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Der sozialethische Beitrag Joseph Ratzingers

von Prof. Dr. Markus Krienke
Prof. Markus Krienke stellt die sozialethischen Reflexionen Joseph Ratzingers in seiner Sozialenzyklika Caritas in veritate als auch in seinen Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Philosophen wie Jürgen Habermas und Marcello Pera vor. Er spürt die „Pathologien der Vernunft“ aus der Sicht des Papstes auf, arbeitet den unverzichtbaren vorpolitischen Beitrag des Christentums heraus und zeigt, wie sich Papst Benedikt unermüdlich gegen ein nutzenkalkulierendes, vom Egoismus getriebenes Menschenbild stellt.

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Der sozialethische Beitrag Joseph Ratzingers besteht aus einer Reihe gezielter Reflexionen, die darauf hinzielen, die katholische Soziallehre im Kontext der aktuellen sozialethischen Herausforderung der Globalisierung neu zu denken. Diese Beiträge bilden dann auch die unabdingbare Voraussetzung für ein theologisch-sozialethisch vertieftes Verständnis der jüngsten Sozialenzyklika Caritas in veritate (2009) sowie den Hintergrund der sozialethischen Botschaften und Stellungnahmen des Papstes Benedikt XVI. Im Folgenden sollen die wichtigsten Etappen dieses Reflexionsweges kurz vorgestellt werden und ein abschließender Blick auf die Sozialenzyklika geworfen werden.

Die zentrale Frage, die wie ein roter Faden die genannten Dokumente durchzieht, kann man folgendermaßen formulieren: ‚Welchen vorpolitischen Beitrag leistet der christliche Glaube zur freiheitlich-säkularen Grundordnung?‘ Damit sind drei Aspekte formuliert: (1) Der Beitrag des Glaubens ist, wenn überhaupt, ‚vorpolitisch‘, d.h. er respektiert die Eigenständigkeit der politischen Vernunft: Die Politik begründet sich auf die Vernunft, nicht auf den Glauben, Staat und Kirche sind getrennt. (2) Doch lebt „der weltanschaulich neutrale Staat von Voraussetzungen, die er nicht garantieren kann“1. Ratzinger greift dieses Böckenfördesche Axiom auf, um anzuzeigen, dass die freiheitlich-säkulare Grundordnung einer gesellschaftlichen Basis bedarf, ohne die sie auch mit den besten Regeln nicht funktioniert. Diese gesellschaftliche Basis ist die gelebte Solidarität unter den Bürgern, ihr ziviles und demokratisches Engagement, ihre grundsätzliche Respektierung der Regeln des Zusammenlebens. (3) Der christliche Glaube leistet genau diesen Beitrag: Er fördert nicht nur die gesellschaftliche Solidarität, sondern erzieht auch zu demokratischem Engagement und respektiert die säkulare Neutralität des Staates. Nach Ratzinger sind christlicher Glaube und politische Vernunft daher kompatibel.

1. Der Beitrag Ratzingers zur Münchener Debatte 2004

Der zentrale sozialethische Beitrag Ratzingers ist sicherlich seine Entgegnung auf Habermas während der ‚Großdebatte‘ im Januar 2004 in München. Ratzinger stimmt Habermas zu, wenn es darum geht, den „Pathologien in der Religion“, d. h. politisierter Religion in Form religiösen Fanatismus und Fundamentalismus, aber auch als Vereinnahmung der Politik durch die Religion, mit der Vernunft zu begegnen. Hierin würdigt er das Verdienst des freiheitlich-säkularen Staates, der in einem durch die Religionskriege gezeichneten Europa zu Beginn der Moderne durch die Rechtsordnung ein friedliches Zusammenleben nach Regeln ermöglichte. Die Legitimität des modernen Verfassungsstaates begründet sich mithin aus der menschlichen Vernunft, nicht aus Religion. Damit wurde, so Ratzinger, die „Religion“ durch die Vernunft von ihren Pathologien „gereinigt“. Gleichzeitig wurde aber auch die Religion weitgehend in den Privatbereich verdrängt und es entstand der Eindruck, als leiste die Religion in Gesellschaft und Staat keinen öffentlichen Beitrag. Als Erbe dieser Entwicklung kann die aktuelle Tendenz der Verdrängung der christlichen Vergangenheit des Kontinents und seiner Prägung durch christliche Werte angesehen werden.

Vor diesem Hintergrund kritisiert Ratzinger die Konzeption Habermas’ eines alleinigen Vorrechts der „politischen Vernunft“ im öffentlichen Raum. Zwar gesteht Habermas den religiösen Gemeinschaften eine fundamentale Bedeutung in der Gesellschaft zu, doch nur, insofern ihre Glaubensinhalte rational einsichtig, d. h. in Vernunft „übersetzbar“, seien. Und dies könne auch anders nicht sein, wenn der Glaube die säkular-vernünftige Legitimität des Staates anerkennen müsse. Doch Ratzinger vermisst bei Habermas einen Aspekt des Glaubens, den dieser als „religiös unmusikalischer“ Denker (wie er sich einmal selbst bezeichnete) nicht berücksichtigte: Der Glaube besteht nicht nur aus spezifischen „Wahrheiten“, sondern hat für Ratzinger im Verhältnis zur Vernunft eine bestimmte Autorität. Diese komme vor allem dann zum Tragen, wenn die Vernunft – wie insbesondere im 20. Jahrhundert zu beobachten gewesen sei – ihrer Aufgabe, ein menschenwürdiges und friedliches Zusammenleben zu ermöglichen, nicht mehr erfüllt. Ratzinger verweist diesbezüglich auf die Fälle der Atombombe und der Menschenzüchtung bzw. -selektion, aber auch auf die aktuelle „Bedrohung des Menschen“ durch das biotechnische Experimentieren 2. Hier versagen eben die ethischen Instrumente der Vernunft, welche klassisch das Naturrecht und gegenwärtig die Menschenrechte sind 3.

Vor diesem Hintergrund seien es nicht allein die „Pathologien in der Religion“, welchen die Sozialethik begegnen müsse. Diese Aufgabe, welche ihr aus der europäischen Moderne zugewachsen sei, sei nunmehr, im Zeitalter der Globalisierung, durch die Auseinandersetzung mit den „Pathologien der Vernunft“ zu ergänzen. Diesbezüglich – auf der Ebene der Vernunft, nicht der Politik – komme dem Glauben eine wesentliche Korrekturfunktion zu. Es bedürfe, insgesamt gesehen, also der „gegenseitigen Reinigung und Heilung“ 4: der Religion durch die Vernunft und der Vernunft durch den Glauben 5.

Dieser Ratzingersche Ansatz der „notwendigen Korrelationalität“ von Vernunft und Glaube scheint auch durch den Aspekt der notwendigen Interkulturalität einer mittlerweile unabdingbar globalen Diskussion geboten: „Tatsache ist jedenfalls, dass unsere säkulare Rationalität, so sehr sie unserer westlich geformten Vernunft einleuchtet, auf Grenzen stößt“ 6. Es kann m. a. W. nicht darum gehen, die weltweite Ordnung allein von einem durch die europäische Moderne bestimmten Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anzugehen, also ausgehend von der Idee, dass es die säkulare Vernunft alleine sei, welche die gesellschaftliche Ordnung begründe. Dagegen müsse diese Vernunft wieder lernen, neu auf den Glauben in seinen vielfältigen Formen bzw. auf die unterschiedlichen Kulturen zu hören und die jeweiligen Inhalte nicht lediglich „übersetzend“ zu bewerten und damit als beliebige Inhalte in der Reihe der Vernunftgründe zu behandeln, sondern deren Eigenwert und Eigenautorität anzuerkennen. Nicht die säkulare Vernunft sei „de facto“ universal, sondern die Tatsache, dass sie sich auf jenes ‚Andere‘ der Vernunft verwiesen sieht, welches die religiösen Grundüberzeugungen sind.

Eine politische Ordnung in globaler Dimension könne damit nicht eine aus reiner Vernunft deduzierte „Weltformel“ sein, sondern muss sich im Hinhören und in der Aufmerksamkeit auf die verschiedenen, von Glaubensüberzeugungen geprägten Traditionen schrittweise herauskristallisieren.

2. „Veluti si Deus daretur“

Nur vier Monate nach dem Dialog mit Habermas setzt Ratzinger seine Reflexionen in einem weiteren Dialog fort, und zwar mit dem italienischen Senatspräsidenten Marcello Pera 7. Die „Pathologien der Vernunft“, welche hier im Einzelnen wiederholt und ergänzt werden, erscheinen nun als die Verkürzung, ja Destruktion des christlichen Menschenbildes, dessen Würde der Gottebenbildlichkeit durch die „Macht menschlichen Könnens“ 8 verdunkelt worden sei. Nehmen auch die technischen Möglichkeiten der menschlichen Vernunft tagtäglich zu, so erodiert doch immer mehr das Empfinden der Dringlichkeit einer weltweiten öffentlichen Moral. Fehle diese aber, so wandle sich das technische Können schnell in zerstörerisches Potential, wie wir es in allen Belangen der globalen Herausforderung deutlich vor Augen haben.

Um diesem zerstörerischen und den Frieden gefährdenden Potential einer rein technischen Vernunft, welche sich losgelöst von jeder kulturellen Tradition und von religiösen Werten konzipiert, zu begegnen, plädiert Ratzinger, das methodologische Kriterium der politischen Vernunft in der Moderne – das „etsi Deus non daretur“ des Hugo Grotius 9 (man muss die politische Ordnung verfassen „als ob es Gott nicht gäbe“) – im Kontext der Globalisierung umzukehren: „veluti si Deus daretur“. Alles komme darauf an, dass der Mensch seine Würdehaftigkeit wiederentdeckt. Diese liege aber in der transzendenten Dimension seines eigenen Menschseins, weswegen diese zum „methodologischen“, wohlgemerkt nicht „religiösen“ Kriterium der säkularen politischen Ordnung im 21. Jahrhundert werden müsse: Nur so gelinge es, die Unverfügbarkeit des Menschen gegenüber einer technisierten politischen Vernunft zu verteidigen, die nur menschlichem Können und Vermögen vertraut, jeden Transzendenzbezug des Menschen aber ablehnt. Nach Ratzinger ist es aber genau dieser Bezug („als ob es Gott gäbe“), der das Verständnis der unverkürzbaren Würde und der grundlegenden Werte einer jeden weltweiten Ordnung und einer weltweiten öffentlichen Moral generiert. Wenn er deswegen den Vorschlag unterbreitet, „das Axiom der Aufklärer um(zu)kehren“ 10, dann geht es ihm also nicht um eine Rückkehr in eine vormoderne Gesellschaftsordnung, in welcher die Religion unmittelbaren Zugriff auf die Politik hatte, und mithin um die Inversion der Säkularisierung der rechtsstaatlichen Legitimation in der Neuzeit, sondern darum, dass der Allzuständigkeitsanspruch der technischen Vernunft für alle politischen Belange „unterbrochen“ wird. „Unterbrechung“ ist in diesem Sinn für Metz der Inbegriff von Religion im politischen Diskurs 11: Es ist damit die Religion, die verhindert, dass die Vernunft „perfektistisch“ der Utopie verfällt, alle sozialethischen Probleme durch technische Organisation lösen zu können 12, und die grundlegende Bedeutung der menschlichen Würde, wie sie sich aus dem politisch nicht verhandelbaren, sondern stets vorauszusetzenden Transzendenzbezug der menschlichen Person ergibt, in Erinnerung ruft.

In dieser Dimension kommt Europa für Ratzinger eine zentrale Bedeutung zu, da wir es mit jenem Kontinent zu tun haben, der seine religiös-kulturellen Grundlagen im Namen einer säkularisiert-technischen Vernunft ausblendet. Angesichts der neuen Herausforderungen und Problemstellungen sei nicht die Betonung der christlichen Wurzeln und des Gottesbezugs in der Verfassung als das anstößige Problem zu betrachten, sondern der „Zynismus einer säkularistischen Kultur, die ihre eigenen Grundlagen verleugnet“ 13. Im Kontext der Globalisierung sei die Position einer Aufklärung, welche immer noch in der Religion – im „Zusammenstoß der großen Religionen“ – die Quelle des Unfriedens ausmacht, mittlerweile als anachronistisch zu betrachten. Dagegen sei es vielmehr die radikal-säkularistische Kultur, welche durch die Verleugnung ihrer Tradition und ihrer Verankerung in der transzendenten Dimension des Menschen den Frieden aufs Spiel setze.

3. Christentum und Zivilreligion

In einem Brief an Macello Pera reflektiert Ratzinger über die von diesem vorgebrachte, letztlich auch im Hintergrund des Habermasschen Vorschlages stehende Idee der „Zivilreligion“: Genügt es nicht, das Christentum als kulturelle Realität, welche unser Wertesystem fundiert hat, mithin als „nichtkonfessionelle Religion“ anzuerkennen, ohne dass dadurch der Glaubensakt selbst vorausgesetzt werden müsste? Eine solche Konzeption scheint Pera und Habermas einer freiheitlich-säkularen Gesellschaft wesentlich angemessener als die Betonung der Bedeutung des Glaubens selbst für die Gesellschaft. Genügt es m. a. W. für den weltanschaulich neutralen Staat nicht, die kulturelle Bedeutung des Christentums und seiner Werte zu bewahren?

Ratzinger gewinnt diesem Vorschlag nichts ab und betont die grundlegende Bedeutung des „Glaubens“ mit dem Argument: „Lebendiges kann nur von Lebendigem kommen“ 14. Damit unterstreicht er, dass nur von einem gelebten Glauben jener entscheidende Beitrag hervorgehen kann, welcher die Vernunft vor „Pathologien“ bewahrt. Wie im Dialog mit Habermas bereits herausgestellt, ist es ja nicht die abstrakte „Wahrheit“ des Glaubensinhaltes, welche die „Pathologien“ und den perfektistischen „Utopismus“ der technischen Vernunft verhindert, sondern das lebendige Bewusstsein der Bedeutung menschlicher Würde und Gottebenbildlichkeit. Dieses wird aber gesellschaftlich – d. h. vorpolitisch – nur in lebendiger Form wachgehalten: also durch das gelebte Christentum. Wie die Debatte um die Neukommentierung von Art. 1 GG durch Matthias Herdegen gezeigt hat, ist es nicht die abstrakte Formulierung und damit die juristisch-technische Handhabung der Menschenwürde, welche diese letztlich schützt und ihren „Ewigkeitsstatus“ garantiert, sondern das die Gesellschaft auszeichnende Bewusstsein davon.

Dabei ist sich Ratzinger durchaus bewusst, dass es sich in der globalisierten Gesellschaft Europas um Minderheiten handelt, welche in dieser Weise den Glauben lebendig halten. Doch er bezeichnet diese als „lebendige“ bzw. „überzeugte Minderheiten“ 15. Diese in Europa christliche Minderheit überzeugter Christen trägt dann jenes ‚zivilreligiöse‘ vorpolitische Wertefundament, dessen der freiheitlich-säkulare Staat notwendigerweise bedarf. Als solche verhelfen die Christen wieder jenen Werteinsichten und vernünftigen vorpolitischen Grundlagen zu gesellschaftlicher Bedeutung, die an sich zwar vernünftig sind, aber von den „Pathologien“ der Vernunft zerstört werden.

Eben dieses Bewusstsein ist es also, welches die freiheitlich-demokratische Grundordnung trägt und vor jeder Form von Despotismus und Terrorismus bewahrt. Hier findet Ratzinger letztlich jene Quelle von gesellschaftlicher Solidarität und zivilem Engagement, die vorpolitisch durch die säkular-freiheitliche Ordnung vorausgesetzt ist. Nicht zufällig zitiert Ratzinger in seinem Brief an Pera das Wort Tocquevills: „Der Despotismus kommt ohne den Glauben aus, die Freiheit nicht“ 16 . Damit thematisiert er die Bedeutung des Glaubens für die Begründung individueller Freiheits- und mithin der Menschenrechte.

4. Die Reflexion Ratzingers über die Menschenrechte

Die Überlegungen Ratzingers über die Bedeutung der universalen Menschenrechte, die er aus Anlass deren 60-jähriger Erklärung am 18. April 2008 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York hielt, greifen genau diese Grundlagenreflexionen auf. In dieser Ansprache betonte er, dass die Menschenrechte nicht von einer technisch-säkularen Vernunft ausgehen, sondern auf einem bestimmten Verständnis der rational einsichtigen menschlichen Natur beruhen. Damit stünden diese eben nicht der (politischen) Vernunft zur Disposition: „Jene Rechte sind auf die transzendente Natur der Person gegründet und ihr nachgebildet“ 17. Die „transzendente Natur“ des Menschen spielt nicht auf einen bestimmten religiösen Glauben an, sondern ist eine universale Aussage, die damit auch für Atheisten Geltu ngsanspruch besitzt: Der Mensch ist in seiner natürlichen (d. h.: ‚vorpolitischen‘), nicht manipulierbaren Würdedimension jeder politischen Verfügung entzogen. Diese universale Würde, die jedem Menschen zukommt, wird durch die Menschenrechte abgesichert.

Würde und Wert des individuellen menschlichen Lebens stehen keiner politischen Vernunft zur Verfügung, sondern gehen dieser voraus. Dies ist der Aussagegehalt der bei Ratzinger immer wiederkehrenden Überlegung, das Menschenrechte wieder neu im Naturrecht begründet werden müssen. „Naturrecht“ bezeichnet hier also die vorpolitische und transzendent verankerte Dimension des Menschen als Grundlage seiner gesellschaftlichen Freiheit.

5. „Naturrecht, Evangelium und Ideologie“

Das Verständnis von „Naturrecht“ muss freilich vor einem biologistischen Missverständnis bewahrt werden: Die „Natur“ des Menschen ist in diesem sozialethischen Zusammenhang vor allem sein dreifacher Bezugskreis zu sich, zu den anderen Menschen und zur Transzendenz, der aller gesellschaftlichen Gestaltbarkeit anthropologisch vorausgeht. Aber nicht nur vor einer biologistischen Reduktion dieser anthropologischen Aussage muss das Naturrecht Ratzinger zufolge bewahrt werden, sondern auch vor einer rationalistischen Fehldeutung.

Es war die Position der Neuscholastik, welche versuchte, allein durch die Vernunft aus dem Begriff der menschlichen Natur konkrete Rechtsnormen abzuleiten. Diese Position führt zwar nicht zum Risiko, „Pathologien“ der politischen Vernunft zu erzeugen, doch gelingt es auch ihr nicht, das konkrete vorpolitische gesellschaftliche Verständnis der menschlichen Würde zu generieren, da sie allein in vernunfttheoretischen Ableitungen verbleibt, die zudem nicht über ihre impliziten kulturellen Voraussetzungen reflektiert. Gegen eine solche Position betonte Ratzinger bereits in einem frühen Aufsatz aus dem Jahr 1964 die Bedeutung der kulturellen Vermittlung des Verständnisses menschlicher Personwürde.18

6. Der sozialethische Ansatz von Caritas in veritate

Damit bewahrt nur die vorpolitische Verankerung menschlicher Personenwürde vor politischem Despotismus bzw. Totalitarismus wie vor allen anderen „Pathologien“ der politischen Vernunft. Dazu leistet der christliche Glaube auf gesellschaftlicher Ebene einen entscheidenden Beitrag.

Nur solidarischem Engagement, demokratischer Beteiligung, intakten familiären Verhältnissen und stabilen gesellschaftlichen Beziehungen gelingt es, die notwendige, politisch-technisch nicht organisierbare Voraussetzung des freiheitlich-säkularen Rechtsstaates hervorzubringen und den perfektistischen Tendenzen der politisch-organisatorischen Rationalität zu wehren. In dem Maß, in dem diese Vorausbedingungen im Prozess der Globalisierung wegbrechen und durch eine politisch-technische Vernunft zerstört werden, realisiert sich, so könnte man resümieren, jene Krise der Freiheit, wie sie unsere gesellschaftlichen Strukturen heute kennzeichnet. Dies ist das Thema der Sozialenzyklika Caritas in veritate: Sie kritisiert eine politische Vernunft, die durch einen Perfektismus an Organisation sucht, soziale Gerechtigkeit herzustellen, dabei aber aus den Augen verliert, dass die „Freiheit“ den Grundwert der Person (Würde) voraussetzt, welcher weder politisch noch durch technische Vernunft vereinnahmt und noch viel weniger hergestellt werden kann.

So wiederholt Ratzinger in der Enzyklika die Systematik der „gegenseitigen Reinigung und Heilung“ von Religion/Glaube und Vernunft aus seinem Beitrag zum Dialog mit Habermas: „Die Vernunft bedarf stets der Reinigung durch den Glauben, und dies gilt auch für die politische Vernunft, die sich nicht für allmächtig halten darf. Die Religion bedarf ihrerseits stets der Reinigung durch die Vernunft, um ihr echtes menschliches Antlitz zu zeigen. Der Abbruch dieses Dialogs ist mit einem schwer lastenden Preis für die Entwicklung der Menschheit verbunden“ 19.

Damit setzt Ratzinger bezüglich der Tradition der katholischen Soziallehre von Rerum novarum (1891) bis Centesimus annus (1991) einen neuen Akzent: Der utopistische, die Freiheit verneindende „Perfektismus“ ist nicht mehr politisch mit dem Sozialismus bzw. Totalitarismus identifiziert, sondern auf die politisch-technische Vernunft als solche ausgeweitet. Dies bedeutet für den sozialethischen Diskurs vor allem, dass die vorpolitischen Ressourcen der freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung nicht länger als gegeben vorausgesetzt, sondern gemäß des Böckefördeschen Axioms problematisiert werden. Im fundamentalen Beitrag des Christentums zur Regeneration dieser Ressourcen wird nun der spezifische Beitrag der Soziallehre erkannt: Denn gegen einen den Menschen in seiner immanent-technischen Vernunft einschränkenden und gesellschaftliche Solidarität desavouierenden Individualismus betone gerade das christliche Menschenbild die Dimensionen von Beziehung und Relation: „Die christliche Offenbarung über die Einheit des Menschengeschlechts setzt eine metaphysische Interpretation des humanum voraus, in dem die Fähigkeit zur Beziehung ein wesentliches Element darstellt“ 20.

In dieser Hinsicht ist das Bestreben des aktuellen Papstes in allen seinen Verlautbarungen deutlich, ein nutzenkalulierendes, den Egoismus als legitime Verhaltensform propagierendes Menschenbild, wie es sich in den nur negativ verstandenen Freiräumen der liberalen Gesellschaft durchgesetzt hat, zurückzudrängen und dagegen ein Menschenbild zu setzen, das Freiheit als Möglichkeitsraum des Menschseins begreift. Diesbezüglich wurde Ratzinger in seiner Ansprache zur Eröffnung der Fastenzeit 2010 deutlich: Die Zersetzung gesellschaftlicher Solidarität beginne bereits in den kleinen Betrügereien und Unwahrheiten des Alltags, nehme aber dann auf politischer und wirtschaftlicher Ebene eine sozialethische Dimension an 21. Dieser Tendenz zum Egoismus und Nutzenkalkül als gesellschaftlichem Maßstab sieht Ratzinger in der Enzyklika auch als Grundproblem der Krise unserer wirtschaftlichen Strukturen: Es sei nicht der Markt als solches, die freie Marktwirtschaft, welche ein egoistisches und ausbeuterisches Handeln hervorrufe („Der Bereich der Wirtschaft ist weder moralisch neutral noch von seinem Wesen her unmenschlich und antisozial“; „Der Markt ist an sich nicht ein Ort der Unterdrückung des Armen durch den Reichen und darf daher auch nicht dazu werden“), sondern das negative Freiheitsverständnis, das sich in unserer Weltgesellschaft durchgesetzt hat. Denn Freundschaft, Gemeinschaft, Solidarität und Gegenseitigkeit seien nicht Umgangsformen, die „neben“ oder „jenseits“ des Marktes realisiert werden müssten, sondern im Markt selbst, sodass „in den geschäftlichen Beziehungen das Prinzip der Unentgeltlichkeit und die Logik des Geschenks als Ausdruck der Brüderlichkeit im normalen wirtschaftlichen Leben Platz haben können und müssen“ 22. Diese „Ethik der Gabe“, wie sie die Enzyklika thematisiert, darf mithin nicht im Sinne einer Ordnungsfrage missverstanden werden, sondern spielt auf die im Marktgeschehen selbst mitlaufenden und sich in ihm realisierenden anthropologischen Dimensionen an. In diesem Sinn betont der Papst, dass die „Logik der Gabe“ nicht dahingehend verstanden werden darf, dass die Logik der Konkurrenz und der freiheitssichernden Institutionen des Marktes auf der Ordnungsebene eingeschränkt werden sollen. Doch entarte diese Logik, wenn sie den Menschen als anthropologisches Grundprinzip allen Handelns, und mithin auch des wirtschaftlichen Handelns, verdrängt.

Damit wird die soziale Bedeutung der christlichen Caritas (d. h. die Caritas in veritate) und mithin die gesellschaftliche Dimension des christlichen Glaubens deutlich: Das Christentum leistet hierin, so Ratzinger, einen notwendigen Beitrag zur Gesellschaft und zur Überwindung der aktuellen Krisensituation. Es befreit die politische Vernunft aus der Verengung in ihren eigenen Perfektismus, der am Grund der gegenwärtigen Krisensituation steht: „Die Überzeugung, sich selbst zu genügen und in der Lage zu sein, das in der Geschichte gegenwärtige Übel allein durch das eigene Handeln überwinden zu können, hat den Menschen dazu verleitet, das Glück und das Heil in immanenten Formen des materiellen Wohlstands und des sozialen Engagements zu sehen“ 23. Die immanentistische Perfektismuslogik wird durch die christliche Caritas aufgesprengt, welche den Menschen daran erinnert, dass das menschliche Leben sich nicht auf politische, wirtschaftliche oder individualistische Logik verengen lässt, sondern auch aus den intuitiven Momenten staunenswerter Erfahrung besteht: „Die Liebe in der Wahrheit stellt den Menschen vor die staunenswerte Erfahrung des Geschenks. Die Unentgeltlichkeit ist in seinem Leben in vielerlei Formen gegenwärtig, die aufgrund einer nur produktivistischen und utilitaristischen Sicht des Daseins jedoch oft nicht erkannt werden“ 24.

7. Schlussreflexion: Rückbindung an die Individualethik und Theologisierung als sozialethische Kernthemen Joseph Ratzingers

Auf wenige synthetische Schlussworte gebracht, besteht die sozialethische Position Joseph Ratzingers und damit auch der Beitrag der jüngsten Sozialenzyklika Caritas in veritate darin, der Herausforderung der Globalisierung und der Krise der Freiheit unserer freiheitlich-säkularen Grundordnung und Ordnungssysteme durch den Hinweis auf den unverzichtbaren vorpolitischen Beitrag des Christentums zu verweisen. Dazu müsse die Sozialethik jedoch stärker als bisher ihr proprium im Menschenbild herausstellen: Dieses bestehe in der Herausstellung der personalen Verantwortungsdimension auf der einen und des Gottesbezuges auf der anderen Seite. Gesellschaftliche Ordnungssysteme haben gewiss eine sozialethische Eigenlogik, funktionieren aber auch nicht selbsttätig (bzw. „perfektistisch“ oder „technizistisch“), sondern bestimmen sich von jener Grunddimension her, welche die menschliche Person ist. Diese sei, so kann man die sozialethischen Stellungnahmen des gegenwärtigen Papstes zusammenfassend interpretieren, zunehmend ausgedünnt und damit der Logik politischer Vernunft unterstellt worden. Dagegen sei es angesichts der Globalisierung und ihrer Krisenphänomene nun an der Zeit, wieder ihre vorpolitische individuelle Verantwortung sowie ihre transzendent begründete Unverfügbarkeit als Grundlage gesellschaftlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit zu betonen.

Quellen und Hinweise

  • 1 E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, 42-64, hier 60.
  • 2 Vgl. J. Ratzinger, Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates, in: J. Habermas / J. Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, hg. von F. Schuller, Freiburg-Basel-Wien 62005, 39-60, hier 47.
  • 3 Vgl. Ratzinger, Was die Welt zusammenhält, 51.
  • 4 Ratzinger, Was die Welt zusammenhält, 57.
  • 5 Dass dadurch kein vollkommenes Entsprechungsverhältnis formuliert ist, da einerseits die „Vernunft“ durch den „Glauben“ gereinigt wird, sie andererseits aber die „Religion“ reinigt, wird von Ratzinger nicht explizit weiter vertieft.
  • 6 Ratzinger, Was die Welt zusammenhält, 55.
  • 7 Vgl. J. Ratzinger, Europa in der Krise der Kulturen, in: M. Pera / J. Ratzinger, Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur, Augsburg 2005, 62-84.
  • 8 Ratzinger, Europa in der Krise, 63.
  • 9 Vgl. H. Grotius, De Iure Belli ac Pacis Libri Tres, Prolegomena, 11, 10.
  • 10 Ratzinger, Europa in der Krise, 82.
  • 11 Vgl. J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 1977, 150.
  • 12 Vgl. zu diesem Begriff A. Rosmini, Philosophie der Politik, hg. von C. Liermann, Innebruck-Wien 1999, 118.
  • 13 Ratzinger, Europa in der Krise, 68.
  • 14 J. Ratzinger, Eine nichtkonfessionelle christliche Religion? Reflexionen im Anschluß an den Vorschlag von Senatspräsident Pera, in: Pera/Ratzinger, Ohne Wurzeln, 116-157, hier 129.
  • 15 Ratzinger, Eine nichtkonfessionelle christliche Religion?, 130.
  • 16 Zit. in: Ratzinger, Eine nichtkonfessionelle christliche Religion?, 118.
  • 17 Benedikt XVI., Ansprache vom 18.04.2008 (Besuch bei der UN-Vollversammlung im Glaspalast), in: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2008/april/documents/hf_ben-xvi_spe_20080418_un-visit_ge.html; 1.02.2011.
  • 18 Vgl. J. Ratzinger, Naturrecht, Evangelium und Ideologie in der katholischen Soziallehre, in: K. v. Bismarck / W. Dirks (Hgg.), Christlicher Glaube und Ideologie, Mainz 1964, 24-30.
  • 19 Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate (CV), 56.
  • 20 CV 55.
  • 21 Vgl. Benedikt XVI., Lectio divina vom 18.02.2010 (Begegnung mit dem Klerus der Diözese Rom), in: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2010/february/documents/hf_ben-xvi_spe_20100218_parroci-roma_ge.html; 1.02.2011.
  • 22 Alle Zitate aus CV 36.
  • 23 CV 34.
  • 24 CV 34.
Prof. Dr. theol.Markus Krienke ist Professor für Christliche Sozialethik und Kirchliche Soziallehre an der Theologischen Fakultät in Lugano und Direktor des Lehrstuhls „Antonio Rosmini“ am Philosophischen Institut derselben Fakultät. Er studierte Philosophie und Theologie in München und Rom. Seit 2009 ist er im wissenschaftlichen Beirat der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rom tätig.

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