Ausgangslage
Der Vorgänger von Leo XIV., Papst Franziskus, war innerhalb der Kirche nicht unumstritten. Den einen galt er als gehemmter Reformer, der zwar bestrebt war, Neuerungen in der katholischen Kirche durchzusetzen, letztendlich aber an den internen Machtstrukturen scheitern musste, da er selbst, als Außenseiter “vom Ende der Welt”, wie er nach seiner Wahl am 13. März 2013 sagte, im Vatikan keine Hausmacht besaß. Andere wiederum sahen in ihm einen Rebellen, der die Tradition zu verraten im Begriff war, weil er über die Möglichkeit verheirateter Priester in der entlegenen Amazonas-Region diskutieren ließ oder keine eine eindeutige Verurteilung homosexueller Menschen vornahm.
Die Wahl des neuen Papstes wurde als Richtungswahl verstanden: Sollte die Kirche den Kurs von Papst Benedikt XVI. wieder aufnehmen, einen Kurs, der stark nach innen fixiert war und mit dem Gedanken spielte, lieber Mitglieder zu verlieren als sich den Fragen der Gegenwart zu stellen, oder sollte sie den Kurs von Papst Franziskus beibehalten, der auf eine Öffnung der Kirche setzte und auch die Menschen am Rand der Gesellschaft, wie z.B. Prostituierte, Strafgefangene und Obdachlose – im Blick hatte.
Benedikt XVI. verdeutlichte seinen Ansatz mit dem Diktum von einer “Entweltlichung der Kirche”und meinte damit, dass sich die Kirche nicht dem Zeitgeist anpassen oder gar unterordnen dürfe. Dieses Denken durchzieht das Werk Joseph Ratzingers seit den späten sechziger Jahren. Sein Leitungsstil im Vatikan wurde daher als rigoros empfunden. Um den Anspruch eines wissenden Papsttums zu unterstreichen, belebte Benedikt XVI. alte Riten wieder und trug liturgische und päpstliche Gewänder, die an die Zeit unumschränkter kirchlicher Macht erinnerten.
Franziskus legte ostentativ Zeichen päpstlicher Macht und Privilegien ab. So trug er nach seiner Wahl zum Segen Urbi et Orbi nicht die Mozetta, den roten Schulterkragen, und legte die Stola erst zum Segen an. Gruß und Gestik waren minimalistisch, um einer aus seiner Sicht über die Gebühr gehenden Verehrung des päpstlichen Amtes einen Riegel vorzuschieben. Des Weiteren bezog Franziskus nicht die Gemächer im Apostolischen Palast, sondern wohnte im Gästehaus des Vatikans Sankt Marta, wo man ihn auch in der Schlange um das Mittagessen anstehen sah. Franziskus fuhr auch mit einem einfachen, weißen Fiat 500 durch die Straßen Roms, zum Erstaunen und zur Freude der Römer.
Sein größter Widersacher, der amerikanische Kardinal Raymond Burke, schrieb mit einigen Gleichgesinnten einen Brief an Franziskus, genannt dubia, in dem er Zweifel an der Rechtgläubigkeit des Papstes äußerte. Dieser unglaubliche Vorgang, der Burke seine Position und großzügige Wohnung im Zentrum der Ewigen Stadt kostete, machte überdeutlich, wie weit der Lagerkampf innerhalb der katholischen Kirche gediehen war.
Die Wahl seines Nachfolgers wurde aufgrund der polarisierenden Persönlichkeit Franziskus’ als eine Schicksalsfrage der Kirche betrachtet. Würde ein Nachfolger den Reformkurs des Argentiniers fortsetzen oder würde die Riege um Kardinal Burke einen konservativen Nachfolger, der in Stil und Inhalt an Franziskus’ Vorgänger, Papst Benedikt XVI., anknüpfen würde, auf den Stuhl Petri setzen?
Wo steht der neue Papst kirchenpolitisch?
Mit der Wahl von Kardinal Robert Francis Prevost ist dem Kardinalskollegium ein Wurf gelungen, der die Spannung zwischen den beiden Lagern innerhalb der katholischen Kirche aufheben könnte.
Sein Jahrzehnte langes Engagement als Missionar, Priester und Bischof für die Ärmsten in Peru und die Wahl seines Namens legen den Schluss nahe, dass Leo XIV. ein Papst sein wird, der sich für die Belange der Armen und Entrechteten einsetzen wird. Sein Namensvorgänger Leo XIII. antwortete auf die prekäre Situation der Arbeiter im Industriezeitalter mit der Enzyklika “Rerum Novarum”, die bis heute als Grundlage der modernen katholischen Soziallehre gilt. Dieses Engagement für die Schwachen ergänzt er, wie sein Vorgänger Franziskus auch, mit einem päpstlichen Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung. Hier knüpft Leo tatsächlich an seinen Vorgänger Franziskus an.
Leo versteht sich deshalb allerdings nicht automatisch als ein liberaler Reformer. Bei seinem ersten Auftreten auf der Loggia des Petersdomes trug er wieder (rote) Mozetta und Stola, wie vor ihm die Vorgänger von Papst Franziskus auch. Zudem hat Papst Leo angekündigt, wieder in die Wohnung im Apostolischen Palast zu ziehen.
“Liberal” ist der neue Papst in dem Sinne, dass er synodal denkt und nicht hierarchisch. Das gründet in seiner Spiritualität als Augustinermönch. Im Zentrum der Lehre des Augustinus von Hippo steht die Gemeinschaft. Um sie zu erhalten bedarf es des Zuhörens, des Austauschs, des Aufeinanderzugehens und der Konsensbildung. Leo wird diese Spiritualität, die er als einfacher Mönch und Oberhaupt des Augustinerordens über viele Jahre eingeübt hat, als Papst auf die katholische Weltkirche übertragen. Schon bei der erwähnten ersten Ansprache nach seiner Wahl sprach Leo XIV. in diesem Sinne von einer "synodalen Kirche”.
Unter ihm sollen die 1,4 Milliarden Katholiken nicht von oben herab aus Rom regiert werden, sondern vom Kollegium der Bischöfe, die keine ewigen Wahrheiten wiederholen, sondern im Zuhören die gegenwärtige Welt verstehen. Er, der Papst, ist in diesem Konstrukt, kein absoluter Herrscher, sondern der “primus inter pares”, also der Erste unter Gleichen. Dieser Blick auf das Papsttum rückt die katholische Kirche weg von der Vorstellung Joseph Ratzingers, der als Benedikt XVI. eine Kirche verkörperte, die verkündet und weiß.
Die Wahl Leos zum Nachfolger von Papst Franziskus illustriert, dass die Weltkirche (Kardinal Prevost erhielt weit mehr[1] als die 89 zu seiner Wahl nötigen Stimmen) insgesamt auf dieses Kirchenbild setzt. Mit diesem Ansatz hat er auch bei konservativen Kardinälen verfangen, die ihre Stimme für Leo nicht als eine Stimme für eine liberale Gesellschaft, sondern für eine Kirche abgegeben haben, in der auch ihre Stimme gehört wird. Der Papst wird den traditionellen Flügel im Kardinalskollegium nicht missachtend zur Seite schieben.
Diese binnenkirchliche liberale Synodalität bedeutet nicht, dass Leo XIV. Frauen zu Priesterinnen weihen oder einer Ehe für gleichgeschlechtliche Paare seinen Segen geben wird. Der Papst hat in seiner Laufbahn an keiner Stelle zu verstehen gegeben, dass er hier Handlungsbedarf sieht. Wohl aber wird er zuhören, moderieren und alleine schon dadurch, dass dieses synodale Gespräch möglich sein wird, das Klima der Offenheit in der Weltkirche weiter befördern. Wo für Benedikt XVI. die “Diktatur des Relativismus” am Werk war, sieht er eine Vielgestaltigkeit der Kirche, in der nicht Alles bis aufs Iota durchreglementiert sein muss.
Der Papst und die gegenwärtige Weltpolitik
Leo XIV. wurde in den Medien, verkürzt, als “erster US-Amerikaner auf dem Stuhl Petri” bezeichnet. Verkürzt deshalb, weil er als Ordensmann und Bischof zwei Jahrzehnte lang in Peru lebte und wirkte. Robert Francis Prevost hat neben der US-amerikanischen auch die peruanische Staatsangehörigkeit. Die Kardinäle, die ihn gewählt haben, sahen ihn deshalb nicht in erster Linie als US-Bürger. Gleichzeitig haben sie mit seiner Wahl nicht nur eine kirchen-, sondern auch eine geopolitische Entscheidung getroffen. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn man die anderen Kardinäle anschaut, die vor dem Konklave als Favoriten galten: ein Pontifikat von Kardinal Luis Tagle, dem langjährigen Erzbischof Manila auf den Philippinen hätte aufgrund seiner chinesischen Vorfahren einen starken Bezug zu Asien und dort in Richtung Volksrepublik China gehabt. Ein Pontifikat von Kardinal Pierbattista Pizzaballa, dem Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, hätte einen Schwerpunkt auf dem Heiligen Land sowie der Situation der Palästinenser und Christen im Nahen Osten gehabt. Mit der Wahl von Kardinal Prevost sagen die Kardinäle also, dass sie den Zustand der Vereinigten Staaten von Amerika als einen kritischen geopolitischen Umstand ansehen, den anzusprechen der neue Papst nicht umhinkommen wird und soll, auch, weil er US-Amerikaner ist.
Mittlerweile begleiten christliche Geistliche (nicht nur katholische) Immigranten in den USA zu ihren Gerichtsterminen[2] und hoffen, so eine Verhaftung verhindern beziehungsweise Beistand leisten zu können. Bereits als Kardinal hat Papst Leo XIV. die Immigrationspolitik der Trump-Administration gerügt[3]. Es steht zu erwarten, dass es hier zu weiteren Konfrontationen kommt. Sowohl US-Vizepräsident J.D. Vance als auch “Border-Zar” Tom Homan sind Katholiken. Sie haben sich verbal schwer gegen Papst Franziskus vergangen, der die Trump-Regierung ebenfalls kritisierte.
Allerdings unterstützen viele US-Amerikaner die emphatische Haltung des neuen Papstes: Eine Mehrheit von ihnen findet die Sicherung der südlichen Außengrenze richtig. Zur selben Zeit ist eine Mehrheit von ihnen gegen Trumps Maßnahmen gegen illegale Immigranten im Landesinneren, willkürliche Verhaftungen, Abschiebungen ohne Prozess, und die Aberkennung von Visa-Status für Menschen, die friedlich ihre Meinung geäußert haben. Der Präsident arbeitet hier gegen eine Mehrheit des amerikanischen Volkes. Sie könnte in Leo XIV. eine Person finden, die ihre Überzeugung repräsentiert.
Inhaltliche Schwerpunkte des Pontifikates
Nach hundert Tagen im Amt hat sich bereits ein Großthema herauskristallisiert, dem sich Papst Leo XIV. widmen möchte: der Künstlichen Intelligenz, ihren Gefahren und Möglichkeiten.
Hier knüpft Leo an seinen Vorgänger an. Papst Franziskus hat die Welt vor den Gefahren, die von Künstlicher Intelligenz ausgehen können, gewarnt. Im Vatikan-Dokument "Antiqua et Nova” (Januar 2025) sprach der Pontifex vor dem Potenzial des „Schattens des Bösen“ dieser Technologie. Zwar biete sie „große Chancen", aber "auch erhebliche Risiken“. Papst Franziskus forderte, dass die neue Technologie die menschliche Intelligenz ergänzen solle, „anstatt ihren Reichtum zu ersetzen“.
Papst Leo XIV. hat bereits in der ersten Woche nach seinem Amtsantritt seine Bedenken hinsichtlich der rasant fortschreitenden KI-Technologie öffentlich artikuliert. In seiner Antrittsrede vor dem Kardinalskollegium erklärte er, die Kirche werde sich mit den Risiken auseinandersetzen, die künstliche Intelligenz für „Menschenwürde, Gerechtigkeit und Arbeit“ birgt. In seiner ersten Rede vor Journalisten verwies er auf das „immens große Potenzial“ der künstlichen Intelligenz und warnte gleichzeitig vor Verantwortung, „um sicherzustellen, dass sie zum Wohle aller eingesetzt werden kann“.
KI hat begonnen, massenhaft Arbeitsplätze zu ersetzen, was Gefahren für den sozialen Frieden in Gesellschaften bedeuten könnte. Gerade dieser Aspekt dürfte Papst Leo XIV. besonders interessieren. Mit der Wahl seines Namens knüpft er an seinen Vorgänger Leo XIII. an, der sich im Zeitalter der industriellen Revolution, einer Phase großer, rasanter technologischer Veränderungen, für die Belange der Arbeiterschaft eingesetzt hat. Seine Enzyklika “Rerum Novarum” wurde zur Grundlage der katholischen Soziallehre, die bis heute, auch außerhalb der Kirche, als wesentlicher Bestandteil einer Antwort auf die soziale Frage des 19. Jahrhunderts anerkannt ist. Die "Option für die Armen” wird auch vom Zweiten Vatikanischen Konzil als Wesensmerkmal der Kirche herausgestellt. Leo XIV. wird sich, so legen es seine ersten Wochen auf dem Stuhl Petri nahe, der Herausforderung einer "Sozialen Frage 2.0” stellen.
Ausblick
Im Vatikan, einer absolute Wahlmonarchie, werden selbst kleine Gesten im Licht kirchenpolitischer Befindlichkeiten gedeutet. Papst Leo XIV. ist es in den ersten hundert Tagen seines Pontifikats gelungen, in beiden großen Lagern der Kurie und des Kardinalskollegiums zu verfangen. Er hat subtil an die Politik und Positionen seines Vorgängers angeknüpft und, nicht zuletzt, durch seinen Besuch am Grab von Franziskus in der römischen Basilika Santa Maria Maggiore die Kontinuität des Petrusamtes verdeutlicht. Durch seine Rückkehr zu bestimmten päpstlichen Insignien und Ritualen hat er den Konservativen zu verstehen gegeben, dass er nicht aus dem ausscheren wird, was sie als Kern des Katholischen, personifiziert in der Gestalt des Papstes, sehen. Ein Aspekt verdient hier besondere Beachtung. Papst Leo XIV. spricht bei offiziellen Anlässen, neben Italienisch und Spanisch, Englisch. Das ist neu. Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus haben sich im Alltag und in der Öffentlichkeit vor allem des Italienischen bedient. Mit dem Englischen amerikanischer Prägung und dem Spanischen auf muttersprachlichem Niveau zieht ein neuer Stil in den Vatikan ein, mit dem Papst Leo XIV. hunderte Millionen von Gläubigen auf einmal und direkt erreichen wird. Manchem in der Kurie mag es schwerfallen, dem Englischen zu folgen. Dafür aber sind die Worte des Papstes nun unmittelbar viel mehr Menschen zugänglich, als das unter seinen Vorgängern der Fall war.
Auch das positive Echo in den Medien und unter den Gläubigen dürfte auf diese Unmittelbarkeit, die Offenheit mit sich bringt, zurückzuführen sein. Unter Leo XIV. wird die Kirche nicht beliebig und anbiedernd an den Zeitgeist, wie Benedikt XVI. gefürchtet hat. Sie wird vielmehr zugänglicher und kommunikativer. Die Führungs- und Leitungsverantwortung, die Robert Francis Prevost innehatte, bevor er Papst wurde, setzt ihn, anders als seine Vorgänger Franziskus und Benedikt in die Lage, von einer Warte des Hörens aus Fragen der Gläubigen aufzunehmen und zu beantworten, er wird den synodalen Weg weiter bestreiten[4]. Benedikt XVI. fürchtete sich zu sehr vor der Welt, Franziskus fehlte das Gespür oder das Talent, die konservativen Gruppen in der Kirche “mitzunehmen”.
Früchte dieses Ansatzes zeigen sich bereits: Völlig unkontrovers wurde innerhalb des Vatikans aufgenommen, dass der Papst sich am 1. September 2025 mit dem Jesuitenpater James Martin aus New York getroffen hat, der sich für die Belange der LGBTQI+-Gemeinschaften in der katholischen Kirche einsetzt. Leo knüpft bewusst an den Kurs von Papst Franziskus an: Er will einer Kirche vorstehen, die offen ist und alle Menschen willkommen heißt. Gerade in Zeiten von Populismus, Ausgrenzung und der abwertenden Rhetorik gegenüber engagierten Menschen ist dieser Weg nicht nur richtig, sondern ein starkes und ermutigendes Signal.
[1] https://www.nytimes.com/2025/05/11/world/europe/conclave-vote-pope-leo-robert-prevost.html abgerufen am 08.09.2025
[2] https://www.kpbs.org/news/border-immigration/2025/08/07/san-diego-roman-catholic-diocese-launches-ministry-to-support-refugees-in-court abgerufen am 16.09.2025
[3] https://www.cbsnews.com/news/pope-leo-xiv-social-media-account-trump-vance-criticism abgerufen am 16.09.2025
[4] https://www.domradio.de/artikel/wie-blickt-der-neue-papst-leo-xiv-auf-den-synodalen-weg abgerufen am 16.09.20225
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