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Wende oder Kontinuität? Der Beginn der Ära Kohl 1982/83

Mit dem nahenden Ablauf dreißigjähriger Aktensperrfristen gerät ein zentrales Thema der deutschen Zeitgeschichte in den Fokus der historischen Forschung. Zur „Ära Kohl im Gespräch“ – Die Wende 1982/83“ hatte daher am 24. November 2011 das Archiv für Christlich-Demokratische Politik in den Bundesrat Bonn geladen. Hanns Jürgen Küsters begrüßte rund 230 Gäste, denen von Wissenschaftlern und Zeitzeugen neue Hintergründe zum ersten erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland präsentiert wurden.

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Die Wende 1982/83 – Strukturen und Personen

Wolfgang Jäger (Universität Freiburg/Breisgau) stellte die spannende Frage, ob für das Auseinanderbrechen der sozialliberalen Koalition das Handeln einzelner Personen verantwortlich gemacht werden muss oder der Wechsel auch Ausdruck struktureller Entwicklungen gewesen ist. Nach der Phase der Erneuerung in den 1970er Jahren habe es Anfang der 1980er Jahre in der SPD/FDP-Koalition weder eine legitimatorische Erneuerung noch neue Ziele gegeben - was das Bild des „Verrats“ Einzelner relativiere. Während die Bundestagswahl 1980 noch vom Gegensatz Schmidt/Strauß geprägt gewesen war, sei die Wahl 1983 dann ein wirklichkeitsgetreues Spiegelbild der neuen politischen Parteienverhältnisse gewesen. Die Wende sei insgesamt mehr Kontinuität als Bruch gewesen, zumal Helmut Kohl auf ähnlich radikale wirtschaftspolitische Maßnahmen wie Margaret Thatcher oder Ronald Reagan verzichtet habe.

Die CSU und der Regierungswechsel

Mit der Rolle der CSU zu Beginn der Ära Kohl befasste sich Matthias Stickler (Universität Würzburg). Er hob hervor, dass die CSU unter ihrem damaligen Vorsitzenden Franz Josef Strauß nicht der homogene Block gewesen ist, als der sie nach außen erschien. So sei Strauß’ Position nach der verlorenen Bundestagswahl 1980 geschwächt gewesen. Anders als Strauß, der in der FDP stets auch den politischen Gegner sah, habe Kohl in den Zeiten der Opposition die Brücken zur FDP nicht ganz abgerissen. Im Zusammenspiel mit dem CSU-Landesgruppenchef Friedrich Zimmermann habe das 1982 dann den Koalitionswechsel erleichtert.

Aus der ersten Reihe – Zeitzeugen berichteten

Anschließend entwickelte sich eine rege Diskussion zwischen den prominenten Zeitzeugen. Norbert Blüm zweifelte die von den Wissenschaftlern vermuteten langfristigen Strategien an. „Manches, was nachträglich als Plan erschien, war höchst umstritten.“ Über den 1. Oktober 1982 hinaus blickte Friedrich Bohl: Bis zur Bundestagswahl am 6. März 1983 war es „kein Schachspiel, bei dem man wusste, was der nächste Zug ist.“ Auch Dorothee Wilms bilanzierte: Die Unwägbarkeiten reichten zurück bis in die Jahre 1976 und 1980, als die Union über ihre Kanzlerkandidaten entschied: 1976 setzte sich Helmut Kohl durch, 1980 gewann Franz Josef Strauß gegen Ernst Albrecht. „Es war ein offenes Spiel, und wir alle waren gespannt, wie es ausgehen wird.“ Trotz aller Spannungen zwischen Kohl und Strauß sei das Verhältnis innerhalb der CDU/CSU-Fraktion durchaus freundschaftlich gewesen, betonte Philipp Jenninger.

Christian Schwarz-Schilling sah die Stärken Helmut Kohls in seiner integrativen Kraft, die CDU als Volkspartei zu präsentieren, und in seiner langfristigen Reformstrategie. So begann er bereits in den 1970er Jahren – beispielsweise durch die Arbeit der CDU-Grundsatzkommission – moderne Gedanken in der Partei zu verankern, die später in der Regierung umgesetzt wurden. Nach einem ideologisch geprägten Jahrzehnt sei damit wieder Normalisierung eingetreten.

Von einer Wende sprachen alle Zeitzeugen, nicht im moralisch überhöhten Sinne, aber doch in der Sozialpolitik (Blüm), in der Kultur und Bildung (Wilms) sowie in der Konsolidierung der Staatsfinanzen und Telekommunikation (Schwarz-Schilling). „Es war ein neuer Akzent, der frischen Wind in die Gesellschaft brachte“, so Wilms. Die Leistung des Einzelnen zählte wieder.

Aus Partnern werden Gegner – FDP und SPD

Joachim Scholtyseck (Universität Bonn) nannte ein ganzes Ursachenbündel für die Spaltung der sozialliberalen Koalition: die steigende Neuverschuldung, den NATO-Doppelbeschluss und die drohende Wahlniederlage bei der Bundestagswahl 1984. Das im Auftrag von Helmut Schmidt verfasste Papier zur Überwindung der Wachstumsschwäche und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von Bundesminister Otto Graf Lambsdorff sei am Ende lediglich der Anlass für den Bruch gewesen. „Das Tischtuch war damit zerschnitten“. Aus Sicht der FDP galt es, die Attacken der SPD abzuwehren und den Verdacht des Verrats nicht mit in die nächsten Wahlen zu nehmen. Zehn Tage nach dem Rücktritt der FDP-Minister flog die FDP allerdings aus dem Hessischen Landtag – doch Helmut Kohl stand fest an der Seite des zukünftigen Partners. Er verhinderte Pläne von schnellen Bundestagswahlen noch Ende 1982. Die FDP hatte Zeit, sich neu aufzustellen.

Hartmut Soell (Universität Heidelberg) sah hinter dem Bruch vor allem strukturelle Veränderungen, keine persönlichen Gegnerschaften. Bei seiner Analyse der Bonner Wende ging er verstärkt auf die außenpolitische Dimension ein. Aus der Perspektive Schmidts schilderte er den NATO-Doppelbeschluss, der den Sozialdemokraten zum Getriebenen der eigenen Partei werden ließ. Die Zeremonienmeister des Wechsels seien dann Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher gewesen.

Fragen und Forschungsperspektiven

Hans-Peter Schwarz (Universität Bonn) suchte nach einem passenden Begriff für die 1982 beginnende sechzehnjährige Zusammenarbeit der Union und der FDP. Weder das von Helmut Kohl favorisierte Schlagwort „Koalition der Mitte“ noch die Bezeichnung „schwarz-gelb“ oder die Mischung „christlich-liberal“ hätten sich durchgesetzt. Das Stichwort, so Schwarz, laute kurz und knapp: Die Ära Kohl.

Diese Ära nun anhand der zugänglichen Quellen zu erforschen sah Hanns Jürgen Küsters als zentrale Aufgabe der nächsten Jahre. Forschungsdesiderate seien 1. eine intensive Zeitgeistanalyse, 2. die Entwicklung des Parteiensystems, 3. die Betrachtung einzelner Politikbereiche, 4. die Sicherheits- und Verteidigungspolitik, das Verhältnis zu Bündnispartnern und Gegnern des Kalten Krieges sowie die Europäische Integration und 5. der Regierungsstil Helmut Kohls, sein Austarieren der Kräfte.

Ulrike Hospes und Tim Peters

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Dr. Michael Borchard

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Leiter Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik

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Sankt Augustin Deutschland