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Jammern über Europa

von Dr. Hans-Gert Pöttering, Dr. Wolfgang Schüssel

Aber EU kann es schaffen

Nahezu überall auf unserem Kontinent sind die Zweifel an der Handlungsfähigkeit der EU unüberhörbar: Vielerorts erstarken populistische Parteien, die eine Abkehr von der europäischen Einigung und eine Rückkehr zu nationalstaatlichem Handeln befürworten. Richtig ist, dass es auf europäischer Ebene oftmals eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit im gemeinschaftlichen Handeln gibt und diese die Akzeptanz des europäischen Einigungsprojekts beschädigt hat.

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Vor allem in der Flüchtlingskrise hat die EU bisher nicht gehalten, was notwendig ist. Ist das aber ein Grund, um weniger Europa zu fordern? Die über Ländergrenzen hinweg geplanten Terroranschläge im Herzen Europas machen doch deutlich, dass nationales Handeln allein zu keiner Lösung führt. Angesichts des internationalen Terrorismus, der Konflikte, die in unserer unmittelbaren Nachbarschaft für Instabilität und menschliches Leid sorgen, sowie angesichts der Flüchtlingsströme, die nach Europa gelangen, gilt: Kein Mitgliedstaat kann diese Herausforderungen allein bewältigen.

 

 

Gegensätzliche Positionen

 

Doch wie könnten europäische Lösungen aussehen? In der Flüchtlingsfrage sehen wir trotz der teilweise gegensätzlichen Positionen der Mitgliedstaaten, dass ein europäisch organisierter Grenz- und Küstenschutz mit weitreichenden Befugnissen die richtige Lösung ist.

 

Der Schutz der EU-Außengrenzen und somit der gesamten Union kann nicht länger allein in der Verantwortung nationaler, teils überforderter, Behörden liegen. Das Abkommen der EU mit der Türkei vom 18. März ist ein Beweis dafür, dass wir nur gemeinsam mit wichtigen Ländern in unserer Nachbarschaft glaubwürdig nach Lösungen ringen können. Es ist illusorisch zu glauben, dass die Flüchtlingskrise ohne enge Zusammenarbeit mit der Türkei, die über zwei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen hat, gelöst werden kann. Die im Abkommen in Aussicht gestellte Visa-Liberalisierung und Fortschritte bei den Erweiterungsverhandlungen können jedoch nur bei Erfüllung entsprechender rechtsstaatlicher Standards erfolgen.

 

Neben der Türkei muss die EU weitere betroffene Länder wie Jordanien und den Libanon stärker bei der Versorgung und Unterbringung syrischer Flüchtlinge unterstützen. Es bedarf zusätzlicher Schritte innerhalb der Union: Eine Reform des Dublin-Systems mit einer fairen Verteilung von Asylsuchenden zwischen den Mitgliedstaaten ist dringend notwendig.

 

Für Flüchtlinge müssen europaweit dieselben Grundsätze, Pflichten und Regeln gelten. Die Lösung kann daher nur in der Weiterentwicklung des europäischen Asylsystems bestehen. Denn eines ist klar: In einer globalisierten Welt, in der Europa ein wichtiger Akteur sein und bleiben will, werden wir uns unabhängig vom Syrienkonflikt noch lange mit der Frage von Flucht und Migration beschäftigen müssen.

 

Die vielfältigen Krisen in unserer Nachbarschaft zeigen, dass die EU außenpolitisch mit einer Stimme sprechen und für ihre eigene Sicherheit – im Inneren wie im Äußeren – sorgen muss. Demokratisierungsprozesse und Rechtsstaatlichkeit in den Ländern der östlichen und südlichen Nachbarschaft gilt es engagierter zu unterstützen.

 

Langfristig sollten wir dazu einen gemeinsamen Wirtschaftsraum mit unseren Nachbarn anstreben. Ein wichtiger Partner ist Russland, mit dem die EU die Beziehungen mittelfristig normalisieren und zu einer umfassenden Partnerschaft ausbauen sollte. Natürlich muss Russland zuvor wirksam dazu beitragen, dass die Minsker Vereinbarungen über die Befriedung der östlichen Ukraine voll umgesetzt werden.

 

Wir benötigen zudem eine ehrgeizige europäische Sicherheitsstrategie, die eine Vision für Europas Rolle in der Welt aufzeigt, sowie handfeste Fortschritte bei der engeren Verzahnung der nationalen Streitkräfte – mit dem Ziel, gemeinsam militärisch handeln zu können. Dies wäre nicht nur finanziell sinnvoll, sondern angesichts der Bedrohungslage auch notwendig.

 

 

Was die Bürger erwarten

 

Beim Kampf gegen den Terrorismus ist ein verstärkter Informationsaustausch der Geheimdienste ebenso unabdingbar wie die engere Zusammenarbeit der Polizei- und Justizbehörden. Auch Russland bietet sich als Partner bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus an.

 

Die Bürger erwarten zu Recht, dass die EU diese Aufgaben schneller und flexibler erledigt. Dazu müssen wir erstens die Entscheidungsfindung in der EU durch Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen auch in der Außen- und Sicherheitspolitik beschleunigen. Nur so kann die Union als Ganzes effektiver handeln, ohne immer wieder auf „Koalitionen der Willigen“ zurückgreifen zu müssen.

 

Gleichzeitig müssen die Mitgliedstaaten durch eine öffentliche Debatte über sicherheitspolitische Themen die Bürger besser als bisher für die Notwendigkeit einer aktiven außenpolitischen Rolle Europas sensibilisieren.

 

 

Zentrifugalkräfte als Gefahr

 

Zweitens sollte die EU verstärkt auf eigene Einnahmen zurückgreifen können, um flexibler reagieren zu können, wenn es darum geht, zukünftige Krisen abzuwenden oder gemeinschaftlich zu meistern. Langfristig darf sich die EU jedoch nicht damit begnügen, nur auf Krisen zu reagieren. Stattdessen muss sie den Anspruch haben, globale Entwicklungen mitzugestalten und Führung zu zeigen.

 

Eine Voraussetzung dafür ist die Einheit der EU: Die überall spürbaren Zentrifugalkräfte sind eine Gefahr für uns alle. Im Europa des 21. Jahrhunderts ist es somit von großer Bedeutung, dass Großbritannien in der EU bleibt. Ein Austritt der Briten hätte weitreichende negative wirtschafts- wie sicherheitspolitische Folgen – für das Vereinigte Königreich ebenso wie für die EU.

 

Wir sollten niemals vergessen: Es sind die Werte, die uns in der EU verbinden: die Würde des Menschen, Freiheit, Demokratie, Recht, Versöhnung und Solidarität. Sie waren die Grundlage für noch nie da gewesene Jahrzehnte des Friedens und des wirtschaftlichen Aufschwungs in Europa. Wir dürfen dies nicht als selbstverständlich betrachten – Populisten stellen jedoch genau diese Werte und damit die Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft in Frage. Das Bewusstsein für die Werte Europas muss daher wieder gestärkt werden. Wir müssen uns an die Arbeit machen, die „Schicksalsgemeinschaft Europa“ wieder handlungsfähiger zu gestalten. Europa kann das schaffen.

 

Der Artikel erschien im Original bei "Die Presse" (Österreich).

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Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

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Berlin Deutschland