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Konfliktlösung durch internationale Akteure

von Peter Bardehle

aus: Eichholzbrief (Zeitschrift zur politischen Bildung) 4/1995

Ist das System kollektiver Sicherheit den heutigen Anforderungen noch gewachsen?

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Die Fragestellung, der dieser Aufsatz nachgeht, basiert auf zwei Überlegungen:

  1. Wir brauchen heute ein System kollektiver Sicherheit.
  2. Wir brauchen morgen ein besseres System kollektiver Sicherheit, als es heute vorhanden ist.
Die zunehmende technische und wirtschaftliche Vernetzung der Staaten wie der Individuen in den vergangenen hundert Jahren hat neue Bedürfnisse und Interessen geschaffen. Der Umgang der Staaten miteinander hat sich gewandelt. Das Völkerrecht entfaltet eine Eigendynamik, die der Königsberger Philosoph Immanuel Kant in seiner Schrift "Vom Ewigen Frieden" vorgeträumt hat. Und dennoch scheint trotz der Vielzahl von Gremien, die sich unter dem Banner des Völkerrechts international um Konfliktlösung bemühen, die Zahl der Konflikte weiter zuzunehmen.

Nur selten gelingt es der Staatengemeinschaft, einen Krieg wie einen Brand zu löschen. Die Feuerwehrgremien haben zwar bestes Gerät im Schuppen, werden aber der Vielzahl der Flammenherde nicht Herr. Die Frage nach den Konfliktlösungspotentialen internationaler Akteure ist die Frage nach der Wirksamkeit internationaler Politik überhaupt, die - anders als nationale Außenpolitik - nicht einem Staat zugerechnet werden kann. Was aber ist internationale Politik? Und wer betreibt sie? Ein großer Außenpolitiker schrieb dazu: "Die internationale Politik ist ein flüssiges Element, das unter Umständen zeitweilig fest wird, aber bei Veränderungen der Atmosphäre in seinen ursprünglichen Aggregatzustand zurückfällt." Diese messerscharfe Analyse stammt aus der Feder eines deutschen Politikers, der das Spiel der Mächte im europäischen Konzert wie kein anderer zu steuern wußte: Otto Fürst von Bismarck.

Sein Glaube an die eigene Sicherheit durch internationale Verträge wurde immer durch einen Grundzweifel angegriffen, der vielen auch heute wieder plausibel erscheint: Nationale Interessen wirken stärker als internationale Abmachungen. Dennoch wurde Bismarck ein Meister im internationalen Politikgeschäft. Wie er auf dem Berliner Kongreß vor gut 100 Jahren bewies, ließen sich die nationalen Interessen der europäischen Mächte durchaus gegeneinander austarieren (balance of power) und sogar miteinander verflechten. Doch blieb für ihn jeder Vertrag nur ein Zweckbündnis auf Zeit, also jederzeit reversibel. Bismarck mißtraute selbst seinen Alliierten.

Kollektive Sicherheit heute

Geradezu revolutionär war demgegenüber die Entwicklung der internationalen Politik angesichts der Katastrophen zweier Weltkriege in diesem Jahrhundert. Erst auf dem apokalyptisch zerstörten Boden konnte ein System wachsen, das Vertrauen statt Mißtrauen forderte und förderte: ein System der kollektiven Sicherheit. Es übertrug die legitimen nationalen Schutzbedürfnisse einem Gemeinschaftsorgan nach dem Prinzip "einer für alle, alle für einen". Jeder Mitgliedsstaat war danach berechtigt und verpflichtet, seine Machtmittel gegen Aggressoren einzusetzen, auch innerhalb der Gemeinschaft (im Gegensatz zu Militärbündnissen). Erstmals festgeschrieben wurde dieses idealistische System in der Satzung des Völkerbunds von 1919 - zu früh, wie sich wenig später herausstellte.

Das Problem dabei war weniger die Berechtigung als vielmehr die Verpflichtung zum Einsatz der nationalen Machtmittel für die Gemeinschaft. Diese Pflicht bedeutet die Abgabe staatlicher Souveränität an das überstaatliche Gemeinschaftsorgan. Wäre sie ernst genommen worden - es hätte wohl keinen Zweiten Weltkrieg gegeben. Doch wieder einmal liefen das Wort der Tat und das Recht der Macht um Jahrzehnte voraus.

Das Problem des Völkerbunds mit der kollektiven Sicherheit besteht auch bei den Vereinten Nationen fort. Einige Friedensforscher wie Ernst-Otto Czempiel halten deshalb die Kollektive Sicherheit für einen Mythos, der erst dann zu einem praktikablen Konzept werden könne, wenn es eine Weltregierung gebe. Das in der UN-Charta, dem Gründungsdokument der Vereinten Nationen, angelegte System kollektiver Sicherheit hält Czempiel für eine Fehlkonstruktion. Die Vereinten Nationen haben in der Charta die am weitesten entwickelte Form eines Systems kollektiver Sicherheit vorgegeben. Es funktionierte bislang aber bestenfalls in Einzelelementen - wie z.B. zeitweise mit dem Waffenembargo gegen die Kriegsparteien in Bosnien. Das System als Ganzes blieb in der Praxis wirkungslos.

Dabei nennt die UN-Charta vom 26.Juni 1945 als erstes Ziel der Organisation in Art.1 Ziff.1, "den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame kollektive Maßnahmen zu treffen". In einem eigenen Kapitel, dem siebten, schreibt die UN-Charta ihr System der kollektiven Sicherheit detailliert fest, inklusive gewaltsamer Sanktionen gegen Aggressoren. Jedes Mitglied der Vereinten Nationen hat auch das Kapitel VII mit den dort niedergeschriebenen Zwangsmaßnahmen anerkannt. Die Reaktionsmöglichkeiten des UN-Sicherheitsrats reichen von einer Drohung bis hin zum Wirtschaftsboykott und zu militärischen Strafaktionen. Art.43 schreibt eine allgemeine Beistandspflicht der UN-Mitglieder vor. Ein Generalstabsausschuß soll den Sicherheitsrat militärisch beraten. Er ist laut UN-Charta "für die strategische Leitung aller dem Sicherheitsrat zur Verfügung gestellten Streitkräfte verantwortlich".

Vorbehalte gegen militärische Fremdbestimmung

Die Wirklichkeit nach 50 Jahren UN-Arbeit sieht freilich anders aus: weder stehen dem Sicherheitsrat heute eigene Truppen zur Verfügung noch hat der Generalstabsausschuß im internationalen Geschäft etwas zu vermelden. Der alle zwei Wochen formal tagende Ausschuß ist der leibhaftige Beweis dafür, daß internationale Organe allein noch keine Politik machen können. Nur wenn alle Großmächte wirksame UN-Organe wollen, wird den Gremien Leben eingehaucht. Im Falle des Generalstabsausschusses ist unklar, ob er jemals zum Leben erwachen wird. Vor allem die USA wehren sich gegen die militärische Fremdbestimmung internationaler Zwangsmaßnahmen. Wenn schon internationale Militärsanktionen, dann wird es als Gebot der Vernunft gesehen, daß man als Supermacht die operationelle Kontrolle nicht in fremde Hände legt.

Dreimal führten die USA bisher mit Billigung des UN-Sicherheitsrats eine Kriegsmacht an, allesamt in historisch unterschiedlichen Ausnahmesituationen: 1950 in Korea, 1990 im Irak und 1993 im kleineren Rahmen in Somalia. Die Autorisierung der sogenannten "kollektiven Selbstverteidigung" durch den UN-Sicherheitsrat nach einem bewaffneten Angriff ist der bisher machtvollste Einsatz kollektiver Strukturen im Bereich der Vereinten Nationen. Die Stärke dieses Ansatzes basiert darauf, daß es hierzu keine Verpflichtung, sondern nur einen Rechtsanspruch gibt. Der Typus derartiger Interventionen erinnert also eher an die Machtpolitik der Bismarck-Zeit - mit einem grundlegenden Unterschied: der völkerrechtlichen Autorisierung durch die Staatengemeinschaft, vertreten durch den UN-Sicherheitsrat. Der Erfolgsfaktor der internationalen Politik im 20.Jahrhundert ist - allen Tagesmeldungen zum Trotz- der Konsens aller beteiligten Staaten.

Erfolgsfaktor Konsens?

Während die Zwangsartikel der UN-Charta trotz allfälliger Notwendigkeit in den zurückliegenden Jahrzehnten kaum zum Einsatz kamen, wuchs ein anderer Ast zu einem tragenden Stamm heran, der prinzipiell auf Konsens beruht: die sogenannte friedliche Streitbeilegung, die in der UN-Charta nicht konkret geregelt ist. So enthält die Charta kein Wort über das peace-keeping, also den Einsatz von Militärbeobachtern oder UN-Friedenstruppen. Andererseits kamen diese Instrumente mehr als 30 Mal seit Gründung der Vereinten Nationen zum Einsatz - nur selten mit vollem, aber fast immer mit teilweisem Erfolg, ein typisches Ergebnis für konsensgestützte Politik, die vom Kompromiß lebt. Entscheidend ist, daß es einen Kompromiß gibt, der die Gemeinschaft der Staaten und die Individuen in einem Staat weiterbringt.

Nicht die gewaltsame Durchsetzung ihres Völkerrechts, sondern die helfenden Dienste als unparteiischer Dritter halten das UN-System derzeit am Leben - immer unter dem Vorbehalt der Freiwilligkeit. Nach dem Maßstab der Außenpolitik und der Publizistik mag dies vielleicht ein unbefriedigender Befund sein, mit dem Ansatz der internationalen Politik aber durchaus ein erfolgreicher Prozeß. Allein die Entwicklung des UN-peace-keeping mit all seinen Ausprägungen ist ein Meilenstein auf dem weiteren Weg der internationalen Politik. Ziel: die Deeskalation gewaltsamer Konflikte durch Vertrauens-bildung. Offen bleibt, ob die Hoffnung vieler Friedensforscher eines Tages aufgehen kann, daß Sicherheit künftig immer weniger durch Machtstrategien (Konfrontation) als vielmehr durch Vertrauensstrategien (Kooperation) gewährleistet werden kann. Die Folge dieses Ansatzes: Auf eine Souveränitätsverletzung durch einen Aggressor reagiert die Staatengemeinschaft nicht mit Gegenaggression, sondern versucht, den Konflikt zu rationalisieren und Aggressionen abzubauen. Voraussetzung dafür sind ein geeigeneter Mechanismus zur Streitschlichtung sowie der Konsens aller Beteiligten, dieses System in Anspruch zu nehmen.

Die Grenzen dieses Ansatzes erleben wir derzeit im ehemaligen Jugoslawien. Der Krieg in Bosnien mahnt seit einer Vielzahl von Waffenstillständen alle Friedensfreunde, die Wirklichkeit nicht durch ihren Konsensansatz zu verkleistern und sich nicht mit bloßen diplomatischen Kompromissen auf Papier zufrieden zu geben. Ein derartiges Appeasement ist in diesem Jahrhundert schon einmal diskreditiert worden. Hitler konnte allein über Verhand-lungen kein Einhalt geboten werden. Nicht viel anders stellt sich die Lage im ehemaligen Jugoslawien dar. Dort mißbrauchten Provinzdiktatoren immer wieder die auf Frieden hin orientierten Hilfsangebote der internationalen Politik. Anhand dieser Konflikttypen wird deutlich, daß das internationale System und die es tragenden Großmächte weiterhin in bestimmten Situationen keine geeigneten Instrumente einsetzen können, auch wenn diese rechtlich vorhanden sein mögen. Nach Art.51 der UN-Charta wäre es völkerrechtlich zulässig, daß die USA oder Frankreich nach Aufhebung des Waffenembargos durch den Sicherheitsrat eine Aktion kollektiver Selbstverteidigung zugunsten der Muslime in Bosnien organisierten, denn diese mußten einen bewaffneten Angriff erdulden. Mögliches Vorbild der Kollektivoperation: die Verteidigung und Rückeroberung Kuwaits 1990. Unter Umständen könnte der Sicherheitsrat eine derartige Operation autorisieren, etwa bei flagranter Verletzung der Menschenrechte. Washington würde sich auf das mit einer massiven Invasion verbundene Risiko aber nur einlassen, wenn seine vitalen nationalen Interessen berührt wären. Da die bosnischen Muslime nicht über Ölquellen verfügen und auch kein Mediendruck für eine begrenzte Operation wie in Somalia besteht, entwickelten die USA vor allem diplomatische Initiativen.

Alibimandat der Schutzzonen

Für die europäischen Großmächte ist die Situation noch komplizierter. Weder Frankreich noch Großbritannien und schon gar nicht Deutschland würden alleine den Muslimen militärisch zu Hilfe kommen, auch wenn der Sicherheitsrat ihnen die Ermächtigung erteilen würde. Und eine westeuropäische Allianz, angeführt von Frankreich, scheiterte bisher aufgrund nationaler Vorbehalte. Andererseits konnten die Europäer auch nicht untätig bleiben. So wurde das unlösbar erscheinende Problem schon sehr früh an die UN abgetreten. Der Sicherheitsrat verfügte in seiner Hilflosigkeit ein Waffenembargo gegen alle Seiten und stellte entgegen der Empfehlung der Fachleute im UN-Sekretariat die Friedensoperation UNPROFOR mit ihrem unrealistischen Alibimandat der Schutzzonen auf. Schon die euphemistische Bezeichnung "UN Schutztruppe" diente wohl eher der momentanen Beruhigung kritischer Geister als der Definition eines erfüllbaren Auftrags.

Das Risiko, daß ein derart weitgehender Einsatz am fehlenden Konsens der Beteiligten scheitern würde, war noch höher als 1978 beim Einsatz der weitgehend erfolglosen UNIFIL im Südlibanon. Trotz aller Defizite bleibt, ähnlich wie bei der UNIFIL, ein zweifacher Erfolg der UNPROFOR zu konstatieren:

  • Breite humanitäre Hilfe: ohne UNPROFOR wären viele Menschen verhungert oder an Krankheiten gestorben. Vertreibungen und Eroberungen wären brutaler abgelaufen.
  • Internationale Präsenz bei den Aggressoren: über die UNPROFOR haben der Sicherheitsrat und damit alle Großmächte genaue Kenntnis über die Lage im Kriegsgebiet. Eine isolierte Operation wie der Terror der Roten Khmer in Kambodscha ist auszuschließen. Der Konflikt kann auf das gegenwärtige Territorium begrenzt werden. Anders als 1914 nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger werden sich aufgrund der allen Seiten zugänglichen, möglichst unparteiischen Information keine nationalen Bedrohungsperzeptionen entwickeln.
Der Vergleich mit der Situation in Sarajevo vor 81 Jahren zeigt, daß heute eine qualifizierte internationale Politik betrieben wird, die kollektive Strukturen nutzt und kollektives Konfliktmanagement betreibt. Die Akteure sind wie damals die Großmächte, die dem eigenen militärischen Engagement allerdings eine andere Bedeutung beimessen als damals. Statt im Rahmen konfrontativer Allianzen wird allgemein der Rahmen kooperativer Instrumente wie z.B. das UN-peace-keeping gesucht, mit dem Nachteil, daß Entscheidungen immer die Handschrift des Kompromisses tragen und der kleinste gemeinsame Nenner der Mandate oft genug als Alibiveranstaltung empfunden wird. Andererseits darf der Prozeßcharakter derartiger Politik nicht unterschätzt und schon gar nicht mit den Maßstäben nationaler Außenpolitik gemessen werden. Erst mit dem Abstand von zehn oder 20 Jahren können Meilensteine internationaler Politik wie die Evolution des peace-keeping richtig erkannt und gewürdigt werden.

Zukunft der kollektiven Sicherheit

Im Juni 95 feierten die Vereinten Nationen den 50sten Jahrestag ihrer Gründung. Nach den Worten des UN-Generalsekretärs Butros Butros-Ghali ist dieser Zeitschnitt ein "defining moment" für die nächsten 50 Jahre UN-Arbeit. Einige Definitionen für die Zukunft hat er in seinem programmatischen Antrittsbericht "Agenda for Peace" 1992 selbst vorgelegt. So erbat er die Zustimmung der UN-Mitglieder zu einer "Rapid Deployment Capacity", also ein festes Truppenkontingent als internationale Krisenfeuerwehr. Ob damit nur spezielle Blauhelme-Kontingente gemeint sind, wie sie die skandinavischem Staaten seit Jahren vorhalten oder eine zum Kämpfen bereite Truppe, ließ Butros-Ghali bewußt offen. Der Unterschied ist beträchtlich: einen Kampfauftrag haben die Vereinten Nationen bisher nie wahrgenommen. Entsprechende Sonderabkommen, wie im Art.43 der UN-Charta vorgesehen, haben jüngst zwar ein paar kleine Mitgliedsstaaten wie Jordanien mit dem UN-Sicherheitsrat abgeschlossen. Zum Kämpfen für das Völkerrecht taugen sie aber nicht - hierfür braucht der UN-Sicherheitsrat die Großmächte.

Aber was tun, wenn UN-Blauhelme immer wieder trotz ihres unparteiischen Anspruchs in feindliches Feuer geraten und gegen ihren Willen zu Konfliktbeteiligten werden. Sie brauchen in solchen Fällen stärkere Waffen und die Erlaubnis, ihr Mandat damit zu verteidigen - oder müssen abgezogen werden. Der Verzicht auf riskante Mandate wie das der UNPROFOR liegt aber nicht in der Entscheidungskompetenz des UN-Generalsekretärs. Buchstäblich entscheidend sind hier die Großmächte, die den Sicherheitsrat nicht selten zur Durchsetzung ihrer nationalen Interessen benutzen.

Brauchen die Vereinten Nationen also neue Instrumente? Oder ist für die Staaten gar nach Völkerbund und UN eine neue internationale Organisation notwendig, wie es Maurice Bertrand propagierte? Sir Brian Urquhart, langjähriger UN-Kenner, hält dagegen, daß die Vereinten Nationen erst jetzt langsam so arbeiteten, wie es die Gründungsväter vor 50 Jahren vorgesehen hätten. Für die Zukunft fordert Urquhart eine 5000 Mann starke Freiwilligenarmee, die ausschließlich und unmittelbar den Vereinten Nationen unterstellt ist und präventiv zum Einsatz kommen soll. Doch wer soll diese Armee bezahlen? Das gesamte Zentralbudget der UN ist gerade mal so groß wie das der New Yorker Feuerwehr. Ganz abgesehen von den politischen Vorbehalten der meisten UN-Mitgliedsstaaten.

Auch künftige werden also wesentliche Teile der UN-Charta tote Buchstaben bleiben, vor allem im Kapitel VII, das die internationalen Zwangsmaßnahmen bei Bruch oder Bedrohung des Weltfriedens regelt. Damit ist das kollektiven Sicherheitssystem nicht vollkommen und nur teilweise funktionsfähig. Reform täte not. Aber wie schon Voltaire feststellte, ist nichts so dauerhaft wie das Provisorium.

Dies böte eine neue Sicht auf den Bismarck-Ausspruch vom Anfang: Wenn es wirklich nur wenige Momente der internationalen Politik gibt, an denen die Chemie zwischen den Staaten funktioniert und eine internationale Reaktion zuläßt, so gilt es, diese Reaktion immer wieder zu versuchen, ohne an den gescheiterten Versuchen zu verzweifeln.

Neue Aufgabenfelder

Im Jubiläumsjahr haben Reformpropheten Konjunktur. Mehrere Beratergremien haben Berichte und Empfehlungen zur Zukunft der Vereinten Nationen verfaßt. Einem davon gehört der frühere Präsident der Bundesbank, Karl Otto Pöhl, an. Er schrieb schon 1993 für die Ford Foundation einen Bericht, in dem die nationalen Aufwendungen für UN-peace-keeping mit denen der nationalen Verteidigung verglichen wurden: "Im Schnitt investieren die Nationen pro 1000 Dollar, die sie in ihre Streitkräfte stecken, nur 1.40 Dollar in das peace-keeping." Immer noch ein krasses Mißverhältnis, obwohl nationale Streitkräfte in vielen Staaten keine klare Bedrohungsperspektive mehr haben und sich das Verständnis von Sicherheit wandelt. Über die nationale, militärische Verteidigungsfähigkeit hinaus schieben sich neue Bedrohungsperzeptionen ins Blickfeld - wirtschaftliche, ökologische, demographische, kulturelle.

Friedenssicherung hat eine weit über das traditionelle Verständnis kollektiver Sicherheit hinausgehende Bedeutung erhalten. Neue Aufgabenfelder sind etwa die kollektive Bekämpfung des internationalen Drogenhandels oder der Proliferation von Massenvernich-tungswaffen. Auch die internationale Einhegung regionaler Konflikte ist zum nationalen Sicherheits-Interesse geworden, Beispiel Jugoslawien.

Noch stehen hierzu den internationalen Gremien ungenügende Ressourcen bereit. Dies hat vor allem mit dem klassischen Souveränitätsanspruch der Nationalstaaten zu tun. Einerseits erkennen die Staaten, daß internationale Probleme international gelöst werden müssen, andererseits wollen sie die Mittel dazu weiterhin selbst in der Hand halten und nur im Konsens entscheiden. Dies macht das Konsensprinzip mehr denn je zum entscheidenden Rahmen internationaler Politik, die mehr denn je zu regeln hat.

Trotz der Defizite des UN-Systems kollektiver Sicherheit werden wir mit diesem System leben müssen, denn es ist das beste, das wir derzeit haben. Es wird selten, aber immer wieder aus praktischer Notwendigkeit heraus neue Instrumente für internationales Krisenmanagement entwickeln. Große Reformen des UN-Systems oder gar eine UNO neuen Typs sind nicht zu erwarten. Eine bessere, dritte Weltorganisation nach Völkerbund und UNO hätte wohl erst nach einem dritten Weltkrieg eine Chance auf Realisierung. Diesen Schock mögen uns die Vereinten Nationen ersparen.

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Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

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Sankt Augustin Deutschland