Anwalt Kemal Kerincsiz (er erhob die Klagen gegen Orhan Pamuk, Elif Şafak und Hrant Dink wegen „Beleidigung des Türkentums“), der pensionierte General der Gendarmerie Veli Küçük (angeblicher Gründer des Geheimdienstes der Gendarmerie JITEM), der Vorsitzende der ultranationalistischen Arbeiterpartei IP, Doğu Perinçek, sowie der Chefkolumnist der Tageszeitung „Cumhuriyet“ İlhan Selçuk (mittlerweile unter Auflagen wieder freigelassen).

Ergenekon ist kein neues Phänomen. Bereits 1996, als bei einem Autounfall in Susurluk ein Mafia-Killer, dessen Geliebte und ein hoher Polizeibeamter starben, (der vierte Insasse, ein Parlamentsabgeordneter der DYP, überlebte) ergaben die anschließenden Ermittlungen Hinweise auf eine Verflechtung von Staat, organisierter Kriminalität und Politik und die Existenz einer geheimen Contraguerilla. Damals wurde von einigen Journalisten vermutet, dass es sich um die Ableitung eines sog. „Stay-behind“-Netzwerkes aus der Zeit des Kalten Krieges handeln könnte (ähnlich wie die Strukturen, die bei dem Fall „Operation Gladio“ in Italien 1990 aufgedeckt wurden).

Über die der AKP nahe stehenden Medien wird der Eindruck vermittelt, die Ergenekon-Operation sei ein Schlag gegen ein antidemokratisches nationalistisches Verschwörernetzwerk und würde zur Entmachtung des „tiefen Staates“ beitragen. Von der als „kemalistisch“ bezeichneten Seite wird wiederum behauptet, die jüngste Verhaftungswelle (21.03.) sei eine Revanche der Regierung gegen das AKP-Verbotsverfahren. Die AKP versuche zudem ihrerseits ein eigenes Netzwerk zur Machtfestigung aufzubauen.

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Sven-Joachim Irmer

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