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Fürchtet euch richtig!

von Dr. Petra Bahr
Durch die Flüchtlings-Krise wurde die Ohnmacht zum Nationalgefühl. Statt den Deutschen beizubringen, die Angst vor der Zukunft zu ignorieren sollte die Polotik dem Volk lieber zeigen, wie man mit Furcht kreativ umgeht

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Für Ängste scheint es keine Obergrenzen zu geben. Keine Abwehr, nicht einmal die Schutzwälle von Logik, Kalkül oder Fakten scheinen die Ängste davon abzuhalten, sich auszubreiten wie ein Infekt. Das Wort »Angst« wird zum Codewort für einen kollektiven Ausnahmezustand. Längst geht es nicht mehr nur um das »Man wird doch noch mal sagen dürfen«. Im Land der gemäßigten politischen und medialen Dauertemperatur, das viele bewundernswert ausgeglichen und konsensorientert, manche deshalb sogar langweilig fanden, haben Gefühle die Oberhand gewonnen.

Nun waren wir Deutschen immer schon Weltmeister im Ausmalen von Weltuntergängen. Aus den Ungeheuern der Nacht sind Fratzen geworden, die wie ein schlechter Vorkarnevalsscherz von Pubertierenden hinter jeder Ecke lauern und »Buh!« machen. Nein, es sind nicht die Flüchtlinge an sich, die uns erschrecken. Aber mit ihnen bekommen diffuse Ängste vermeintlich ein Gesicht – so wie Gummimasken eben keine Gesichter sind, aber wie welche aussehen.

Die Schatten der Globalisierung sind bei uns angekommen. Nicht in Form von abstrakten Zahlen und Summen mit so vielen Nullen, dass einem schwindelig wird – bevor man sich aufrappelt und so lebt wie immer. Mit den Flüchtlingen kommen Menschen. Menschen, die aus zusammengebrochenen Ordnungen fliehen, die um ihr Leben rennen – oder einfach nur ein besseres Leben haben wollen, weil sie seit Jahren in unseren Wohnzimmern, Shoppingmalls und blank geputzten Eigenheimen zu Hause sind – via Internet und durch das Fenster mittelmäßiger Vorabendserien teilten sie unsere Träume, bevor sie in den Zeltstädten der Nachbarschaft untergekommen sind.

In Ängsten artikuliert sich vor allem eines: Ohnmacht. Das Grundgefühl, der Welt ausgeliefert zu sein, die mit ihren ungeheuerlichen Veränderungen nicht darauf wartet, dass wir uns auf diese Veränderungen eingestellt haben. In einem Land, in dem der ökonomische Reichtum und die selbstverständlichen Spielräume der Freiheit so groß wie in kaum einem anderen Land sind, konnten diese Ängste lange heruntergespielt werden. Doch waren sie vermutlich schon da, bevor die epochalen Krisen ausgerufen wurden.

Der Soziologe Heinz Bude diagnostizierte schon vor einiger Zeit einen gesellschaftlichen Angstzustand, der mit der tiefen Erfahrung der Ohnmacht verbunden ist. Diesen Angstzustand verlegt er in heimliche Umbauten von gesellschaftlichen Versprechen. Aus der Perspektive auf die Welt, die da hieß: »Wenn du willst, kannst du es besser haben« (Individuum), und »Wenn du uns lässt, dann werden wir es besser machen«, ist die Angst vor dem Abstieg und das Eingeständnis der Grenzen des Steuerbaren geworden.

Die Angst wurde zur Quelle der Bewährung: Was, wenn der Bildungsweg der Kinder nicht mit dem Abitur endet? Was, wenn ich den Job verliere? Die Frage, ob der Angst vor Statusverlust, Vermögensverlust oder Teilhabeverlust ein faktischer Grund zur Sorge entspricht, ist in dieser Diagnose nicht die Pointe. Bude beschreibt die Umbesetzung einer kulturellen Leitperspektive. »Pass bloß auf, damit nicht alles immer schlechter wird.«

Angstzustände sind in der Moderne nicht neu. Sie wurden in den letzten 150 Jahren in Konjunkturen philosophisch und künstlerisch ausgemalt und zu einer Grundbedingung der Moderne erklärt. Die Freiheit macht zuweilen schwindelig, weil alles immer auch anders sein könnte. Das überreizte Gefühl des Möglichen kippt in die Erfahrung einer schrecklichen Kontingenz.

Im Terror bekommt diese Kontingenz einen Namen. Wir sind nicht sterblicher als vorher, wir könnten vom Auto überfahren oder nach einem Gehirnschlag mitten an einem Montag tot umfallen. Aber der Terror in seiner absichtlichen Hinterlist ist als dauernde Möglichkeit präsent. Statistiken helfen gegen die Sehnsucht nach mehr Lebenssicherheit nichts. Ob die klassischen Strategien der inneren Sicherheit durch Polizei und Militär helfen, werden wir sehen, doch ins Innerste unserer Sicherheitssehnsüchte gelangen diese Ordnungskräfte nicht.

Wir sind dem Leben ausgeliefert. Vielleicht hat der materielle Wohlstand uns zu lange davon abgehalten, zu fragen, welche Bedeutung, ja welchen Sinn das eigene Leben hat, die Arbeit, die Beziehungen, in denen wir leben. Sinnfragen sind schon seit Längerem hoch im Kurs, aber eher als konsumierbare Entspannungstechniken und Sinnberatungsliteratur denn als eine gesellschaftliche Bewegung, die Sinnfragen so stellt, dass nicht sofort Sinntechniken angeboten werden.

Deshalb sind Populisten die Krisengewinnler in kollektiven Angstzuständen. Jeder halbwegs intelligente Mensch weiß, dass ihre Parolen keine Probleme lösen, sondern nur die beschimpfen, die keine einfachen Lösungen präsentieren können. Aber wer Angst hat, will es ja nicht so genau wissen, er will endlich wieder ruhig schlafen können – und sei es auch nur für eine Nacht. In Angstzuständen will man niemanden, der die Dinge konsequent zu Ende denkt, der mit kühlem Kopf Kausalketten aufschreibt, gar eingesteht, dass sich nicht alle Probleme lösen lassen und die kleineren Lösungen auch noch Zeit brauchen. Wer Angst hat, will getröstet werden wie ein Kind.

Auch Moralisierung ist die falsche Medizin gegen die Angst. Der Appell, mutiger zu sein, ist ebenso wirkungslos wie ein Machtwort an alle Hasenherzigen. Zur Ohnmacht gesellt sich nämlich dann auch noch die Verletzung derer, die sich in ihren Ängsten nicht ernst genommen fühlen. Und was gibt es Wahreres als das eigene Gefühl, wenn es auch noch von Hunderten geteilt wird?

Sören Kierkegaard, der Urphilosoph aller modernen Angstzustände, hat einen anderen Ausweg empfohlen. »Sich richtig ängstigen!«, empfahl er, der diesen Seelenzustand nicht als Pathologie, sondern als Grundbefindlichkeit des Menschen beschrieb. Wer Angst haben muss, der kann nur mehr Ruhe finden, indem er das »Sichängstigen« lernt, sagt er. Wie das geht? Kierkegaard beginnt scheinbar als Erbsenzähler: Er unterscheidet zwischen Furcht und Angst. Doch manche Erbsenzählerei führt zu heilsamen Unterscheidungen: Wer sich fürchtet, kann den Gegenstand der Furcht benennen.

Er fürchtet sich »vor« etwas oder jemandem. Furcht benennen führt in die Anschauung – etwa so, wie wenn man hinter dem riesigen Schatten nach dem Gegenstand sucht, der hinter einer geschickt platzierten Lichtquelle wie ein Gigant wirkt. Im Kinderbuch über den Grüffelo entpuppt sich der Schattenriese als Maus. Was nicht heißt, dass man sich vor Mäusen nicht fürchtet.

Es soll ja Leute geben, die räumen angesichts des großen Chaos in der Welt ihre Kleiderschränke auf. Ein wenig Ordnung machen – zumindest in der eigenen Welt. Diese kleine Ordnung wird auf Dauer keinen Schutz vor der Angst bieten, aber für eine Atempause reicht es.

Wenn Ohnmacht Angst gebiert, können nur die Erfahrungen helfen, dass Menschen mitten in allen Unwägbarkeiten, in dem Unüberschaubaren, Bedrohlichen, Ungeklärten, sich selbst als die erfahren, die einen kleinen Unterschied machen. Es kommt deshalb nicht von ungefähr, dass diejenigen, die in Flüchtlingseinrichtungen helfen, die regelmäßig mit Menschen aus der Fremde umgehen, deutlich weniger Angst vor diesen Fremden haben. Das heißt nicht, dass sie Probleme weglächeln, aber sie verharren nicht mehr vor dem Diffus-Katastrophischen, sie wenden sich einer Sache, einem Menschen zu – und sind deutlich mehr davor gefeit, in das »Loch des Sinns« zu fallen, das der Theologe Paul Tillich schon vor hundert Jahren zur gefährlichsten Falle seiner Gegenwart erklärt hat.

Die Erfahrung von individuellem Kontrollverlust, die Diagnose von den Grenzen der Steuerbarkeit in der Politik, die vollkommen offenen Folgen der Digitalisierung bleiben. Vor allem die technischen Möglichkeiten werden in letzter Zeit mit einem Wort in Verbindung gebracht, das das Fieber der kollektiven Ängste noch einmal steigen lässt: Disruption. Kein schleichender Wandel, sondern radikale Brüche in dem Bereich, der bis gestern sicher war: der ökonomischen Basis. Schon kursieren wieder Zahlen mit vielen Nullen. Diesmal ist es der Prognosepoker um die zukünftigen Arbeitslosen. Entspannungstechniken helfen da nicht weiter.

Wie aber kann das gelingen, was Kierkegaard »sich richtig ängstigen lernen« genannt hat? Die Ängste eingestehen – und aus ihnen Befürchtungen machen. Der Furcht kann man etwas entgegensetzen: das Vertrauen auf die eigene Fantasie zum Beispiel, die nicht nur Ungeheuer, sondern auch Drachentöter gebiert. Entängstigung kann nur bedeuten, die Gründe für die Angst nicht an der Oberfläche zu suchen. Das Fremdsein im eigenen Leben können wir nicht den Fremden aufschultern, die zu uns kommen. Diese Fremden sind ja auch Bündnispartner unserer Angst, ja, viele von ihnen haben erlebt, wovor wir nur Angst haben. In den Flüchtlingsunterkünften wohnen mindestens so viele Dämonen wie unter unseren Betten.

Gegen die Angst hilft Trotz und das Singen im Walde, die Ärmel hochkrempeln und dahin gehen, wo die Erfahrung der Ohnmacht sich wandelt in das Erlebnis des Gebrauchtwerdens und des Könnens. Gegen die Angst hilft das Eingeständnis, dass wir uns von ihr nicht freikaufen können. Wir können sie nicht abwählen. Wir können über sie lachen, denn wenn wir uns eingestanden haben, dass Ängste als Schatten der Freiheit dazugehören, müssen wir sie nicht immer ernst nehmen. Wir können unsere Fantasie bändigen und für andere Kräfte nutzen. Für den Geist guter Ideen, für kleine Lösungen, wo große fehlen, für ein Leben ohne Aufschub, für die Einsicht, dass die Zukunft offen ist.

Wenn das stimmt, dann ist es eine Anmaßung und grenzenlose Überheblichkeit, die Angstbilder als ihr Ende auszugeben. In der biblischen Tradition sind die Angstbilder vom Ende mit Schrecken in der Sprache der Apokalypse beschrieben. Expressionistische Angstszenarien wie aus einem Albtraum. Diese Apokalypsen wären aber missverstanden, wenn sie als biblische Geschichtsphilosophie gelesen würden. Die apokalyptische Tradition ist Ausdruck bedrängter Minderheiten und traumatisierter Kollektive.

Das Christentum hat viele Endzeitpropheten hervorgebracht. Vielleicht trifft man in den konservativen Ecken der Kirche deshalb besonders viele Welteindunkler. Die biblischen Apokalypsen wurden allerdings erzählt, damit sie nicht eintreten. Sie waren ein Einspruch gegen das Immer-so-Weiter, ein Versprechen, dass die Zukunft noch nicht zu Ende erzählt ist.

Richtig ängstigen. Das wäre schon mal was.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Christ & Welt (Ausgabe 04/2016)

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