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Ein Literaturkanon – wozu?

von Prof. Dr. Michael Braun

Marcel Reich-Ranicki im Wasserwerk-Gespräch der Konrad-Adenauer-Stiftung

Auf der Welt leben Millionen von Menschen, die niemals Goethe oder Shakespeare gelesen haben. Schöner, klüger, reicher aber ist das Leben mit der Literatur. Doch was soll man lesen angesichts der saisonalen Bücherflut, in einer Zeit, in der es, wie ein Hamburger Buchhändler klagte, nichts Schlimmeres gibt, als „drei Tage mit dem falschen Buch zu verbringen“?

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In dieser Situation sind Bestandssicherer und Orientierungshelfer sehr gefragt. Keinen Besseren hätte die Konrad-Adenauer-Stiftung deshalb einladen können als Marcel Reich-Ranicki. Der als „Herr der Bücher“ gerühmte Literatur- und Fernsehkritiker, der mit seiner Frau Teofila nach Bonn gekommen war, stellte in den Wasserwerk-Gesprächen der Stiftung seinen Literaturkanon vor. Weit über 1.000 Zuhörer verfolgten gebannt von den Sitzen des früheren neuen Plenarsaals des Deutschen Bundestages und den Tribünen aus, welche Motive und Gründe Reich-Ranicki für seine Auswahl geltend machte.

Zunächst persönliche, nachzulesen in der Autobiographie „Mein Leben“ (1999), die vor allem ein Buch über Lesen und über Bücher ist. In seiner Jugend litt der 1920 geborene Reich-Ranicki daran, dass es keinen Kanon gab. Zwar suchte seine Lehrerin – ein „deutsches Fräulein namens Laura“ – in der polnischen Volksschule in Wloclawek seine Lesesucht nach Kräften zu fördern; doch die eigene Lektüre war „nicht originell“. Bei seinem Klassenlehrer wurde der Gymnasiast, inzwischen in Berlin, regelmäßig vorstellig, um Titel von neuen Büchern oder Theaterstücken zu erfragen. Der Terror des Nationalsozialismus, der ihn zunächst verschonte, verleidete ihm nicht die deutsche Literatur; im Gegenteil, Reich-Ranicki entdeck-te die Welt der verbannten und vertriebenen Dichter als Gegenwelt. Während der Zeit im Warschauer Ghetto (1938-1943), das er mit seiner Frau Teofila überlebte, las er keinen einzigen Roman, nur Gedichte. Nach dem Krieg fiel ihm auf, dass die Literaturauswahl an den Schulen immer noch stark regional geprägt war: Hölderlin und Mörike, die im süddeutschen Milieu gelesen wurden, waren in preußisch geprägten Norddeutschland, wo man Fontane und Storm vorzog, kaum bekannt.

Dabei konnte es nicht bleiben. Harold Bloom, Literaturprofessor in Yale, hatte sich schon in den neunziger Jahren gegen die Reform der Lehrpläne an amerikanischen Universitäten gewandt und eine alternative Liste von über 1.000 Werken angelegt: „The Western Canon“, ohne den die Menschen aufhören würden zu denken. Deutsche Empfehlungslisten folgten. Jörg-Dieter Gauger, Bildungsexperte der Konrad-Adenauer-Stiftung, schlug vor drei Jahren in einem Thesenpapier zur Stärkung des Deutschunterrichts einen vielbeachteten literarischen Mindestkanon vor.

Marcel Reich-Ranicki wurde 2001 vom „Spiegel“ gebeten, seinen persönlichen Kanon deutscher Dichtung zusammenzustellen. Der „Vorleser der Nation“ (Sieburg), der immer schon belehren, vor allem aber verstanden werden wollte und so zum prominentesten deutschen Literaturkritiker wurde, machte sich an die Arbeit. Von den Kultusministerien der Länder, denen er empfahl, statt der „Blechtrommel“ von Grass lieber seine Novelle „Katz und Maus“ in die Lehrpläne aufzunehmen, weil sie schlicht und einfach kürzer sei, kam keine Antwort. Allein der Insel Verlag reagierte und vereinbarte mit Reich-Ranicki einen Literaturkanon in fünf Teilen, deren Bände jeweils einer Gattung (Roman, Erzählung, Drama, Lyrik, Essay) gewidmet und von denen bislang die ersten beiden erschienen sind.

Nachdem die knifflige Rechtefrage geklärt (erst 70 Jahre nach dem Tode eines Autors werden dessen Werke rechtefrei) und erfreulicherweise die Zustimmung aller beteiligten Verlage eingeholt war, stand ein neues Problem auf der Agenda. Der Kanon sollte käuflich und verkäuf-lich sein, für alle geeignet und nicht zu groß. „Wer will schon mehr als 8 Kilo Bücher aus der Buchhandlung nach Hause tragen?“ fragte Reich-Ranicki und erntete Szenenapplaus.

Bei der Reduktion der ursprünglich geplanten 30 Bände des Roman-Kanons auf 25, dann auf 20 Titel kam es unvermeidlicherweise zu Konflikten und Kompromissen. Ein Kanon soll seit alters her Richtschnur und Maßstab sein, und so setzte Reich-Ranicki ein Kriterium, das so einfach wie überzeugend erscheint. Die ausgewählten Romane müssen dem heutigen Leser verständlich sein, und zwar in der Urfassung. Das bedeutet, dass einerseits der im Original schwer lesbarer, weil stark mundartlich gefärbter Roman „Der Abentheuerliche Simplicissi-mus Teutsch“ (1668) unter den Tisch fällt, andererseits aber die großen Romanciers der deut-schen Literatur, Goethe, Fontane, Thomas Mann, gleich mit zwei Werken vertreten sind.

Dem Kanon-Macher gehe es, wie Reich-Ranicki anmerkte, wie dem Intendanten einer Staatsoper: Jeder Taxifahrer hat bessere Ideen; die Zahl der Besserwisser ist größer als die der Le-ser. Doch ein Kanon ist weit mehr als ein unverbindlicher Vorschlagskatalog; er folgt immer schon Kriterien, seien es die rigorosen der antiken Tragödiendichtung, die nur drei Autoren für unanfechtbar hielt, seien es großzügige wie die des fleißigen Lesers Arno Schmidt, der lebenslang 5.000 Bücher zu verarbeiten empfahl. Für Reich-Ranicki muss ein Roman recht heterogene Tugenden mitbringen, um in den Kanon zu gelangen: Spannung, Kürze, Humanität. Was wiederum bedeutet: Fontanes „Stechlin“ (1899) wird mangels Handlung („Zum Schluß stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich“) ausgegrenzt, Anna Seghers‘ „Das siebte Kreuz“ (1942) ist als vorbildliche Toleranzparabel kanonwürdig.

Am schwierigsten, gestand der Kanon-Macher, falle ihm die Auswahl bei dem jetzt vorzube-reitenden Lyrik-Kanon. Die Beschäftigung mit Gedichten der vergangenen Jahrhunderte sei ein anstrengendes, aber lohnendes Unterfangen. Von Uhlands „schauderhaften“ Balladen schreckt Reich-Ranicki zurück, empfiehlt aber dessen Lied „Ich hatt‘ einen Kameraden“ (1809) als pazifistisches Mustergedicht. Und Schillers berühmtes „Lied von der Glocke“ (1799), das Enzensberger einst seines emphatischen Bildungsanspruch wegen aus einer Schil-ler-Ausgabe (1960) verbannt hatte, will Reich-Ranicki um keinen Preis missen.

Ein begeistertes und begeisterndes, ein ansteckendes Plädoyer für lesenswerte Literatur, wie auch immer der Leser im Einzelfall darüber urteilen mag: Damit warb Marcel Reich-Ranicki, der seinen Vortrag frei hielt, weil er nicht vorlesen, sondern zum Lesen anregen wollte, auch in der anschließenden Diskussion, die von dem Veranstalter Stephan Eisel (Leiter Politische Bildung und Kommunalpolitik, Konrad-Adenauer-Stiftung) geschickt moderiert wurde. Dass der Kritiker mit seinem Kanon nicht dekretieren, sondern diskutieren will, Provokation und Widerspruch eingeschlossen („Bernhard ja, Handke nein“), wurde vom Publikum mit minu-tenlangem Applaus dankbar vermerkt. Mit seiner Liebe zur Literatur will Marcel Reich-Ranickis letztlich vor allem dafür sorgen, die Minderheit der Leser zu vergrößern und Freude zu wecken am Lesen guter Bücher. Und das hat immerhin auch schon Horaz betont.

Links und Literatur:

  • http://www.derkanon.de
  • http://www.dieterwunderlich.de/Reich_Ranicki_kanon.htm
  • http://www.kas.de/publikationen/2001/1473_dokument.html
  • Harold Bloom: The Western Canon. The Books and the School of the Ages. New York 1994.

  • Marcel Reich-Ranicki: „Literatur muss Spaß machen“. Spiegel-Gespräch mit Volker Hage. In: Der Spiegel 25/2001, S. 212-232.
  • Wulf Segebrecht: Was sollen Germanisten lesen? 2. überarb. Aufl. Berlin 2000.
  • Eine CD-ROM mit dem Vortrag von MRR kann beim nächsten Wasserwerk-Gespräch (am 3.10.04 mit Dr. Joachim Gauck) gegen einen Unkostenbeitrag erworben werden.

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Sankt Augustin Deutschland