Bereits seit 2014 beschuldigen die USA Russland, durch die Entwicklung und Stationierung einer neuen landgestützten Mittelstreckenrakete in Europa, den Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme, kurz INF (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty), zu brechen. Nach wachsendem Druck auch aus dem Kongress, hat US-Präsident Donald Trump am 20. Oktober 2018 angekündigt, sein Land aufgrund der anhaltenden russischen Vertragsverletzungen aus dem Vertrag zu führen. Der INF-Vertrag wurde 1987 zwischen der amerikanischen und sowjetischen Regierung unterzeichnet; in ihm einigten sich die zwei damaligen Supermächte auf den kompletten Verzicht landgestützter Flugkörper mit mittlerer und kürzerer Reichweite (500 bis 5500 Kilometer) sowie die Vernichtung bestehender Systeme. Obwohl das Vertragswerk zwischen den Kalte Kriegs-Parteien verhandelt und abgeschlossen wurde, berührte die Eliminierung von Mittelstreckenraketen ganz wesentlich die Sicherheit der Westeuropäer, da diese Systeme mit einer Vorwarnzeit von nur wenigen Minuten alle europäischen Hauptstädte hätten vernichten können. Diese Gefahr besteht mit der Stationierung neuer russischer Mittelstreckenraketen nun zum ersten Mal wieder seit den 1990er Jahren.
Die Europäer haben lange zu den amerikanischen Vorwürfen geschwiegen, nicht zuletzt, da die USA zunächst nur zögerlich Beweise mit ihren NATO-Partnern teilten. Im Rahmen des Außenministertreffens der NATO am 5. und 6. Dezember 2018, haben alle 29 Alliierten verkündet, dass Russland sich des „schwerwiegenden Bruchs“ des INF-Vertrags schuldig gemacht habe. Im gleichen Atemzug forderten die NATO-Minister den Kreml auf, innerhalb von 60 Tagen in Geist und Buchstabe zum Vertrag zurückzukehren.
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Russland dieser Forderung nachkommen wird, da Moskau den USA vorwirft, den Vertrag zu verletzen. Vor diesem Hintergrund werden im folgenden zwei Fragen beleuchtet: 1. Welche militärpolitischen Implikationen haben die russischen Vertragsverletzungen sowie eine (beidseitige) Aufkündigung des INF? 2. Welche Handlungsoptionen stehen Deutschland und den Europäern innerhalb der NATO zur Verfügung?
- Selbst ohne die formale Auflösung des INF-Vertrags ist die deutsche und europäische Sicherheit bereits heute am gravierendsten von den russischen Vertragsverletzungen betroffen. Das neue russische System kann europäisches NATO-Territorium problemlos erreichen, ohne, dass die Alliierten sich bislang dagegen schützen können. Das NATO-Raketenabwehrsystem dient in erster Linie dem Schutz gegen ballistische Raketen, die entlang der südöstlichen Flanke der Allianz einschlagen könnten. Nicht ohne Grund hat die NATO jahrelang versucht, Russland davon zu überzeugen, dass sich ihre Raketenabwehr nicht gegen Moskau, sondern gegen den Nahen und Mittleren Osten (vorrangig Iran) richte. Neben der unmittelbaren Bedrohung, die für Europa von neuen russischen Raketensystemen ausgehen, läge eine weitere Konsequenz einer (beidseitigen) Aufkündigung des Vertrags darin, dass weitere Rüstungskontrollverträge in Frage gestellt werden könnten (z.B. Verlängerung New Start, weitere Aushöhlung des KSE-Vertrags). Darüber hinaus bringt die Annullierung des Vertrags die Gefahr mit sich, dass russischer Aufrüstung immer weniger Grenzen gesetzt wären.
- Den europäischen NATO-Partnern bleiben vor diesem Hintergrund nur wenige Handlungsoptionen – für alle sind sie auf amerikanische Hilfe angewiesen. Sie können nur mit Hilfe der USA auf die neue Bedrohungslage, die von russischen Kurz- und Mittelstreckenraketen ausgeht, reagieren. Eine Möglichkeit bestünde darin, ähnlich wie im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses von 1979, bodengestützte Systeme in Europa zu stationieren, um auf den russischen INF-Vertragsbruch zu reagieren. Während der amerikanische Sicherheitsberater John Bolton angekündigt hat, dass die USA im Fall eines Ausstiegs aus dem Vertrag die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Europa bis 2023 erwägen, wird sich die Umsetzung dieser Option in Europa schwierig gestalten, da sich insbesondere in den europäischen Bevölkerungen Widerstand gegen eine Wiederbewaffnung regen könnte – ähnlich wie in den 1980er Jahren im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses. Alternativ zu einem solchen quitt-pro-quo Schritt, könnten die USA und ihre europäischen Partner den Fokus darauflegen, die Glaubwürdigkeit ihrer nuklearen Abschreckung zu unterstreichen. Daher sollte Deutschland, das zur nuklearen Teilhabe der NATO beiträgt, auf die Modernisierung des amerikanischen Sprengkopfs vom Typ B61 reagieren, indem es die Erneuerung seines Trägersystems an US-Entwicklungen anpasst. Deutschland hat angekündigt, bis spätestens Anfang Januar 2019 darüber zu befinden, mit welchem Flugzeug es das aktuelle Trägersystem, den Tornado, ersetzen möchte. Außerdem sollten Frankreich und das Vereinigte Königreich unterstreichen, dass ihre Atomwaffen ebenfalls zum Gesamtabschreckungsdispositiv der NATO beitragen – nicht in Abgrenzung, sondern in Ergänzung zum amerikanischen Schutzschild. Die Stärkung der nuklearen Teilhabe und damit der Abschreckung der NATO, sollte begleitet werden von a) Abstimmungen im Allianz-Rahmen darüber, wie existierende Abrüstungsverträge aufrechterhalten und neue ins Leben gerufen werden können (z.B. ein INF-Vertragswerk 2.0, das auch China einschließt), b) alliierte Koordination, wie möglicherweise mit konventionellen Waffen auf die Entwicklungen in Russland reagiert werden kann, c) Unterrichtung der Bevölkerung über russischen INF-Vertragsbruch und die sicherheitspolitischen Konsequenzen, die sich daraus für die NATO ergeben.
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