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Reportages pays

Türkei nach den Wahlen

de Walter Glos, Bruno Hamm-Pütt

Alles neu macht der Mai?

In den Stichwahlen der türkischen Präsidentschaftswahlen am 28. Mai setzte sich Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan gegen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu durch, nachdem die Volksallianz unter Führung seiner AK Partei bereits die Mehrheit im türkischen Parlament erringen konnte. Als der alte, neue Präsident am 3. Juni das Kabinett der 28. Legislaturperiode vorstellte, sorgte die Auswahl der ernannten Minister für Aufsehen. Der aktuelle Länderbericht wirft einen Blick auf angekündigte Schritte und geplante Vorhaben der neuen Regierung, stellt dann einige der Mitglieder des neuen Kabinetts vor und analysiert Tendenzen und Trends für die kommende Zeit.

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Alles neu, alles alt: was plant die neue Regierung?

Am Samstag, den 3. Juni wurde Erdoğan in der Großen Türkischen Nationalversammlung vereidigt und stellte am selben Tag sein neues Kabinett vor. Am folgenden Dienstag gab er bei der Hauptversammlung der türkischen Handelskammern einen Ausblick auf geplante Schritte der neuen Regierung. Zunächst, so Erdoğan, sei das Vertrauen in die türkische Wirtschaft zu sichern und Stabilität zu garantieren. Sein Wirtschaftsprogramm fuße dabei auf Investitionen, Arbeitsplätzen, Produktionsstätten, türkischen Exporten und einem daraus resultierenden Überschuss bei der Außenhandelsbilanz. Darüber werde die Inflation bald auf unter 10% fallen. Derzeit liegt die jährliche Inflationsrate laut staatlichen Stellen bei 35,6%.

Während des Wahlkampfes hatte Erdoğan sich in der Flüchtlingsdebatte dem durch die Opposition angestoßenen, rhetorischen Überbietungswettbewerb verweigert und jüngst sogar einen gewissen Stolz ob der humanitären Leistung seines Landes zum Ausdruck gebracht. Dennoch ist auch ihm der diesbezügliche Handlungsdruck durchaus bewusst. Dementsprechend behauptete Erdoğan, dass bereits 600.000 Syrer freiwillig in ihr Heimatland zurückgekehrt sind. Dafür seien bereits über 100.000 feststehende Wohnhäuser in Nordsyrien errichtet worden. In Zusammenarbeit mit Katar seien für die kommenden Jahre weitere 240.000 geplant, was Millionen Syrern eine Rückkehr ermöglichen werde. Ein weiterer Fokus der Regierung werde auf den Provinzen liegen, die schwer vom Erdbeben beschädigt worden sind. Hier plane die Regierung, so Erdoğan, den Bau von 650.000 Häusern.

 

Erdoğans Kabinettstück

In Bezug auf das neue Kabinett bestand die erste Überraschung darin, dass bis auf zwei Ministerien (Kultur und Tourismus, Gesundheit) alle Posten neu besetzt wurden. Bereits im Vorfeld hatte der nun ehemalige Innenminister, Süleyman Soylu, öffentlich Unmut angedeutet, als sich abzeichnete, dass er im neuen Kabinett keine Rolle mehr spielen würde. Gerade Soylus teilweise aggressive Rhetorik, bis hin zur Unterstellung, die Opposition plane einen Staatsstreich, hatte in westlichen Regierungskreisen für Irritation gesorgt. Sein Nachfolger, der ehemalige Gouverneur Istanbuls, Ali Yerlikaya, betonte bereits kurz nach seiner Ernennung, dass Recht und Menschenrechte die Grundlage seiner Arbeit darstellen werden. Es bleibt abzuwarten, inwiefern solche Äußerungen in politische Reformen und Strategien transformiert werden.

 

Heterodoxe Rhetorik
Orthodoxe (finanz-)Politik

Ein Minister, der noch Mitte März vergleichsweise öffentlichkeitswirksam eine Beteiligung an einer neuen Regierung ausgeschlossen hatte, ist der kurdischstämmige Mehmet Şimşek. Şimşek war bereits Finanzminister und bis zu seinem Austritt aus der Regierung im Juli 2018 stellvertretender Premierminister. Nun ist er erneut Finanzminister und eine viel diskutierte Person. Denn Şimşek steht für finanzpolitische Orthodoxie westlicher Provenienz, was der Zinspolitik der türkischen Zentralbank während der letzten Jahre diametral entgegensteht. Folgerichtig wurde auch der Posten des Zentralbankgouverneurs neu besetzt; mit Hafize Gaye Erkan steht erstmalig eine Frau der Zentralbank vor. Die 1979 geborene Finanzexpertin kann einen Lebenslauf vorweisen, der eine steile Karriere in renommierten Institutionen in den USA zeigt und ebenfalls auf fiskalpolitische Orthodoxie schließen lässt. Ob die Türkei den Leitzins anhebt, wird in der türkischen Öffentlichkeit derzeit wild diskutiert. Gespannt wird die Entscheidung des dafür zuständigen Gremiums der Zentralbank nach einem Treffen am 22. Juni erwartet.

Doch auch wenn beide Akteure zunächst mit viel Wohlwollen im Amt begrüßt worden sind, stellt sich die Frage, wie unabhängig sie agieren können. Denn erstens hatte Erdoğan im Wahlkampf immer wieder die Fortführung seiner Niedrigzinspolitik angekündigt. Zweitens ist Erkans Vorgänger, Şahap Kavcıoğlu, nur versetzt und nun als Leiter der Bankenaufsicht eingesetzt worden. Drittens interpretiert Erdoğan seinen Sieg zum einen als Abstimmung über seine Wirtschaftspolitik, die er durch die Wiederwahl als zumindest teilweise bestätigt ansehen dürfte, und zum anderen als erneuten Plebiszit über das Präsidialsystem. Sein Amt räumt Erdoğan umfassende Kompetenzen ein, die ihn auch dazu befähigen, Konsolidierungsversuche seitens Şimşeks und Erkans eigenhändig zu korrigieren. Viertens stehen im März 2024 die Lokalwahlen an, bei denen die mitunter schmerzhaften Veränderungen den Zustimmungswerten der AK Partei schaden könnten, was Erdoğan kaum gefallen wird. In diesem Spannungsfeld kommt der renommierte Ökonom und Finanzexperte, Dr. Jens Bastian, in einem kürzlich für die Konrad-Adenauer-Stiftung erstellten Papier zu dem Schluss: „Angesichts des angekündigten Festhaltens an der bisherigen Fiskal- und Geldpolitik dürfte die neue Regierung kurzfristig eine Mischung aus Kontinuität und gradueller Anpassung anstreben.“

 

Möglichkeiten bei der Energiepartnerschaft

Neben einer Rückbesinnung auf die traditionelle Westausrichtung auf dem Gebiet der Finanz- und Wirtschaftspolitik ist mit dem neuen Energieminister Alparslan Bayraktar jemand ernannt worden, dessen bisherige Amtskarriere aus deutscher und europäischer Perspektive von Interesse sein sollte. Zwischen 2016-2018 war Bayraktar im Energieministerium zuständig für die Außenbeziehungen und die Europäische Union. Juli 2018 wurde er zum stellvertretenden Minister befördert. In dieser Zeit hat sich Bayraktar immer wieder im Kontext der 2011 gegründeten deutsch-türkischen Energiepartnerschaft engagiert. In den kommenden Jahren ist es hier auch an Deutschland, türkische Vorhaben im nachhaltigen Energiebereich zu unterstützen, die dazu beizutragen, eine diversifizierte Energiepolitik in Europa zu etablieren.

 

Grenzen der EU-Politik
Politiken der Grenze

In diesem Zusammenhang wird auch über eine Erneuerung der Zollunion mit der Europäischen Union zu diskutieren sein. Dennoch wird die zukünftige EU-Politik der Türkei sich primär entlang der Migrationsthematik entfalten. Grundsätzlich war die Bereitschaft Ankaras sich im März 2016 auf ein Migrationsabkommen mit Brüssel zu einigen, verbunden mit dem Wunsch, neue Wege Richtung Europa zu öffnen. Seitdem sind in mehreren Tranchen an die 9,5 Mrd. Euro zugesagt worden, um die Türkei angesichts der humanitären Herausforderungen zu entlasten. Das letzte Paket von 3. Mrd. Euro ist bereits verplant, auch wenn noch nicht völlig klar ist, wann die Mittel ausgegeben sind. Laut eigenen Aussagen erarbeitet die Kommission in Brüssel derzeit Optionen, wie die Finanzierung fortgesetzt werden kann. Ob pekuniäre Kompensationen in Zukunft ausreichen, um den Fortbestand des Abkommens zu sichern, wird allerdings immer fraglicher. Jüngere Aussagen des hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrel, deuten an, wohin türkische Forderungen sich entwickeln: „Die EU wird organisierte Rückführungen nach Syrien nicht unterstützen, außer wenn es stahlharte Garantieren gibt, dass diese Rückführungen freiwillig, sicher und in Würde sowie unter Aufsicht internationaler Aufsicht erfolgen.“

Angesichts des innertürkischen wie europäischen Drucks, der auf der Migrationspolitik lastet, zeichnen sich kontinuierliche Konsultationen auf hoher Ebene zwischen Ankara und der EU sowie einzelnen Mitgliedstaaten ab. Gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit von Visaliberalisierungen gleichbleibend gering geblieben. Die neue Regierung Erdoğans wird ebenso wie die alte nicht bereit sein, den zentral in Frage stehenden Terrorismus-Paragraphen dahingehend zu ändern, dass er den EU-Forderungen entspricht.

 

Außenpolitik: Frieden in der Heimat, Frieden in der Welt?

Künftig wird Erdoğans ehemaliger Sprecher und als einflussreich geltender Berater, İbrahim Kalın, die Leitung des türkischen Geheimdienstes übernehmen. Er löst Hakan Fidan ab, der seinerseits das Außenministerium übernimmt. Auch wenn dieser personelle Schachzug von Kritikern hinsichtlich einer weiteren Amalgamierung von Staat, Partei und Sicherheitsorganen als problematisch eingestuft wird, ist festzuhalten, dass Fidan in der Türkei als pro-westlicher Transatlantiker gesehen wird.

Fidan war nicht zuletzt aufgrund seiner kurdischen Herkunft in der Vergangenheit an Verhandlungen mit der PKK beteiligt und spielte bei den jüngeren Annäherungsversuchen mit Syrien eine führende Rolle. Doch die Hürden für eine zukunftsweisende Einigung diesbezüglich sind hoch, da Damaskus auf einen Abzug türkischer Truppen aus Nordsyrien als Vorbedingung für alles Weitere insistiert. Dies bewertet man in Ankara hingegen als Preisgabe der Region an terroristische Gruppierungen. Dennoch belegt die Rückkehr Syriens in die Arabische Liga im Mai dieses Jahres den Trend zu einem neuen Regionalismus im Mittleren und Nahen Osten: Länder in der Region verfolgen ihre Interessen mittels diplomatischer Initiativen, ohne auf westliche Unterstützung zu warten. Jenseits der finanziellen Unterstützung, welche die Türkei seitens Katars und der Vereinigten Arabischen Emirate erhalten hat, deutet die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehung mit Ägypten an, dass die Türkei sich um die Teilhabe an solchen Prozessen bemühen wird.

Trotz etwaiger Ambivalenzen gegenüber Russland, ist es höchst unwahrscheinlich, dass die Türkei seine NATO-Bündnistreue in Zweifel ziehen wird. Ein Mittelweg zwischen Abschreckung und Zusammenarbeit in Bezug auf Moskau gehört schlicht zur „Grand Strategy“ der Türkei. So wird der Bosporus für die russische Marine weiterhin gemäß der Montreux-Konvention unpassierbar bleiben, während Ankara sich für die Ausfuhr ukrainischer Getreidelieferungen einsetzen wird. Auf der anderen Seite wird der türkische Tourismus nicht auf die russischen Gäste verzichten wollen.

Hinzu kommt eine Energieabhängigkeit von Russland, die neben Gasimporten nun auch das jüngst eröffnete AKW Akkuyu an der türkischen Südküste beinhaltet, welches vom russischen Unternehmen Rosatom gebaut und betrieben wird. Dies steht in einem offenkundigen Widerspruch zu etlichen Aktivitäten in der direkten Nachbarschaft der Türkei, welche mit dem Wunsch nach größerer Versorgungssicherheit im Energiebereich begründet werden. So etwa im östlichen Mittelmeer, wo Ankara mitunter Kooperationsbereitschaft in Richtung der Anliegerstaaten signalisieren, im Zweifel aber seine Interessen bei der Erschließung von Gasfeldern robust verfolgen wird.

Zum östlichen Mittelmeer gehört auch der Konflikt auf Zypern. Erdoğans erste Auslandsreise in der neuen Amtspersiode führte ihn – wie üblich – auf die Türkische Republik Nordzypern. Dort betonte er die tradierte türkische Position, äußerte sich aber auch dahingehend, dass die neue Regierung Südzyperns mehr Offenheit für erneute Annäherungsversuche zeige. Ob die unerwartete Annäherung zwischen Ankara und Athen in Folge des Erdbebens Lösungen in der Ägäis anbahnt, darf als zweifelhaft gelten. Dennoch ist es möglich, dass sich mit der wahrscheinlichen Wiederwahl von Kyriakos Mitsotakis zum griechischen Ministerpräsident wieder mehr über diplomatische Kanäle und weniger mittels öffentlicher Anschuldigungen ausgetauscht wird.

Von Nordzypern ging es für Erdoğan weiter nach Aserbaidschan, wo er Präsident Ilham Alijew traf. Neben der Bekräftigung der „Eine Nation, Zwei Staaten“-Doktrin diskutierte man vor Ort auch über Gaslieferungen, die über die Türkei nach Europa geleitet werden. Ankaras Ziel, die Türkei als Energie-Hub zu entwickeln, spiegelt sich in einem verstärkten Engagement in Zentralasien. So hat die Organisation der Turkstaaten jüngst einen Investitionsfund gegründet, der neben Energie auch den Bereich Landwirtschaft, Logistik und Transport fördern will. Denn jenseits der Ressourcen ist der sogenannte Mittlere Korridor, der China und Europa über Zentralasien verbindet, wirtschaftlich interessant, da kürzer als die Route über Russland, die aufgrund des Krieges in der Ukraine derzeit keine Option ist.

Erster Präzedenzfall für die zukünftige Ausrichtung der türkischen Außenpolitik wird das im Juli in Vilnius stattfindende NATO-Treffen sein. Erhofft wird, dass Ankara grünes Licht zum Beitritt Schwedens geben wird. Die Aufnahme des skandinavischen Landes in das Verteidigungsbündnis wäre nicht nur ein Gewinn an Sicherheit, sondern würde auch Verlässlichkeit signalisieren. Die Türkei bemüht sich unterdessen um die Zusage Washingtons für den geplanten Kauf von F-16 Kampfflugzeugen.

Insgesamt ist es schwer zu prognostizieren, in welche Richtung sich die türkische Politik in den kommenden Monaten und Jahren insgesamt bewegen wird. Grundsätzlich gilt indes festzuhalten, dass Erdoğan mit diesem Kabinett ein Stück Abstand davon genommen hat, seine Herrschaft allein auf Charisma zu gründen. Somit ermöglicht die neue Regierung auch personell einen Neustart. Diese Ausgangslage sollte auch westlichen Partnern erlauben, innovative Ansätze zu verfolgen.

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Interlocuteur

Walter Glos

Walter Glos

Leiter des Auslandsbüros Türkei

walter.glos@kas.de +90 312 440 40 80 +90 312 440 32 48

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À propos de cette série

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