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Gemeinsam haben die beiden Nachbarländer viele Anstöße für die europäische Einigung gegeben und waren immer wieder Kompass für neue, wegweisende Projekte der europäischen Integration. Der "deutsch-französische Motor" war in der Europäischen Union (EU) immer dann erfolgreich, wenn eine Dominanz der beiden Länder innerhalb der EU vermieden wurde. Dies sollte auch in Zukunft erreicht werden, denn die EU ist die Union aller ihrer Völker und Staaten.
Als wir beide 1979 bei den ersten Direktwahlen in das Europäische Parlament einzogen, wurden wir - wie die meisten der damaligen Kolleginnen und Kollegen - in unseren Heimatländern milde belächelt. Das Europäische Parlament schien bedeutungslos zu sein. Wer wollte seine politische Zukunft darauf bauen? Heute vertreten 736 Frauen und Männer aus 27 EU-Mitgliedstaaten etwas mehr als 500 Millionen Unionsbürgerinnen und -bürger. Sie arbeiten in einem Parlament, das mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon auf nahezu allen Feldern europäischer Gesetzgebung gleichberechtigter Partner der Regierungen der EU-Mitgliedsländer ist. Dies ist ein historischer Durchbruch für Europa, die Demokratie und den europäischen Parlamentarismus, der 1979 kaum vorstellbar war.
Von Geschichte und Tradition sind Frankreich und Deutschland in vielerlei Hinsicht unterschiedlich geprägt. Das muss kein Schaden sein, wenn wir begreifen, dass Vielfalt Bereicherung ist. Unterschiedliche Ansichten erfordern die Aushandlung von Kompromissen, die langfristig zu einer starken gemeinsamen Politik führen können. Das zeigt sich derzeit im Umgang mit der Finanzkrise: Die EU hat schnell und richtig reagiert, als im Mai 2010 der "Rettungsschirm" über den Euro gespannt wurde, der jetzt durch die gemeinsame Finanzmarktaufsicht ergänzt wird. Die entsprechenden Entscheidungen waren ein Ausdruck unserer Solidarität, ein Signal an die internationalen Finanzmärkte und ein wichtiger Schritt, um wieder Vertrauen herzustellen.
Was ist in dieser Lage die besondere Aufgabe des französisch-deutschen Tandems? Deutschland fordert eine Erneuerung der europäischen Stabilitätskultur. Frankreich hat eine "europäische Wirtschaftsregierung" vorgeschlagen. Beide Anliegen sind im Kern berechtigt und müssen miteinander verbunden werden. Es geht darum, dass die Kriterien für die Stabilität des Euro und die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft, wie sie im Vertrag von Lissabon festgeschrieben wurden, verteidigt werden - zum Wohle der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Binnenmarktes und sicherer Arbeitsplätze. Frankreich und Deutschland sollten Vorschläge für eine wirtschaftspolitische Strategie unterbreiten. Präsident Nicolas Sarkozy und Bundeskanzlerin Angela Merkel kennen ihre Verantwortung, und wir sollten sie zu gemeinsamem Handeln ermutigen. Die nationalen Parlamente sind auch ein entscheidender Motor. So haben sich der Deutsche Bundestag und die Assemblée nationale entschlossen, in allen Stadien der bedeutendsten Reformen, von ihrer Vorbereitung bis hin zu ihrer Umsetzung, engstens zusammenzuarbeiten.
Die EU steht vor der Aufgabe, nicht nur über Krisen, Ängste und Schwierigkeiten zu sprechen. Sie muss den Mehrwert der Gemeinschaft deutlich machen und ihre Entwicklungsmöglichkeiten nutzen. Wir werden nur dann unseren Platz in der Welt behaupten und unsere Chancen weltweit wahrnehmen können, wenn wir von unseren Möglichkeiten überzeugt sind. Wohin soll sich die EU entwickeln? Was wollen wir gemeinsam erreichen? Welchen Interessen und Werten sind wir verpflichtet? Wir sind überzeugt: Wenn wir das europäische Gemeinwohl stärken, stärken wir die Interessen und Anliegen der Unionsbürgerinnen und -bürger in allen Mitgliedstaaten der EU.
Diese Sichtweise berührt alle Felder der Politik. Frankreich und Deutschland sollten alles unternehmen, damit die EU international stark und handlungsfähig ist. Der jetzt im Aufbau befindliche "Europäische Auswärtige Dienst" kann dazu beitragen. Weitere Schritte sind notwendig. Zu einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik gehört auch eine gemeinsame europäische Armee. Dafür könnten Paris und Berlin die Initiative ergreifen. Gemeinsame deutsch-französische Militärausbildungsprogramme gibt es schon. Es wäre an der Zeit, den nächsten Schritt hin zu einer europäischen Truppe zu gehen. Die EU sollte eine ihrer politischen Bedeutung entsprechende Verteidigungspolitik entwickeln, mit gleicher Ausbildung ihrer Soldaten und der Harmonisierung der Waffensysteme, was im Übrigen viel Geld sparen würde.
Wir plädieren für eine noch stärkere kulturelle Zusammenarbeit unserer beiden Länder. Mehr vom anderen erfahren, mehr miteinander reden - das sind Anliegen, die sich in jeder Generation neu stellen. Voraussetzung hierfür ist das Erlernen der Sprachen. In beiden Ländern sind die Lernquoten derzeit rückläufig. Wir sollten immer wieder Anstrengungen unternehmen, dass in unseren Schulen die Voraussetzungen für das Erlernen der Sprache unseres Nachbarlandes geschaffen werden.
In der EU beginnen nun die Verhandlungen über den Finanzrahmen 2013 bia 2020. Frankreich und Deutschland sollten dabei sicherstellen, dass die Begegnungen junger Menschen - wie durch das Studentenaustauschprogramm "Erasmus" und andere Jugendprogramme - noch mehr gefördert werden. Investitionen in Forschung und Bildung, in den Austausch junger Menschen in Europa, gehören zu unseren Zukunftsaufgaben. Das kulturelle Europa, wozu ausdrücklich die Bewahrung der verschiedenen Identitäten gehört, muss ein Kernanliegen europäischer Politik werden. Wir müssen Europa eine Seele geben.
Die neuerdings stattfindenden Besuche von Ministern bei Kabinettssitzungen des Partnerlandes, die beim deutsch-französischen Ministerrat in Paris im Februar 2010 vereinbart worden waren, sind eine vorbildliche Initiative, um Verständnis und Vertrauen zu schaffen. Wir wünschen uns deutsch-französische Impulse für Europa, ohne Dominanz, fortschrittlich und der europäischen Idee verpflichtet.
Mit freundlicher Genehmigung der FAZ.