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Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Lothar de Maizière, abgegeben vor der Volkskammer der DDR am 19. April 1990

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Frau Präsidentin!

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Liebe Abgeordnete!

Die Erneuerung unserer Gesellschaft stand unter dem Ruf "Wir sind das Volk!". Das Volk ist sich seiner selbst bewusst geworden. Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten haben sich die Menschen in der DDR als Volk konstituiert. Die Wahlen, aus denen dieses Parlament hervorgegangen ist, waren Wahlen des Volkes. Zum ersten Mal trägt die Volkskammer ihren Namen zu Recht.

Und aus dem Ruf "Wir sind das Volk!" erwuchs der Ruf "Wir sind ein Volk!". Das Volk in der DDR konstituierte sich als Teil eines Volkes, als Teil des einen deutschen Volkes, das wieder zusammenwachsen soll. Unsere Wähler haben diesem ihrem politischen Willen in den Wahlen vom 18. März deutlich Ausdruck verliehen. Dieser Wille verpflichtet uns. Ihn so gut wie nur möglich zu erfüllen ist unsere gemeinsame Verantwortung.

Der Neuanfang unserer Gesellschaft ist ein zutiefst demokratischer Neuanfang. Wir haben einen demokratischen Auftrag. Den haben uns die Bürger der DDR gegeben und niemand sonst. Wir haben das erste freigewählte Parlament und die erste freigewählte Regierung seit zwei Generationen. Und es ist einer breite Mehrheit des Parlaments und der Wähler, auf die sich die Koalition stützt.

Alle politischen Kräfte in Europa nehmen heute teil an dem Prozess der Einigung Deutschlands. Wir vertreten in ihm die Interessen der Bürger der DDR. Das Ja zur Einheit ist gesprochen. Über den Weg dahin werden wir ein entscheidendes Wort mitzureden haben.

Der Neuanfang unserer Gesellschaft soll auch ein ehrlicher Neuanfang sein: In dem großen historischen Prozess unserer Befreiung haben wir einem Politiker die wirksame Bündelung vieler positiver Impulse besonders zu verdanken: Michail Gorbatschow. Wir ahnen die schwere Last, die er in der Sowjetunion zu tragen hat. Wir bitten die Bürger der Sowjetunion, die Politik der DDR und ihr Streben nach der Einheit Deutschlands nicht als bedrohlich anzusehen. Wir sind uns unserer historischen Schuld gegenüber der Sowjetunion bewusst, und wir möchten als freier Staat mit einer Sowjetunion, in der das neue Denken gesiegt hat, freundschaftlich zusammenarbeiten. Glasnost und Perestrojka haben der Welt neue, lange Zeit nicht für möglich gehaltene historische Horizonte erschlossen. Sie förderten auch in der DDR eine Bürgerbewegung, die alle gesellschaftlichen Sektoren erfasste.

Eine entscheidende Kraft dieses Prozesses waren die neuen demokratischen Gruppen, in denen sich Menschen zusammenfanden, die die Fesseln der Vergangenheit sprengten. Die Träger der friedlichen Revolution im Herbst 1989 verdienen einen herausragenden Platz in der deutschen Geschichte. Das sollte in diesem Hause stets gegenwärtig und lebendig bleiben.

Wenn ich an dieser Stelle den Dank für unsere Freiheit ausspreche, denke auch ich an die Freiheitsbewegungen in unseren östlichen Nachbarstaaten. Die Solidarnosc-Bewegung in Polen hatte nachhaltige Wirkungen auf ganz Osteuropa. Weder Kriegsrecht noch Hetzpropaganda haben der Demokratie den Riegel vorschieben können. Namen wie Lech Walesa oder der des großen Bürgerrechtlers und heutigen Staatspräsidenten der Tschechoslowakei, Vaclav Havel, werden für immer in den Geschichtsbüchern der Welt stehen und die Herzen freiheitsliebender Menschen bewegen.

Wir denken an das ungarische Volk und seine Bürger, die den Eisernen Vorhang herunterrissen und damit auch ein Stück Berliner Mauer zum Fallen brachten. Noch in den nächsten Monaten wird dieses menschenunwürdige Schandmal abgerissen.

Ich möchte im Namen der Regierung der DDR den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland danken. Sie haben zu uns gehalten, sie haben uns Mut gemacht und geholfen, wo immer dies möglich war. Und vergessen wir nicht: Jahrzehntelang waren, wenn auch mitunter nicht ohne Eigennutz, die westlichen Medien für viele DDR-Bürger die wichtigste Informationsquelle. Oft waren sie das einzige Sprachrohr für Unterdrückte und politisch Andersdenkende in diesem Land.

Das uneingeschränkte Bekenntnis verantwortlicher Politiker der Bundesrepublik - ich nenne nur Richard von Weizsäcker, Helmut Kohl, Willy Brandt und Hans-Dietrich Genscher - zur Selbstbestimmung und Einheit des deutschen Volkes versetzt uns auch in die Lage, jetzt die Einheit verwirklichen zu können.

An dieser Stelle möchte ich noch einmal Hans Modrow für sein Engagement danken. Durch seine behutsame Politik ist uns sicher vieles erspart geblieben. In den schwierigen Zeiten des letzten halben Jahres blieb er als Demokrat überparteilich und stabilisierte in Zusammenarbeit mit dem Runden Tisch dieses Land.

Verehrte Abgeordnete!

Ein Dank darf heute nicht fehlen. Das ist der Dank an die Kirchen. Ihr Verdienst ist es, Schutzraum für Andersdenkende und Anwalt für Rechtlose gewesen zu sein. Ihre Besonnenheit und ihr Festhalten an der Gewaltlosigkeit haben unserer Revolution die Friedfertigkeit bewahrt. Es hatte ja alles auch ganz anders kommen können. Wir haben Grund zu tiefer Dankbarkeit, dass uns die Erfahrungen erspart geblieben sind, wie sie etwa das rumänische Volk machen musste.

Aber unsere Geschichte, das sind nicht nur die letzten fünf Jahre. Als freie Regierung und freies Parlament verneigen wir uns vor den Opfern des Faschismus. Wir denken an die Opfer der Konzentrationslager und des Krieges. Wir denken aber auch an die Opfer des Stalinismus, an die Opfer des 17. Juni 1953 und an die Opfer der Mauer. Krieg und Nachkrieg, die Verflochtenheit unendlich vieler Menschen in Schuld und Sühne und wieder neue historische Schuld haben das Gesicht unseres Volkes gekennzeichnet.

Wir möchten lernen von denen, die in diesen dunklen Zeiten politischen Widerstand gewagt und geleistet haben. Diese Menschen sind der Stolz, und ihre Leistung ist der moralische Schatz unseres Volkes. Die Menschen des Widerstandes erinnern uns an unsere Verantwortung für unsere Geschichte. Es ist nicht die PDS allein, die unsere DDR-Vergangenheit zu verantworten hat. Auch meine Partei muss sie verantworten. Wir alle müssen sie verantworten. Es waren immer nur ganz wenige, die etwa bei Wahlen wagten, Gegenstimmen abzugeben oder der Wahl fernzubleiben. Jeder frage sich selbst, ob er immer alles richtig gemacht und welche Lehren er zu ziehen hat. Es sind nicht immer die Mutigen von einst, die heute am lautesten die Bestrafung anderer fordern.

Wir alle wissen, dass unser Neuanfang schwierig ist. Ihn leicht zunehmen wäre leichtfertig. Unsere Gesellschaft wurde gezwungen, 40 Jahre lang von der Substanz zu leben, nicht nur materiell. Wir haben Schäden auf vielen Gebieten und einen großen Nachholbedarf. Und oft sind die Schäden derart, dass der Weg zu ihrer Heilung erst noch ausgearbeitet werden muss.

In dieser Situation sind fortwirkendes Misstrauen, Verdrossenheit und Ermattung vieler Mitbürger nur zu verständlich. Aber unverantwortlich ist es, jetzt Angst vor den Maßnahmen zu verbreiten, die zur Behebung der Schäden notwendig sind. Wir haben es nicht mit Problemen zu tun, die erst jetzt entstehen, sondern mit alten, verdeckten Wunden der Gesellschaft, die jetzt offengelegt werden müssen, damit sie heilen können.

Dazu gehören auch Struktur und Wirkungsweise der ehemaligen Staatssicherheit. Dazu gehört, dass sich betroffene Menschen aussprechen dürfen. Es hilft nicht die Veröffentlichung der Verstrickung einzelner, bei denen man kaum sagen kann, wieweit sie Opfer oder Täter waren.

Wir haben in diesen Wochen zu spüren bekommen, wie sich die junge Demokratie von neuem in dem Spinnennetz der ehemaligen Staatssicherheit verfing. Wir werden eine Regierungskommission einsetzen, die die Aufklärung und Auflösung der gesamten Organisation des Ministeriums für Staatssicherheit bzw. des Amtes für Nationale Sicherheit betreibt. Diese Kommission wird dafür sorgen, dass die verdienstvolle Arbeit der Bürgerkomitees einen rechtsstaatlich geordneten Abschluss findet. Die Bewältigung der Stasi-Vergangenheit verlangt die unbedingte Beachtung der Rechtsstaatlichkeit. Um den Bürgern in Zukunft vor Bespitzelung zu schützen, werden wir ein umfassendes Datenschutzgesetz vorlegen. In Deutschland darf es nie wieder eine zentrale Stelle geben, die unkontrolliert Informationen über das Privatleben und das Denken der Bürger sammelt.

Verehrte Anwesende!

Wir sind dabei, uns die Demokratie zu erarbeiten. Niemand möge Innehalten und Überlegen mit Entschlusslosigkeit verwechseln. In dieser Situation, nach drei Wochen eine große Koalition zu haben, ist eine Leistung, für die ich allen beteiligten Fraktionen danke. Und versichere allen, wir werden uns auch in Zukunft Zeit zum verantwortlichen Nachdenken nehmen. Das wird uns helfen, den notwendigen Grundkonsens der Nation nicht durch sachlich unbegründete Zwietracht der Parteien zu zerstören.

Wir müssen alles tun, diesen Geist zu bewahren und uns unserer Freiheit würdig zu erweisen.

Damit nehmen wir das demokratische Erbe Deutschland auf, 58 Jahre unterschiedlicher Diktaturen dürfen uns den Blick darauf nicht verstellen. Im Bauernkrieg, in den Befreiungskriegen, in der Revolution von 1848/49, in der Novemberrevolution von 1918, in den Ereignissen vom 20. Juli 1944 und im Volksaufstand des 17. Juni 1953 - immer gab es den brennenden Willen zur Demokratie, und immer wurde er in Blut oder in Resignation erstickt.

Heute dagegen stehen wir in der geschichtlichen Situation, dass unser demokratisches Aufbegehren ausgelöst wurde und aufgenommen wird von einer den Kontinent durchziehenden Bewegung zu Demokratie, Frieden und internationalem Ausgleich.

Machen wir uns bewusst, welcher Fortschritt bei uns bereits erreicht wurde vom November 1989 bis zum April 1990, und tun wir das Unsrige, dass diese Bewegung nicht an den Grenzen Europas halt macht, sondern das in letzter Stunde eine überlebensfähige Welt entsteht.

Nach Jahrzehnten der Unfreiheit und der Diktatur wollen wir Freiheit und Demokratie unter der Herrschaft des Rechts gestalten. Dazu brauchen wir einen prinzipiellen Ansatz.

Nicht die Staatssicherheit war die eigentliche Krankheit der DDR, sie war nur eine ihrer Auswüchse. Die eigentliche Erbkrankheit der sozialistischen Gesellschaft war der diktatorische Zentralismus, der aus stalinistischer Verblendung an die Stelle der Demokratie, an die Stelle der Selbstbestimmung der Menschen gesetzt worden war. Dieser Zentralismus war es, der eine alles gesellschaftliche Leben vergiftende Atmosphäre des Drucks erzeugte. Zwang und Druck vernichteten Initiativen, Verantwortungsbereitschaft, eigene Überzeugung und machten es zu einer menschlichen Leistung, dem eigenen Gewissen zu folgen.

Deshalb genügt es heute nicht, ein Problem aufzugreifen, sondern wir müssen viel tiefer ansetzen. Wir müssen uns unsere seelischen Schäden bewusst machen, die sich in Hass, Unduldsamkeit, in neuem, nun antisozialistischem Opportunismus, in Müdigkeit und Verzweiflung äußern. Wir müssen uns gegenseitig helfen, freie Menschen zu werden.

Die Qualität unseres Weges wird an der Bewahrung von Grundwerten der Gesellschaft zu messen sein.

Es geht um vier Dinge:

- die Freiheit des Andersdenkenden,

- Gerechtigkeit für alle,

- Frieden als Gestaltungsaufgabe nach innen und außen,

- Verantwortung für das Leben in allen seinen Gestalten.

Diese Werte zeigen die Richtung die ich - und ich denke, wir alle - einschlagen wollen.

Dabei geben wir uns nicht der Illusion hin, dass diese neue Ordnung der Freiheit, der Demokratie und des Rechts eine mühelos zu bewältigende Aufgabe wäre. Wir geben uns nicht der Illusion hin, dass diese neue Ordnung und der Übergang zu ihr keine politisch-ethischen Qualitäten mehr benötigten. Im Gegenteil!

Dort, wo wir uns an Bevormundung und Passivität gewöhnt hatten, werden wir gesellschaftlich erwachsen werden müssen. Selbstbestimmt und aktiv. Das gilt für jeden Bürger, das gilt auch für das Parlament und die Regierung und für das gesamte gesellschaftliche Leben.

Und wir geben uns nicht der Illusion hin, dass Moral und Recht identisch wären, dass wir mit Hilfe des Rechts Moral erzwingen könnten.

Hier halte ich es mit Hölderlins Hyperion:

"Du räumst dem Staate denn doch zuviel Gewalt ein.

Er darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann.

Was aber die Liebe gibt und der Geist, das läßt sich nicht erzwingen.

Das lass´ er unangetastet, oder man nehme sein Gesetz und schlag´ es an den Pranger!

Beim Himmel! der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will.

Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der

Mensch zu seinem Himmel machen wollte."

Wahrlich ein aktuelles Wort über unsere jüngste Vergangenheit! In diesem Sinne ist unser Umbruch Teil eines revolutionären Erneuerungsprozesses in Osteuropa, der zugleich ein gesamteuropäischer und ein Weltprozess ist.

Manche mögen meinen, dass er letztlich konterrevolutionär sei. Nach dieser 70jährigen Entwicklung des realen Sozialismus ist aber das "Konter", das "Gegen", eine Naturnotwendigkeit. Wer Sozialismus faktisch mit brutaler Parteidiktatur, Entmündigung der Gesellschaft, Staatseigentum an den Produktionsmitteln und mit zentralistischem Plandirigismus gleichsetzte, wer glaubte, mit solchen Mitteln eine gerechtere Gesellschaft schaffen zu können, der hat sich so gründlich geirrt, dass hier nur ein entschiedenes "Kontra" möglich ist.

Wer aber glaubt, damit müssten wir uns auch von dem Ideal der sozialen Gerechtigkeit, der internationalen Solidarität, der Hilfe für die Menschen in der eigenen Gesellschaft und in der ganzen Welt verabschieden, der irrt sich genauso.

Wir betrachten die von uns angestrebte Form der Marktwirtschaft ohnehin nicht als Selbstzweck, sondern wir sehen in ihr eine natürliche, international bewährte, effektive Wirtschaftsform, die zugleich die Chance bietet, unseren moralischen Verpflichtungen in der eigenen Gesellschaft und in der Welt endlich in dem notwendigen Maße nachkommen zu können.

Wir wollen arbeiten, leben und wohnen in einer ökologisch verpflichteten sozialen Marktwirtschaft. Wir werden sie in Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik und er EG jetzt Schritt für Schritt entwickeln. In den nächsten acht bis zehn Wochen wollen wir die Grundlagen für die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion legen, damit diese vor der Sommerpause in Kraft treten kann. Dabei ist 1:1 der grundlegende Kurs. Dazu gehört die Sicherung der Eigentumsrechte aus der Bodenreform und aus Eigentumsübertragungen, die nach Treu und Glauben rechtens waren und daher auch rechtens bleiben müssen.

Dazu gehört, dass vor der Währungsumstellung die Aufwendungen für die bisherigen Subventionen differenziert den Löhnen und Renten zugeschlagen werden. Erst dann können die Preise und Mieten mit der Entwicklung der Einkommen schrittweise f reigegeben werden. Eine unserer wichtigsten Verpflichtungen gegenüber dem eigenen Volk und gegenüber der Menschheit ist die Gewährleistung einer lebenswerten und lebensfähigen Umwelt. Wir können unser Defizit auf diesem Gebiet nicht von heute auf morgen beseitigen. Aber mit Hilfe der Bundesrepublik werden wir ein durchdachtes und finanzierbares Umweltschutzprogramm in Gang setzen, das die vorhandenen Arbeitsplätze schont und neue Arbeitsplätze schafft.

Die dritte Dimension dieser Lebensqualität neben der sozialökonomischen und der ökologischen ist das geistige Leben. Bildung, Kultur und Medien sollen Ausdruck unserer Freiheit sein. Ihre Vielgestaltigkeit, ihre Pluralität werden ein Stück unseres gesellschaftlichen Reichtums sein. Aufgabe der Regierung wie des Parlaments ist es, über diesen Reichtum zu wachen und neuerlichen Deformierungen entgegenzuwirken.

Der Wählerauftrag, dem die Regierung verpflichtet ist, fordert die Herstellung der Einheit Deutschlands in einem ungeteilten, friedlichen Europa. Diese Forderung enthält Bedingungen hinsichtlich Tempo und Qualität. Die Einheit muss so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig, so zukunftsfähig sein wie nötig.

Die Diskussion um die Währungsumstellung 1:1 oder 1:2 haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, dass hier ein Zusammenhang besteht und dass wir Bedingungen vereinbaren müssen, die sichern, dass die DDR-Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden.

Beide Anliegen, Tempo und Qualität, lassen sich am besten gewährleisten, wenn wir die Einheit über einen vertraglich zu vereinbarenden Weg gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes verwirklichen. Seit dem Sommer des vorigen Jahres haben wir viel schöne Zeichen der Freundschaft, der Hilfsbereitschaft und der Offenheit der Bundesbürger erlebt. Aber wir sehen mit Sorge auch Tendenzen schwindender Bereitschaft, abzugeben und solidarisch zu sein.

Daher eine herzliche Bitte an die Bürger der Bundesrepublik. Bedenken Sie, wir haben 40 Jahre die schwerere Last der deutschen Geschichte tragen müssen. Die DDR erhielt bekanntlich keine Marshall-Plan-Unterstützung, sonder sie musste Reparationsleistungen erbringen. Wir erwarten von ihnen keine Opfer. Wir erwarten Gemeinsamkeit und Solidarität. Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden.

Wir werden hart und gut arbeiten, aber wir brauchen auch weiterhin ihre Sympathie und Solidarität, so wie wir sie im letzten Herbst spürten.

Wir werden gefragt: Haben wir gar nichts einzubringen in die deutsche Einheit? Und wir antworten: Doch, wir haben!

Wir bringen ein unser Land und unsere Menschen, wir bringen geschaffene Werte und unseren Fleiß ein, unsere Ausbildung und unsere Improvisationsgabe. Not macht erfinderisch.

Wir bringen die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ein, die wir mit den Ländern Osteuropas gemeinsam haben.

Wir bringen ein unsere Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, für Solidarität und Toleranz. In der DDR gab es eine Erziehung gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, auch wenn sie in der Praxis wenig geübt werden konnte. Wir dürfen und wollen Ausländerfeindlichkeit keinen Raum geben.

Wir bringen unsere bitteren und stolzen Erfahrungen an der Schwelle zwischen Anpassung und Widerstand ein. Wir bringen unsere Identität ein und unsere Würde.

Unsere Identität, das ist unsere Geschichte und Kultur, unser Versagen und unsere Leistung, unsere Ideale und unsere Leiden.

Unsere Würde, das ist unsere Freiheit und unser Menschenrecht auf Selbstbestimmung.

Aber es geht nicht nur um die letzten 40 Jahre. In Deutschland ist viel Geschichte aufzuarbeiten, vor allem die, die wir mehr den anderen zugeschoben und daher zu wenig auf uns selber bezogen haben. Aber wer den positiven Besitzstand der deutschen Geschichte für sich reklamiert, der muss auch zu ihren Schulden stehen, unabhängig davon, wann er geboren und selbst aktiv handelnd in diese Geschichte eingetreten ist.

Deutschland ist unser Erbe an geschichtlicher Leistung und geschichtlicher Schuld. Wenn wir uns zu Deutschland bekennen, bekennen wir uns zu diesem doppelten Erbe.

Doch wir bleiben bei Deutschland nicht stehen. Es geht um Europa: Wir kennen die aktuelle Schwäche der DDR. Aber wir wissen auch: Sie ist ein in seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten nicht armes Land.

Die eigentlichen Probleme in unserer Welt - wir wissen es alle - sind nicht die deutsch-deutschen oder die Ost-West Probleme. Die eigentlichen Probleme bestehen in der strukturellen Ungerechtigkeit zwischen Nord und Süd.

Wenn daraus nicht eine tödliche Bedrohung für das Leben der Menschen erwachsen soll, haben auch wir uns an der Überwindung dieser Ungerechtigkeit zu beteiligen. Die Errichtung einer gerechteren internationalen Wirtschaftsordnung ist nicht nur Sache der Großmächte oder der UNO, sondern ist die Aufgabe jedes Mitglieds der Völkergemeinschaft.

Auch das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern in unserem Land kann ein Beitrag zu einer neuen Qualität des Miteinanders verschiedener Völker sein. Die Klärung der Rechtslage für ausländische Mitbürger und die Einsetzung von Ausländerbeauftragten auf verschiedenen Ebenen wird dafür ebenso nötig sein wie die Förderung solcher Initiativen, die kulturelle Vielfalt als Reichtum erfahren lassen. Die Befreiung Nelson Mandelas und die Aufhebung der Apartheid in Südafrika, das Schicksal der tropischen Regenwälder und die Hilfe für die Dritte Welt bewegen uns wie unsere eigenen Probleme - ja, nicht nur "wie...." - Es sind unsere eigenen Probleme. Wir wissen, unsere Fähigkeit, die eigenen Probleme zu lösen, hängt davon ab, wie wir bereit sind, auch die Probleme der anderen zu sehen.

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