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Eine Revolution ohne Führungsfigur

Zur aktuellen Lage in Tunesien

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Die Protestbewegung in Tunesien hat bisher keine Führungsfiguren hervorgebracht. Doch jetzt in der Übergangsphase seien Persönlichkeiten nötig, die die Bevölkerung repräsentieren und von ihr akzeptiert werden, sagt der Tunesien-Experte Thomas Schiller von der Konrad-Adenauer-Stiftung im tagesschau.de-Interview. Zu den respektierten Akteuren im Machtkampf zähle die Armee.

Herr Schiller, für wie groß halten Sie die Chance, dass die Übergangsregierung von der Bevölkerung akzeptiert wird?

Es gibt hier die Befürchtung, dass die Übergangsregierung Schwierigkeiten haben wird, ihre Autorität durchzusetzen. Die meisten Tunesier, mit denen wir hier sprechen, wollen von den alten Vertretern des Systems nichts mehr wissen. Es ist aber natürlich völlig unrealistisch zu erwarten, dass sich alles sofort auflöst. Denn dann wäre gar nichts mehr da. Es wäre jetzt wirklich wichtig, dass eine Regierung entsteht, die einen Übergang moderieren kann. Erst einmal geht es darum, die Stabilität und Ordnung wieder herzustellen. Ohne die wird es schwierig, einen wirklichen Systemwechsel zu organisieren.

Ist es richtig, dass die Protestbewegung keine Führungspersönlichkeiten hat und ist das nicht in dieser Phase des Übergangs ein Problem?

Es gibt es in der Tat keine Führungsfiguren. Ein Großteil der Koordinierung fand via Internet, Handy und spontan durch direkte Kontakte in den Vierteln und Straßen statt. Die Proteste gegen Ben Ali wurden nicht von klar strukturierten Bewegungen getragen. Deshalb fehlen momentan Personen, die von der breiten Bevölkerung unterstützt werden. Es gibt Oppositionspolitiker wie Nejib Chebbi von der Partei PDP, die unter Ben Ali arbeiten konnten, aber die sind nicht so repräsentativ für die Tunesier. Es fehlt jetzt an einer gut organisierten und strukturierten Opposition mit einer breiten Basis. Dieses Machtvakuum könnte verhindern, dass stabile Verhältnisse entstehen, die Voraussetzung für einen geordneten Übergang zu Demokratie wären.

Der Leiter des Teams Afrika und Naher Osten der Konrad-Adenauer-Stiftung, Dr. Hardy Ostry, sieht keine Gefahr eines Dominoeffekts im Maghreb. Trotzdem sei die Entwicklung in Tunesien ein Warnschuss für alle Regime der Region mit politischen Reformen Ernst zu machen, sagte Ostry den ARD-tagesthemen.
Gegenüber dem Mittagsjournal des ORF schloss Ostry die Möglichkeit einer „Sharia-Zone“ am Mittelmeer aus, da die Islamisten nicht Triebfeder der Revolution in Tunesien gewesen seien. Die Mehrheit der Tunesier, die eher säkular geprägt sei, „will das nicht und lehnt das ab“, so Ostry.

Armee genießt Respekt der Bevölkerung

Den Bildern und Berichten aus Tunesien nach zu urteilen, gibt es auf den Straßen Machtkämpfe zwischen Volksmilizen, Präsidentengarde, Armee und Polizei.

Ich möchte die Arbeit der Volksmilizen hervorheben, also der Leute, die sich selbst organisieren, um ihre Viertel zu sichern. Nach allen mir vorliegenden Berichten läuft das teils sehr diszipliniert ab. Es werden Koordinierungskomitees gebildet, die für die Überwachung und den Schutz der jeweiligen Viertel sorgen.

Die tunesische Armee ist recht klein und kann nicht überall sein. Von allen Sicherheitskräften wird sie aber am meisten respektiert. In vielen Vierteln wurde die Armee auch bejubelt. Sie greift auch gegen die anderen noch aktiven Sicherheitskräfte ein, die Ben Alis Leute nach wie vor unterstützen. Man sagt, das ist die Präsidialgarde oder Elemente von Ben Alis Spezialpolizei, die hier immer noch Unruhe stiftet. Die Polizei arbeitet zum Teil mit dem Militär zusammen. Aber das ist im Moment schwer überprüfbar.

Der Machtapparat bröckelte

War einer der Gründe für die Revolution im scheinbar so stabilen Tunesien, dass es im Führungsapparat Risse gab?

Noch haben wir keine genauen Informationen, aber es kristallisiert sich heraus, dass es zum Höhepunkt der Proteste einen deutlichen Dissens gab zwischen Ben Ali und seinen letzten Getreuen einerseits sowie anderen Teilen des Regimes andererseits und da auch der Armeeführung. Die Armeeführung soll sich geweigert haben, die Truppen gegen die Demonstranten einzusetzen. Genaueres wissen wir vielleicht erst in einigen Tagen oder Wochen.

Keinerlei Ventil für Unmut

Welche Gründe gab es noch?

Es kommt hinzu, dass Tunesien über einen sehr perfektionierten Sicherheits- und Überwachungsapparat verfügte. Genau das war vielleicht auch der Auslöser der Proteste. In Algerien zum Beispiel ist die Presse durchaus kritisch gegenüber der eigenen Staatsführung. Auch in anderen arabischen Staaten gibt es hier und da mal ein Ventil. Das gab es aber in Tunesien überhaupt nicht.

Eine Problem in einem Regime mit dem perfektionierten Überwachungsstaat ist auch, dass es keinerlei Möglichkeit mehr zur Kommunikation mit der eigenen Bevölkerung hat außer durch Repression. Deshalb konzentrierten sich die Proteste am Ende auf die Forderung nach der Abschaffung des Systems.

Zudem hat das Regime seine Legitimation auf die sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften gegründet. Als die Tunesier feststellen mussten, dass es auch in diesem Bereich wieder rückwärts ging, brach diese Legitimation wie ein Kartenhaus zusammen. Hinzu kommt, dass die Tunesier die Familie der Präsidentengattin als höchst korrupte Umgebung von Ben Ali wahrgenommen haben, während sie selber von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung abgekoppelt wurden. Das alles zusammen hat die sozialen Proteste in einen Aufstand gegen das Regime gewandelt.

Ein Bollwerk gegen den Islamismus?

Haben die EU und im Besonderen Frankreich nicht zu sehr auf Stabilität in Tunesien durch die Führung Ben Alis gesetzt?

So sehen das viele Tunesier. In ihren Augen wurde Ben Ali jahrelang vom Westen akzeptiert, weil er sein Regime als das Bollwerk gegen den Islamismus darstellte. Während der Proteste am Freitag vor dem Innenministerium haben mich zum Beispiel viele Tunesier gefragt, ob ich denn hier auch nur einen Islamisten sehen würde. "Ihr Europäer glaubt doch immer, Ben Ali sei das Bollwerk gegen den Islamismus", wurde mir vorgehalten. Von Frankreich waren viele enttäuscht. Sie hätten sich angesichts der sprachlichen, historischen und persönlichen Verbindungen über die Immigration nach Frankreich eine deutlichere Parteinahme zugunsten der Demonstranten erhofft.

Die Äußerungen von US-Außenministerin Hillary Clinton kamen dagegen sehr gut an. Viele nahmen ihre Reaktion so wahr, dass die USA die Proteste und die Forderungen der Demonstranten begrüßten.

Sind Sie eher optimistisch oder pessimistisch, was die Entwicklung in Tunesien angeht?

Wenn es der Übergangsregierung gelingt, Stabilität im Sinne von Ruhe und Ordnung herzustellen, die Plünderungen und die Auseinandersetzungen mit Ben-Ali-Getreuen zu beenden und eine glaubwürdige Perspektive für die nächsten Wochen und Monate aufzuzeigen, dann kann die Revolution einen sehr guten Abschluss finden. Sollte das Machtvakuum bleiben und Perspektiven fehlen, dann kann niemand voraussagen, welche anderen unschöneren politischen Kräfte in dieses Machtvakuum eindringen.

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Kontakt

Thomas Schiller

Thomas Schiller bild

Leiter des Regionalprogramms Sahel

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