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„Eine künstliche Debatte“

Oliver Ernst im Interview zur Diskussion um die Verfassung der Türkei

Der türkische Parlamentspräsident will die Verfassung islamisieren. Doch er hat dafür weder für die Zustimmung der Mehrheit in der AKP noch die von Präsident Erdogan. Die Debatte wird daher in der Türkei als unnötig und künstlich betrachtet, erklärt Dr. Oliver Ernst.

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Die Islamisierung in der Türkei schreitet voran. Ist der Vorstoß des Parlamentspräsidenten, die Verfassung entsprechend ändern zu wollen, Teil dieser Agenda?

Ernst: Da der sunnitische Islam von ungefähr 80 Prozent der Menschen in der Türkei geteilt wird, hat er schon vor der AKP eine die Gesellschaft verbindende Rolle gespielt. Die AKP-Regierung hat hieran angeknüpft und in den letzten 14 Jahren insbesondere den Ausbau des religiösen Bildungssystems und den Moscheebau vorangetrieben. Hierdurch hat sie zugleich ihre politische Macht gefestigt. Dennoch ist der Ruf nach einer islamischen Verfassung nicht Teil der politischen Agenda, sondern eine Einzelstimme.

Ist das Zurückrudern Erdogans ernst gemeint?

Ernst: Für Präsident Erdogan ist ein wichtiges Ziel der seit Langem geplanten Verfassungsänderung die Aufwertung des Präsidentenamtes in Form eines Präsidialsystems. Hierfür muss er auch innerhalb der AKP um Unterstützer werben, da dieses Ziel nicht unumstritten ist. Der Ruf des Parlamentspräsidenten nach einer islamischen Verfassung würde seinen Absichten aber wohl eher zuwider laufen, da auch in der Regierungspartei AKP nur ein kleines Spektrum mit derart weitreichenden Forderungen konform geht. Der Parlamentspräsident spricht hier weder für die Mehrheit in der AKP noch für den Präsidenten. Die Debatte wird daher in der Türkei als unnötig und künstlich betrachtet.

Erdogans Politikstil stößt im Westen immer stärker auf. Stört ihn das oder schaut er nur ins Inland?

Ernst: Natürlich stört ihn das, da er sich an jeglicher Kritik – egal ob im In- oder Ausland – stört. Eine konstruktive Auseinandersetzung mit Kritik findet auf seiner Seite dagegen praktisch nicht statt. Aber aus machtpolitischen Gründen instrumentalisiert er Kritik auch: Hierbei hilft ihm, dass er auf die verbreitete Einstellung zurückgreifen kann, der einzige Freund des Türken ist der Türke. Je mehr Angriffe von außen kommen, desto mehr wird auch die Kritik im Inland als Verrat an der Nation geschmäht. Dieses Phänomen gab es aber schon lange vor der Erdogan-Ära und auch nicht nur in der Türkei.

Soll sein Vorgehen gegen Journalisten auch außenpolitisch Wirkung erzielen?

Ernst: Nein, die außenpolitischen Kollateralschäden werden eher schulterzuckend in Kauf genommen. In erster Linie erfüllte die Repression gegen Journalisten den Hauptzweck, ernste Gegner und gefährliche Kritiker mundtot zu machen. Dies ist eine innertürkische Auseinandersetzung, aber auf breiter politischer Front.

In der Türkei herrscht ja eine Art Kulturkampf. Wird das Land zunehmend destabilisiert?

Ernst: Der Kulturkampf destabilisiert die Türkei nicht, aber er fördert illiberale Tendenzen. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es keine starke und geschlossene Opposition gibt, die als notwendiges politisches Korrektiv wirkt.

Viele sehen die Türkei auf einen Weg in eine Art arabischen Despotismus ...

Ernst: Die Türkei hat in den letzten zwei Jahrzehnten gesellschaftliche und politische Fortschritte gemacht – auch unter der Regierung der AKP – die wir nicht gering schätzen dürfen. Gleichwohl ist die türkische Demokratie weiter defizitär. Wichtig ist aber, dass die traditionell vorhandenen autoritären Tendenzen nicht mehr die enge Anbindung an die Armee haben. Der Sicherheitsapparat ist entmachtet und die Zivilgesellschaft gestärkt. In den nächsten Jahren muss die AKP ihre politische Macht nutzen, um die Freiheitsrechte zu stärken. Eine islamisch geprägte Verfassung wäre hier kontraproduktiv.

Erstveröffentlichung auf WN.de. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Westfälischen Nachrichten. Das Interview führte Claudia Kramer-Santel.

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8. März 2016
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Die AKP-Regierung hat in den letzten 14 Jahren insbesondere den Ausbau des religiösen Bildungssystems und den Moscheebau vorangetrieben | Foto: Kris Fricke / Flickr / CC BY-NC-ND 2.0 Kris Fricke / Flickr / CC BY-NC-ND 2.0

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Münster Deutschland