Länderberichte

Autopilot oder kleine Korrekturen

von Dr. Kristin Wesemann, Daniel Schlierenzauer, Anna Raith

Uruguay hat gewählt - und sich noch nicht entschieden: Es gibt eine Stichwahl um die Präsidentschaft der Regierung

Noch am späten Montagnachmittag des 29. Oktobers war offen, ob die regierende Frente Amplio ihre absolute Mehrheit im Parlament verteidigen kann. Zweimal wurden alle Stimmen gezählt. Dann stand fest: Das Parlament bleibt in der Hand des Linksbündnisses. Sein Kandidat, der Sozialist Tabaré Vázquez, hat mit 47,9 Prozent zwar die meisten Stimmen für das Präsidentenamt erhalten, muss aber gegen Luis Lacalle Pou in die Stichwahl. Die Volksabstimmung zur Senkung der Strafmündigkeit ist gescheitert.

Um Politik kümmern sich in Uruguay traditionell ältere Herrschaften. José Mujica, genannt „El Pepe“, Jahrgang 1935, hat als Präsident seit 2010 auch den Obersten Weisen des Landes gegeben. Der einstige Guerillero und gelernte Gärtner ließ die Bürger mit Fotos an seinem Leben teilhaben, er spendete fast sein ganzes Gehalt, wohnte weiter in seiner kleinen Datsche, kochte Wasser für den Mate in einem verbeulten Teekessel und lief dabei in Pantoffeln und abgetragenen Hosen herum. Ruhig, nachdenklich, bescheiden – da wurden sogar die stolzen Nachbarn in Argentinien neidisch, die ja in Cristina Kirchner eher den Antitypus an die Spitze des Staates gewählt haben.

Nun durfte zwar Mujica nicht noch einmal antreten, aber sein Bündnis, die linksliberale Frente Amplio (Breite Front), setzt trotzdem auf Kontinuität und schickte einen Mann ins Rennen, der schon einmal Präsident gewesen ist und überdies nur fünf Jahre jünger als der Noch-Amtsinhaber. Tabaré Vázquez regierte von 2005 bis 2010 die „Östliche Republik am Río de la Plata“, wie Uruguay offiziell heißt, und wird im Januar seinen 75. Geburtstag feiern. Den ersten Wahlgang am Sonntag hat der Sozialist erwartungsgemäß mit 47,9 Prozent gewonnen – vor dem Konservativen Luis Alberto Lacalle Pou vom Partido Nacional („Nationale Partei“) und Pedro Bordaberry, vom Partido Colorado („Die Roten“), die 30,9 und 12,9 Prozent erreichten. Aber dass Vázquez auch nach der Stichwahl in einem Monat vorn liegen wird, ist keineswegs sicher.

Denn es könnten neue Zeiten anbrechen, zumindest, wenn es um Äußerlichkeiten geht. Der Rechtsanwalt Lacalle Pou ist gerade einmal 41 Jahre alt, hat drei Kinder im schulpflichtigen Alter, und er trägt die Haare gern länger. Er wäre für uruguayische, ja selbst für südamerikanische Verhältnisse ein extrem junger Staatschef. Politische Tradition bringt er freilich qua Geburt mit: Sein Vater Luis Alberto Lacalle hat das Land von 1990 bis 1995 regiert und dann 2004 gegen Vázquez verloren. Einen politischen Umbruch hat der Sohn selbst ausgeschlossen. Er verzichtet auf harte Angriffe, er lobt sogar das Erreichte und will den gemäßigten Kurs Mujicas fortsetzen, verspricht allerdings weniger Staat und mehr Effizienz.

Das könnte sich auszahlen, zumal es eine Wechselstimmung ohnehin nicht gibt. Uruguays Bruttoinlandsprodukt ist in den vergangenen vier Jahren im Schnitt um gut fünf Prozent gewachsen. Die Arbeitslosigkeit erreicht mit sechs Prozent einen historischen Tiefstand. Die Armutsquote, die 2006 noch bei 34 Prozent lag, beträgt heute 11,5. Die Ratingagenturen stuften das Land im vergangenen Jahr hoch, es lässt sich demnach gut und sicher investieren in Uruguay. Nur noch sechs Prozent sind Umfragen zufolge unzufrieden mit ihrer wirtschaftlichen Situation. Überdies erfährt das Land für seine Gesellschaftspolitik international Anerkennung. Mujica hat die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert (und den Marihuana-Konsum), er bot sogar syrischen Flüchtlingen Asyl an und wertete sein Land damit auf: Man ist nicht mehr nur mit sich selbst beschäftigt, sondern kann es sich inzwischen leisten, als Problemlöser in Krisen aufzutreten.

Uruguays linker Regierung ist vorerst gelungen, was die vielen anderen Linken auf dem Kontinent nicht schaffen: eine Politik aus marktfreundlichen Reformen und sozialstaatlichen Zügen, die weitgehend ohne populistische Elemente auskommt. Ganz ohne Risiko ist diese Politik freilich nicht. Dass sich Mujica für die Entkriminalisierung von Abtreibungen eingesetzt hat, missfiel sogar vielen seiner Anhänger. Er unterzeichnete das Gesetz – anders als sein Vorgänger Vázquez – trotzdem. Seit zwei Jahren ist der Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche erlaubt. Viele andere Länder auf dem Kontinent räumen dieses Recht bisher nur in Ausnahmefällen ein, etwa Opfern einer Vergewaltigung.

Gesprächsstoff und Polemik hatte in den vergangenen Wochen und Monaten vor allem Pedro Bordaberry geliefert, der Drittplatzierte der Sonntagswahl. In einem Wahlkampfspot erklärte er, die Uruguayer müssten sich nicht zwischen Programmen, Ideologien oder auch Personen entscheiden, sondern zwischen drei Schuhen: einem alten Pantoffel, einem lädierten Turnschuh und einem handgenähten Stück Budapester, natürlich frisch geputzt und auf Hochglanz poliert. Darin sah sich der Colorado-Kandidat den Präsidentensitz an der Plaza Independencia betreten; mit den bis ins Groteske reichenden Einfachheitsgesten von „El Pepe“ sollte Schluss sein. Auch Bordaberry ist ein prominenter Sohn. Sein Vater Juan María Bordaberry hatte das Land zunächst als gewähltes Oberhaupt (1972/73) und nach dem Staatsstreich vom 27. Juni 1973 als Diktator regiert.

Der elegante und charismatische Vázquez, von Hause aus ein auf Onkologie spezialisierter Mediziner, war nicht nur Präsident, sondern auch Bürgermeister der Hauptstadt Montevideo (1990-1994). Den Präsidentenpalast verließ er 2010 mit einer Zustimmungsrate von mehr als 60 Prozent. Nun, vier Jahre später, ist er zurück. Bei der Vorwahl setzte er sich als Kandidat eines Bündnisses von 40 Linksparteien, darunter Kommunisten und sogar Christdemokraten, durch.

Bei der Stichwahl am 30. November wird sich zeigen, ob es Lacalle Pou gelingt, die anderen Oppositionsstimmen zu gewinnen. Ihm hatten Bordaberrys Kampagnenmacher übrigens den abgewetzten Turnschuh zugedacht. Dabei ist er in so genannten besseren Verhältnissen aufgewachsen, auch in Uruguay spricht man da von Oberschicht oder Oligarchie, mit Hauspersonal und Privatschule als kleinstem gemeinsamen Nenner. Volksnähe und eine gewisse Hemdsärmeligkeit – unverzichtbare Eigenschaften am Río de la Plata – bringt er trotzdem mit. Er hat sich in seiner Partei gegen einen Traditionspolitiker, Jorge Larrañaga durchgesetzt – und diesen dann sogleich zu seinem Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten ernannt. Lacalle Pou weiß, dass ihm Männer wie Larrañaga, die viele Jahre ihres Lebens der Politik gewidmet haben, helfen, seine große Schwäche zu verdecken: die Unerfahrenheit. Am Río de la Plata, wo Erwachsene noch mit 35 statistisch als „jóvenes“ (Jugendliche) eingestuft werden, steht ein 41-jähriger Kandidat zwangsläufig unter Unreifeverdacht. Ironie der Geschichte: Schon sein Vater hatte 2004 bei seinem zweiten, diesmal erfolglosen Versuch, in den Präsidentenpalast einzuziehen, auf Larrañaga als Vize gesetzt.

Plebiszit – Ein Hauch Populismus

Lacalle jun. und Larrañaga waren in den eigenen Reihen aneinandergeraten, als sich der Jüngere dafür aussprach, die Strafmündigkeit bei schweren Straftaten von 18 auf 16 Jahre herabzusetzen. Auch dieses Thema stand am Sonntag zur Entscheidung. In einem Plebiszit sprachen sich 53 Prozent der Wähler gegen die Senkung aus. Umfragen hatten gezeigt, dass eine Verschärfung bei zwei Altersgruppen besonders beliebt war: bei den älteren Uruguayern und den jungen. Der größte Widerstand kam aus der Generation der Eltern. Das Plebiszit war vor allem ein Projekt der Colorados. Ihr Kandidat Bordaberry warf der Regierung immer wieder eine zu weiche Rechtspolitik vor. Diese Kritik ist bis heute nicht verstummt; Kriminalität war eines der wichtigsten im Wahlkampf.

Dabei hat Uruguay die niedrigste Verbrechensrate des Kontinents. 2013 zählte das Land 260 Tote als Folge einer Straftat und 17.000 Überfälle; nach Angaben des Innenministeriums wird alle 30 Minuten ein Raub und alle 30 Stunden ein Mord begangen. Das sind geringe Zahlen im Vergleich zum Rest des Kontinents. Doch in der „Schweiz von Südamerika“, wie das kleine und beschauliche Land gern genannt wird, ist die Wahrnehmung eine andere. Nirgends, außer in Venezuela, wo Morde allerdings tatsächlich zum Alltag gehören, ist die Angst vor Kriminalität höher.

Meinungsforscher wie Oscar Bottinelli liefern eine mögliche Erklärung. Das Thema beschäftige die Uruguayer seit sieben, acht Jahren, und zwar seitdem ihre Sorgen um das Einkommen oder den Arbeitsplatz verschwunden seien. Nun sei ihre wirtschaftliche Situation zwar gut, aber die Unsicherheit verschlechtere die Lebensqualität.

Lacalle Pou hatte das Plebiszit unterstützt, aber zurückhaltend und nüchtern. Dies war in den parteiinternen Wahlen noch anders gewesen. Da sprach sich Larrañaga gegen die Reform aus, sein Rivale Lacalle Pou hingegen sah in ihr „den Weg“ , um Straftaten zu senken, und gewann die internen Wahlen. Er stand zugleich an die Seite des Volkes, es schien zumindest so zu sein. Die Forderungen nach einem schärferen Strafrecht sind über die Jahre – 2011 waren noch 65 Prozent dafür – allerdings leiser geworden. Und das Plebiszit selbst verlor als Wahlkampfthema an Bedeutung – wohl auch wegen der Kritik der Vereinten Nationen und ihres Kinderhilfswerks Unicef. Die Vertretung in Montevideo mahnte, die Gesetzesreform verstoße gegen das Abkommen zum Schutz des Kindes und somit gegen die Menschenrechte. Wenngleich das Plebiszit gescheitert ist, Lacalle Pou dürfte es genutzt haben: Er konnte sich als Kümmerer profilieren.

Premiere im Parlament

Wer zukünftig das Amt des Präsidenten bekleiden wird, steht zwar noch nicht fest. Allerdings hat die linke Koalition seine absolute Mehrheit im Parlament verteidigt. Das Regieren bleibt also recht einfach, sollte die FA auch wieder den Präsidenten stellen. Ein Staatsoberhaupt Lacalle Pou hätte es da schwerer. Auf jeden Fall aber werde es „parlamentarischer“ zugehen, sagt der Meinungsforscher Oscar Bottinelli vom Institut Factum. Man werde wieder streiten und das Parlament zum „Zentrum der Verhandlungen“.

Kleines weltoffenes Uruguay

Neben Sicherheit waren Gesundheit und Bildung heiß, oder für lateinamerikanische Verhältnisse lauwarm, diskutierte Themen des Wahlkampfs. Sowohl Vázquez als auch Lacalle Pou sind sich einig, dass in beiden Bereichen Reformen nötig seien. Als Innenminister hat Vázquez verpasst, hier wichtige Schritte einzuleiten. Im PISA-Test 2012 erreichte Uruguay das schlechteste Ergebnis in zehn Jahren und landete – welch ein Schock für diese stolze Kulturnation – nur auf Platz 56 (von 65). Trotzdem gibt sich Vázquez positiv: „Vamos bien“ (Es läuft gut) lautete das Motto seines Wahlkampfs. Nur: Die Uruguayer sind heute kritischer und wohl auch anspruchsvoller als bei der Wahl Mujicas vor vier Jahren. Der hatte sein Amt unter dem Mantra „Bildung, Bildung, Bildung. Und noch einmal Bildung“ angetreten.

Die Politologin Fernanda Boidi des Latin America Public Opinion Proyect (LAPOP) der US-amerikanischen Vanderbilt University stimmt zu: Das Phänomen des vollen Bauches erkläre längst noch nicht die Wahlabsichten der Bürger. Das „Vamos bien“ von Vázquez klinge allenfalls rückwärtsgewandt. Auch der renommierte uruguayische Meinungsforscher Ignacio Zuasnábar sagt, es reiche den Leuten nicht mehr, beim Regieren einfach auf „Autopilot“ zu schalten.

Dass die linksliberale Koalition Frente Amplio auf Kontinuität setzt, zeigt auch das Team, das Vázquez aufgestellt hat: Es liest sich beinahe wie eine Personalliste aus den Mujica-Jahren. Eine Ausnahme macht der mögliche Vizepräsident Raúl Sendic. Dessen (gleichnamiger) Vater hatte Anfang der sechziger Jahre die kommunistische Guerilla-Bewegung der Tupamaros mitgegründet.

Den internationalen Märkten stehen wahrscheinlich keine Überraschungen bevor, wer auch immer sich am 1. März 2015 als 35. Präsident vereidigen lässt. Auch der einheimische Ökonom Javier de Haedo geht davon aus, dass der marktfreundliche Kurs fortgesetzt werde. „Je kleiner eine Wirtschaft ist, desto offener muss sie sein.“ Um die makroökonomischen Probleme der kommenden Jahre zu meistern – sinkendes Wachstum, Verfall der Rohstoffpreise und wirtschaftlicher Abschwung der wichtigsten Handelspartner Argentinien und Brasilien –, müsse jedoch die aktuelle Wachstumsstrategie überdacht werden. Lacalle Pou sucht eine Lösung im Abbau lokaler Abhängigkeiten und in der Zuwendung zu neuen Handelspartnern außerhalb des Mercosur. Er will Uruguay näher an die USA, die Europäische Union und Freihandelszone zwischen Chile, Mexiko, Peru und Kolumbien (Pazifikallianz) rücken. Er meint das wirtschafts- und zugleich außenpolitisch. Vázquez indes will auf die altbekannten Mercosur-Partner setzen und die Zusammenarbeit mit dem regionalen Bündnis weiter ausbauen. Die aktuell vom Westen und Asien so umschwärmte Pazifikallianz erwähnt sein Wahlprogramm mit keinem Wort.

Die Beziehungen zu den beiden riesigen Nachbarn könnten unterschiedlicher kaum sein. Uruguay ist entnervt von den Eskapaden Argentiniens. Ob in Diplomaten- oder Straßenjargon: An der derzeitigen Regierung auf der anderen Seite des Río de la Plata ließ keiner der Kandidaten ein gutes Wort. Und die Wähler sehen es genauso, 70 Prozent haben Argentinien abgeschrieben und meinen, „das Land könne man vergessen“. Der Wirtschaftswissenschaftler Gabriel Oddone begründet dies so: Buenos Aires habe sich in den vergangenen zehn Jahren von der restlichen Welt abgekoppelt, auch von Uruguay. Habe der kleine Nachbar vor 15 Jahren noch zehn Prozent seiner Güter in den Süden verkauft, so seien es heute kam mehr fünf Prozent.

Mit Brasilien stehen die Verhältnisse anders: Uruguay erwartet geradezu Führungsstärke. Zwar ist Brasilien für die „Östliche Republik“ nicht das Maß aller politischen und vor allem wirtschaftlichen Dinge. Allerdings glaubt Montevideo, dass sich im Fahrtwind von Brasilia viele Probleme besser lösen ließen, vor allem das Freihandelsabkommen zwischen Mercosur und Europäischer Union, das Argentinien schon so lange blockiert. Man schaue auf die Nachbarn, weil sie Uruguays Volkswirtschaft beeinflussen, sagt der Ökonom de Haedo: Aber Uruguay sei viel zu klein, um sich auf zwei Länder zu beschränken.

Mitarbeit: Laura Englert

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