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Sozialdemokratische Jahrhundertgestalt

Zum 100. Geburtstag von Willy Brandt

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Willy Brandt (Foto: picture alliance/dpa)

In seiner aktiven politischen Laufbahn hat die „sozialdemokratische Jahrhundertgestalt, die alle Epochen des 20. Jahrhunderts durchlebte“ (Hans-Peter Schwarz), sowohl begeistert als auch polarisiert. Am 18. Dezember wäre der Kanzler der sozialliberalen Koalition 100 Jahre alt geworden.

Kindheit und Jugend im sozialistischen Milieu Lübecks

Anders als viele andere führende Sozialdemokraten ist Willy Brandt tatsächlich proletarischer Abstammung. Am 18. Dezember 1913 kommt er in Lübeck als Herbert Frahm zur Welt. Den Namen seines Vaters erfährt er erst nach dem Zweiten Weltkrieg, begegnet ist er ihm nie. Er selbst bezeichnet sich als „norddeutsche(n) Arbeiterjungen, der in die sozialistische Bewegung hineingeboren wurde“. Sein Großvater Ludwig Frahm, bei dem er aufwächst, fungiert als Vertrauensmann der SPD im Stadtbezirk. Früh engagiert sich Brandt in der sozialistischen Jugendbewegung und tritt mit 16 Jahren der SPD bei. Sein Mentor in diesen Jahren ist der Reichstagsabgeordnete Julius Leber, der im Januar 1945 wegen seines Widerstandes gegen den Nationalsozialismus hingerichtet wird. Leber ist Herausgeber des „Lübecker Volksboten“, für den Brandt schon als Schüler seine ersten journalistischen Arbeiten verfasst. Er überwirft sich 1931 mit ihm und der Partei, weil er der Auffassung ist, SPD und Gewerkschaften täten zu wenig, um eine drohende Machtübernahme der Nationalsozialisten zu verhindern. Auch die Tolerierungspolitik gegenüber der Regierung von Reichskanzler Brüning lehnt er ab. Die SPD-Führung erscheint ihm müde, vergreist und bereit, sich bar jedes revolutionären Geistes mit dem Erreichen der Republik zufrieden zu geben. Für die sozialistische Jugend hingegen gelte, wie Brandt in einem seiner Artikel schreibt, „Republik, das ist nicht viel – Sozialismus ist das Ziel!“ Er schließt sich der „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ (SAP) an, einer linkssozialistischen Splittergruppe, die sich kurz zuvor von der SPD abgespalten hat. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten setzt er seine Tätigkeit für die SAP zunächst im Untergrund fort. Für die Reise zu einem illegalen Parteitag im März 1933 verwendet er erstmals den Tarnnamen, unter dem er später berühmt werden wird: Willy Brandt. Wenige Wochen später emigriert er nach Norwegen.

In der skandinavischen Emigration

Im Auftrag der Reichsleitung der SAP soll Brandt in Oslo eine skandinavische Verbindungsstelle der Partei aufbauen. Auch dort betätigt er sich als Journalist und Publizist und findet Aufnahme in sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Kreisen. Nachdem er sich im Herbst 1936 unter einem Decknamen zu Beobachtungszwecken in Berlin aufgehalten hat, wird er 1937 nach Spanien entsandt, um für mehrere norwegische Zeitungen über den Bürgerkrieg zu berichten und für die SAP Kontakt zu befreundeten Kräften zu halten. Dort beobachtet er aus nächster Nähe das Grauen des Krieges und erlebt den rücksichtslosen Machtanspruch der moskauhörigen Kommunisten, die rigoros und brutal gegen tatsächliche und vermeintliche Abweichler in den eigenen Reihen vorgehen. In seinen Erinnerungen schreibt er, der Terror der Kommunisten während des spanischen Bürgerkrieges habe ihn „ein für allemal“ gelehrt, dass es kein höheres Gut als die Freiheit gebe und dieses „gegen mehr als eine Seite verteidigt werden“ müsse. Daneben prägen ihn die Erfahrungen mit einer undogmatischen, pragmatischen, toleranten und machtbewussten Sozialdemokratie, die er während des Exils erst in Norwegen und dann, nach der deutschen Besetzung Norwegens, in Schweden macht. Sie sind ein weiterer Anstoß für seinen Weg vom linken Sektierertum zurück zur „Mutterpartei“ SPD und zur parlamentarischen Demokratie.

Rückkehr nach Deutschland und politischer Neuanfang

Schon zwei Tage nach Kriegsende kehrt Willy Brandt nach Deutschland zurück, berichtet als Journalist für verschiedene norwegische Zeitungen und übernimmt dann in Berlin die Funktion eines Beraters der norwegischen Militärmission im Range eines Majors. Dies ist möglich, weil er – 1938 von den Nationalsozialisten ausgebürgert – im Exil die norwegische Staatsbürgerschaft angenommen hat. Schon bald entschließt er sich zur endgültigen Rückkehr nach Deutschland und tritt Anfang 1948 als Leiter des Berliner Sekretariats in die Dienste der SPD. Er gilt als „junger Mann“ des Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter, mit dem er in wesentlichen politischen Fragen einig ist. So verficht Reuter die Schaffung eines Weststaates, der als Grundlage für den Abwehrkampf gegen den Kommunismus und Ausgangsbasis einer aktiven Wiedervereinigungspolitik dienen soll. Im Gegensatz zur Parteiführung der SPD unter Kurt Schumacher befürworten beide – sicherlich geprägt durch die bedrängte Situation der „Frontstadt“ Berlin – auch die Westorientierung der jungen Bundesrepublik. Brandt ist im Gegensatz zum Parteivorsitzenden proamerikanisch und offen gegenüber der von Schumacher vehement bekämpften Westintegrationspolitik Adenauers. Es kommt auch zu Auseinandersetzungen mit dem traditionalistischen Flügel der Berliner SPD unter Franz Neumann um eine volksparteiliche Öffnung der Partei. Brandt steht in dieser Zeit ohne Zweifel auf deren rechtem Flügel. Von 1949 bis 1957 ist er als Vertreter Berlins Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 1950 auch des Berliner Abgeordnetenhauses.

An der Spitze der „Frontstadt“ West-Berlin

Als sein Vorbild und Mentor Ernst Reuter am 29. September 1953 stirbt, folgt Brandt dessen Nachfolger Otto Suhr im Amt des Präsidenten des Abgeordnetenhauses. Nach dem Tod Suhrs wird er am 3. Oktober 1957 zum Regierenden Bürgermeister von Berlin gewählt. Bedingt durch die wenig später beginnende zweite Berlin-Krise agiert er nun im Rampenlicht der bundesdeutschen Öffentlichkeit, wird gar zu einer „Zentralfigur des Kalten Krieges“ (Hans-Peter Schwarz). Seine engsten Mitarbeiter und Berater in dieser Zeit sind Heinrich Albertz, Klaus Schütz und Egon Bahr – die „Heilige Familie“, wie sie in der Presse gelegentlich genannt werden. Internationale Bekanntheit gewinnt Brandt auch auf Reisen durch die USA und Asien, die von der Regierung Adenauer finanziert werden und auf denen er um Unterstützung für das bedrängte West-Berlin wirbt. In einem Dossier der US-Vertretung in Berlin für den amerikanischen Präsidenten Kennedy von 1961 werden auf der einen Seite sein Charisma und die Fähigkeit, Massen zu begeistern, hervorgehoben, ebenso seine taktische Versiertheit. Auf der anderen Seite weisen die Verfasser auf Brandts Hang zu Zögerlichkeit, Unentschiedenheit und Ambivalenz hin.

Seine erstmalige Kanzlerkandidatur 1961 ist in der SPD nicht unumstritten, gilt er vielen in seiner Partei doch immer noch als „rechter Flügelmann“ (Fritz René Allemann). In dem mit harten Bandagen geführten Wahlkampf wird seitens der SPD der Gegensatz zwischen dem „alten“ Amtsinhaber Konrad Adenauer und dem als eine Art „deutscher Kennedy“ präsentierten Brandt hervorgehoben, der für Jugend und Aufbruch stehe. Zugleich werden stärker als zuvor die Gemeinsamkeiten mit der CDU/CSU in der Außenpolitik betont. Inzwischen hat sich die SPD nicht nur mit dem Godesberger Programm von 1959 von überholtem marxistisch inspiriertem Gedankengut verabschiedet, sondern mit einer berühmt gewordenen Bundestagsrede Herbert Wehners am 30. Juni 1960 auch die Grundlinien der Adenauerschen Außenpolitik akzeptiert. Besagte Rede sei übrigens, so Brandts enger Mitarbeiter Egon Bahr, zwar inhaltlich richtig, mit der Parteiführung gleichwohl nicht abgestimmt gewesen: „Wehner hatte geführt, Brandt war gefolgt.“ Es war dies ein Missklang, wie er zwischen den beiden zukünftig noch des Öfteren auftreten sollte. Mitten in den Wahlkampf fällt der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961. Er bietet Brandt die Möglichkeit, sich als Krisenmanager und Symbol des Freiheitswillens der West-Berliner zu präsentieren. Dabei hat er den schwierigen Spagat zu meistern, der Empörung der Bevölkerung Ausdruck zu verleihen und zugleich eine Eskalation zu verhindern – Letzteres ein Ziel, das auch Adenauers viel kritisiertes Verhalten in diesen Tagen bestimmt. Bei der Bundestagswahl am 17. September 1961 erzielt die SPD mit Brandt als Spitzenkandidat einen Zugewinn, bleibt allerdings mit 36,2% der Stimmen deutlich hinter den Unionsparteien (45,4%).

Der Mauerbau ist Anstoß für Brandt, gemeinsam mit seinen engsten Beratern nach neuen Wegen in der Deutschlandpolitik zu suchen und dabei Gespräche mit den verhassten Machthabern in Ost-Berlin nicht mehr zu tabuisieren. Auch Konrad Adenauer lässt in dieser Zeit unter strengster Geheimhaltung Überlegungen hinsichtlich eines Modus vivendi mit der DDR anstellen, um menschliche Erleichterungen zu ermöglichen und die Kontakte zwischen Ost und West nicht völlig abreißen zu lassen. Am 15. Juli 1963 präsentiert Brandts Intimus Egon Bahr in der Evangelischen Akademie Tutzing sein unter dem Schlagwort „Wandel durch Annäherung“ berühmt gewordenes Konzept, das die Wiedervereinigung nicht als einmaligen Akt, sondern als einen „Prozess mit vielen Schritten und Stationen“ betrachtet, bei dem auch die Interessen der östlichen Seite zu beachten sind. Erstes Ergebnis dieser Strategie ist ein Passierscheinabkommen, das es Tausenden West-Berlinern zu Weihnachten und Silvester 1963 ermöglicht, ihre Verwandten im Ostteil zu besuchen. Anfangs zielt das Konzept ausdrücklich darauf ab, „die Beseitigung der DDR“ mittels Umarmung statt durch Abgrenzung und Konfrontation herbeizuführen. Vor allem in den 1980er Jahren ist dann indes zu beobachten, wie auch ein der SPD gegenüber wohlwollend eingestellter Autor wie Peter Merseburger nicht umhin kommt festzustellen, dass führende Sozialdemokraten „den Partner in der Umarmung dann liebgewinnen und eher zärtlich streicheln denn erdrücken wollen“.

Die erneute Wahlniederlage am 19. September 1965 gegen Ludwig Erhard, der Adenauer zwei Jahre zuvor im Amt des Bundeskanzlers gefolgt ist, bedeutet einen Schock für Brandt und die SPD. Man hat sich angesichts der Brandtschen Popularität wesentlich mehr erhofft. Erstmals haben sich zahlreiche prominente Intellektuelle, allen voran der Schriftsteller Günter Grass, in einer Wählerinitiative zusammen gefunden und für Brandt in die Wahlschlacht geworfen. Allerdings gelingt es nicht, sachliche Alternativen zur CDU/CSU zu formulieren, die zudem von der Popularität des „Vaters des Wirtschaftswunders“ profitiert. Für viele sind damit Willy Brandts bundespolitische Ambitionen erledigt. Auch er selbst gibt zu erkennen, dass er für einen dritten Anlauf auf das Kanzleramt nicht zur Verfügung steht.

Außenminister der Großen Koalition

Die Situation ändert sich, als die Position Erhards 1966 aufgrund außenpolitischer Probleme und schlechter Konjunkturdaten rasant erodiert. Nach seinem Sturz tritt Brandt als Außenminister in das Kabinett der ersten Großen Koalition der bundesdeutschen Geschichte auf Bundesebene ein. Er tut dies eher zögerlich, ist auch an den Koalitionsverhandlungen, die maßgeblich von Herbert Wehner und Helmut Schmidt geführt werden, nicht entscheidend beteiligt. Sein Verhältnis zu Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger ist kühl-distanziert. Als Verkörperung der politischen „Zweckehe“ zwischen den Unionsparteien und der SPD gelten in der Öffentlichkeit andere: Franz-Josef Strauß (CSU) als Finanz- und Karl Schiller (SPD) als Wirtschaftsminister (bekannt als „Plisch und Plum“) oder die sehr gut zusammenarbeitenden Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel (CDU) und Helmut Schmidt (SPD).

Wesentliche Aufgaben Brandts als Außenminister sind die Verbesserung des unter Erhard schwierigen Verhältnisses zu Frankreich sowie die Fortsetzung der behutsamen Öffnung nach Osten. Hier knüpft er an die Politik seines Amtsvorgängers Gerhard Schröder (CDU) an. Dieser hatte Handelsmissionen in mehreren Ostblockstaaten einrichten lassen und deren Umwandlung in diplomatische Vertretungen erwogen. Unter der Regierung Kiesinger/Brandt werden diplomatische Beziehungen zu Rumänien und Jugoslawien aufgenommen. Auch gegenüber der DDR ist die Große Koalition zum Entgegenkommen und zu Gesprächen bereit. Ost-Berlin beharrt indes auf der völkerrechtlichen Anerkennung und reagiert, unterstützt von der Sowjetunion, mit verstärkten Abgrenzungsmaßnahmen auf die flexiblere bundesdeutsche Ostpolitik. Schon in dieser Zeit stellt die Ostpolitik einen zentralen Streitpunkt zwischen der SPD und den Unionsparteien dar.

In seiner Eigenschaft als Parteivorsitzender erkennt Brandt früh, dass die Sozialdemokraten ihr Verhältnis zur FDP klären müssen, um für die Zeit nach der Großen Koalition eine weitere Machtoption zu haben. Vor allem deshalb verabschiedet man sich von der Einführung eines Mehrheitswahlrechts, auf die man sich mit der CDU/CSU zu Beginn der Großen Koalition im Grundsatz verständigt hat und die für die Freien Demokraten existenzbedrohend gewesen wäre. Als sich in der Wahlnacht des 28. September 1969 eine knappe sozialliberale Mehrheit – letztlich sind es 12 Mandate – abzeichnet, ergreift der nicht zu Unrecht oft als Zauderer beschriebene Brandt entschlossen die Initiative für eine Koalition mit der stark dezimierten FDP. Seine Partei selbst erzielt mit 42,7% ihr bis dato bestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl. Um 23:45 Uhr verkündet Brandt nach diversen Telefonaten seinen Anspruch auf die Kanzlerschaft.

Bundeskanzler der sozialliberalen Koalition

Brandts erste Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 stellt unter dem Schlagwort „Mehr Demokratie wagen“ das „hochfliegendste Regierungsprogramm“ in der bisherigen bundesdeutschen Geschichte dar (Wolfgang Jäger). Es verspricht Rentenerhöhungen, Steuererleichterungen, die Gleichberechtigung der Geschlechter, Umweltschutzmaßnahmen, Ausbau der Hochschulen, Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung, einen forcierten Kampf gegen den Krebs und noch vieles andere mehr. Kritiker sprechen von einem Füllhorn an Versprechungen, das über dem Wahlvolk ausgeschüttet worden sei. Seine Äußerung „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an“ sorgt auch bei manchen Parteifreunden für Stirnrunzeln und ist nicht nur in der historischen Rückschau objektiv falsch. Zudem werden Erwartungen geweckt, die nur schwer zu erfüllen sind. Obwohl Brandt als Kanzler der inneren Reformen antritt, steht seine erste Amtsperiode vor allem im Zeichen der Außen- und Deutschlandpolitik. Die sog. „Neue Ostpolitik“, die in den Verträgen von Moskau und Warschau sowie im Grundlagenvertrag mit der DDR ihren Ausdruck findet, ist innenpolitisch höchst umstritten und heftig umkämpft. Letztlich stellt sie vor allem das Bemühen dar, den sich seit dem Ende der 1950er rasant verändernden internationalen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen. Tatsächlich steht die sozialliberale Koalition stärker in der Tradition bundesdeutscher Außenpolitik, als Befürworter und Gegner das damals wahrhaben wollen. So sind die epochalen außenpolitischen Weichenstellungen der Ära Adenauer, vor allem seine Westpolitik, und die dadurch geschaffenen Realitäten die Voraussetzung für die „neue Ostpolitik“.

Die anfängliche Stabilität der nur mit knapper Mehrheit regierenden Koalition verdankt sich nicht zuletzt der heftigen Opposition seitens der unter dem Schock des Regierungsverlusts leidenden CDU/CSU. Durch deren Widerspruch wird die Regierung gedrängt, in den Verhandlungen mit Moskau das Recht der Deutschen auf Wiedervereinigung und die Möglichkeit einer friedlichen Revision der Nachkriegsgrenzen härter zu verteidigen. Eine von der bayerischen Landesregierung angestrengte Normenkontrollklage gegen den Grundlagenvertrag wird am 31. Juli 1973 zwar abgewiesen. Zugleich stellt das Bundesverfassungsgericht aber unmissverständlich fest, dass der Vertrag nicht als Teilungsvertrag interpretiert und die DDR nicht völkerrechtlich – also als Ausland – anerkannt werden dürfe.

Mit dem nötigen zeitlichen Abstand kommt der Historiker Peter Graf Kielmannsegg zu einem abgewogenen Urteil über die Ost- und Deutschlandpolitik der Regierung Brandt. So habe „die Bundesrepublik ein wichtiges Stück außenpolitischer Handlungs- und Bewegungsfreiheit gewonnen“, weil sie “nicht mehr gegen den Strom der Entspannungspolitik zu schwimmen“ brauchte, in Ostmitteleuropa politisch aktiv werden konnte und nicht mehr „die Last des Kampfes gegen die Anerkennung der DDR“ mit sich herumschleppte. „Nicht dass man sich mit Moskau und Ost-Berlin vertraglich arrangierte“, sei das Problem der Ostpolitik gewesen, “sondern dass man in den siebziger und achtziger Jahren weithin vergaß, mit wem man sich da eingelassen hatte (…) Der große moralische Gestus, mit dem die Ostpolitik sich als Friedenspolitik legitimierte, hat dem Realitätssinn, der Klarheit des Urteils, auch dem Urteilsmut im Umgang mit den kommunistischen Diktaturen und Diktatoren nicht gutgetan. Das macht die Ambivalenz dieser Politik aus.“ In der Tat irritiert etwa das völlig unkritische Bild, das Egon Bahr noch in seinem jüngsten Buch vom damaligen sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew zeichnet.

Im Frühjahr 1972 bröckelt die Mehrheit der sozialliberalen Koalition durch den Übertritt von nationalliberal gesinnten oder den Ostverträgen kritisch gegenüberstehenden FDP-Abgeordneten zur CDU. Die Unionsparteien entschließen sich daher, mittels eines konstruktiven Misstrauensvotums den Regierungswechsel herbeizuführen. Bei der Abstimmung am 27. April 1972 fehlen Brandts Kontrahent Rainer Barzel allerdings zwei Stimmen – der Machtwechsel scheitert. Heute ist unstrittig, dass, wie schon früh vermutet, Bestechung und die Hand des Ministeriums für Staatsicherheit der DDR im Spiel waren. Da die Regierungskoalition in den sich anschließenden Abstimmungen über den Bundeshaushalt die Mehrheit verfehlt, werden für den 19. November 1972 Neuwahlen angesetzt.

Der Wahlkampf der SPD ist ganz auf den populären Bundeskanzler zugeschnitten, der für seine Ostpolitik 1971 den Friedensnobelpreis erhalten hat. Um ihn wird ein regelrechter Star-Kult getrieben. An dem unter der Parole „Willy wählen!“ laufenden Werbefeldzug beteiligen sich wiederum zahlreiche Schriftsteller, Wissenschaftler, Schauspieler und Künstler. Die Kampagne trägt allerdings auch erheblich zur innenpolitischen Polarisierung bei, denn „wer den Kanzler zum Inbegriff der politischen Moral erhebt, der zeichnet den politischen Gegner geradezu als Symbol des Bösen“ (Wolfgang Jäger). Das Wahlergebnis von 45,8% für die SPD (bei 44,9% für die Unionsparteien) ist der größte politische Triumph in der Laufbahn Willy Brandts. Erstmals stellt die SPD die stärkste Fraktion im Deutschen Bundestag. Auf den Sieg allerdings folgt ein „zunächst (..) schleichender, aber unaufhaltsamer und schließlich rasant beschleunigter Prozess des Verfalls von Macht, Ansehen und Autorität“ (Peter Merseburger). Der physisch angeschlagene Kanzler findet nicht die Kraft, innerparteiliche Gegner in die Schranken zu weisen, etwa die von „Systemüberwindung“ und „qualitativem Sprung“ in den Sozialismus fabulierenden Jungsozialisten, unter ihnen der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder. Weitere Faktoren sind die Ölkrise von 1973, die Inflation und Arbeitslosigkeit weiter ansteigen lässt, absurd hohe und von wilden Streiks begleitete Lohnforderungen des Öffentlichen Dienstes, aber auch die Enthüllung, dass beim gescheiterten Misstrauensvotum Bestechung im Spiel gewesen ist, wodurch Brandt und die SPD vom hohen moralischen Ross herunter geholt werden. Zudem ist in der Ost- und Deutschlandpolitik nach dem Abschluss der Verträge nun mühselige Alltagsarbeit gefragt, mit der sich in der Öffentlichkeit schwerer punkten lässt – die „Mühen der Ebene“, die nach Bertolt Brecht unweigerlich auf die „Mühen der Berge“ folgen. Hinzu kommt, dass führende Parteifreunde wie Herbert Wehner und Helmut Schmidt mangelnde Führung durch den Kanzler und Parteivorsitzenden sowie dessen Lethargie monieren. Die oft geschilderte und skandalumwitterte Enttarnung des Kanzleramtsspions Günter Guillaume und seiner ebenfalls für die Auslandsspionage der DDR arbeitenden Frau Christel ist daher lediglich der letzte Anstoß für Brandt, vom Amt des Bundeskanzlers zurückzutreten.

„Elder Statesman“ im globalen Rahmen

Nach dem Ausscheiden aus dem Kanzleramt engagiert sich Brandt, der bis 1987 Vorsitzender der SPD bleibt, zunehmend in der Entwicklungs- und Dritte-Welt-Politik. Die Sozialistische Internationale, ein ursprünglich stark europäisch geprägter Zusammenschluss sozialdemokratischer und sozialistischer Parteien, wird unter seiner Präsidentschaft (1976–1992) durch die Aufnahme afrikanischer und mittelamerikanischer Parteien und Bewegungen stark erweitert und gewinnt an Bedeutung über den alten Kontinent hinaus. Als Vorsitzender der von der Weltbank eingesetzten und unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen stehenden Nord-Süd-Kommission, die sich Anfang 1977 auf Schloss Gymnich bei Bonn konstituiert, rückt nach und neben dem Ost-West-Konflikt der zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden der Erdhalbkugel in den Fokus seiner politischen Arbeit. Brandt ist maßgeblich am Zustandekommen des Berichts beteiligt, der am 12. Februar 1980 unter der Überschrift „Das Überleben sichern“ die Situation in den Entwicklungsländern und Schritte zur Verwirklichung einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung thematisiert. Auf der politischen Weltbühne ist er in diesen Jahren mindestens ebenso präsent wie zu seiner Zeit als Bundeskanzler. Innerparteilich gibt es starke Differenzen. Vor allem Brandts Skepsis gegenüber dem von seinem Nachfolger Helmut Schmidt maßgeblich mitkonzipierten NATO-Doppelbeschluss macht „die bedrohliche Kluft zwischen dem Brandt- und Schmidt-Lager fast unüberwindlich“ (Gunter Hofmann) und trägt zum Regierungswechsel von 1982 bei.

In der Wiedervereinigungsphase 1989/90 rückt Willy Brandt noch einmal in den Fokus der Öffentlichkeit. Hat er als Außenminister und Bundeskanzler die Akzeptanz der Zweistaatlichkeit als politische Realität durchgesetzt, und noch kurz zuvor die Wiedervereinigung als „Lebenslüge“ bezeichnet, so optiert er nun leidenschaftlich für die nationale Einheit, als diese durch die Erosion des Ostblocks plötzlich unerwartet auf der politischen Tagesordnung steht. Dies bringt ihn nicht nur in Gegensatz zu so manchen seiner „Enkel“, allen voran Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine, in den er einst große Hoffnungen gesetzt hat, sondern lässt ihn auch noch einmal „auf einer großen Welle gesamtnationaler Popularität schwimmen“ (Christoph Kleßmann). Das gemeinsame Ziel der Einheit ist zugleich die Basis für das gute Verhältnis des späten Willy Brandt zu dem die Wiedervereinigung entschlossen vorantreibenden Bundeskanzler Helmut Kohl.

Willy Brandt stirbt am 8. Oktober 1992 in seinem Haus in Unkel. Wie kaum ein anderer repräsentiert er die wechselvolle Geschichte der deutschen Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert. Dies sichert ihm einen bleibenden Platz in den Geschichtsbüchern: „Man mochte ihn bewundern oder seine Politik über lange Perioden hinweg ablehnen oder bekämpfen – an der Tatsache seiner ganz überragenden Bedeutung dürfte heute kein Zweifel mehr möglich sein.“ (Hans-Peter Schwarz)

Christopher Beckmann

Literatur

Schriften von Willy Brandt

  • Links und frei. Mein Weg 1930–1950. Hamburg 1982, Neuauflage 2012.
  • Erinnerungen. Frankfurt a. M. 1989. Neuauflage Berlin 2013.
Literatur über Willy Brandt

  • Hans-Peter Schwarz: Die sozialdemokratische Jahrhundertgestalt: Willy Brandt. In: ders.: Das Gesicht des Jahrhunderts. Monster, Retter und Mediokritäten. Berlin 1998, S. 672–683.
  • Gregor Schöllgen: Willy Brandt. Die Biographie. Berlin/München 2001, Neuauflage 2013.
  • Peter Merseburger: Willy Brandt 1913–1992. Visionär und Realist. München 2002, Neuauflage 2013.
  • Brigitte Seebacher: Willy Brandt. München 2004, Neuauflage 2013.
  • Bernd Rother (Hg.): Willy Brandt. Neue Fragen, neue Erkenntnisse. Bonn 2011 (Willy-Brandt-Studien 5).
  • Gunter Hofmann: Willy Brandt und Helmut Schmidt. Geschichte einer schwierigen Beziehung. München 2012.
  • Egon Bahr: „Das musst du erzählen.“ Erinnerungen an Willy Brandt. Berlin 2013.
  • Bernd Faulenbach: Willy Brandt. München 2013.
  • Torsten Körner: Die Familie Willy Brandt. Frankfurt a. M. 2013.
  • Willy Brandt – Berliner Ausgabe. Hg. v. Helga Grebing, Gregor Schöllgen und Heinrich August Winkler im Auftrag der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. 10 Bände. Bonn 2000-2009.
Sonstige Literatur

  • Karl Dietrich Bracher/Wolfgang Jäger/Werner Link: Republik im Wandel, 1969-1974. Die Ära Brandt (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Hg. v. Karl Dietrich Bracher u. a., Bd. 5/I). Stuttgart 1986.
  • Hanns Jürgen Küsters: Konrad Adenauer und Willy Brandt in der Berlin-Krise 1958-1963, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 40 (1992), S. 483-542.
  • Peter Graf Kielmannsegg: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000 (Die Deutschen und ihre Nation).
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