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Zukunftsentwürfe und politische Verantwortung

von Wilhelm Staudacher
Begrüßung und Einführung zum Symposium "Für eine bessere Zukunft", am 18. Mai 2006 in Berlin, Wilhelm Staudacher, KAS Generalsekretär.

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Anlässlich der Einweihung eines neuen Hauses über Zukunft zu diskutieren, ist angemessen. Und es passt zu uns, zur Konrad-Adenauer-Stiftung, denn wir wollen Entwicklungen beeinflussen, Zukunft mitgestalten, sie vordenken und auf sie vorbereiten.

Wo könnte man besser über Zukunft diskutieren als in Berlin, wo sich wie in keiner anderen deutschen Stadt Probleme, aber auch Chancen so sehr fokussieren. Unterschiedliche Kulturen, Ost und West, unterschiedlichste Denkweisen, Lebensstile und soziale Lagen, alte Industriegesellschaft und moderne Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft – das alles reagiert miteinander, befruchtet sich, aber reibt sich auch. Hier stoßen zwei Vergangenheiten zusammen, und es muss eine gemeinsame Zukunft gesucht werden.

Wenn wir heute über Zukunftsentwürfe sprechen, dann tun wir dies grundlegend anders als vor fünf oder 20 Jahren. Noch vor dem Jahr 2000 war Zukunft gekoppelt mit Utopie und Vision. Der Diskurs wurde von Intellektuellen geführt. Er war oft abstrakt und theoriegeleitet. Aber es gab daneben auch Bilder von Zukunft, wie wir sie etwa in den späten sechziger und siebziger Jahren über die Entwürfe des Lebens im Jahr 2000 hatten. Es gab positive Visionen, es gab Hoffnungen, die sich dann doch nicht erfüllten. Und es gab Ängste, die sich nicht bewahrheitet haben.

Viele werden die Bilder noch kennen von einer perfekt robotisierten Freizeitwelt, in der wir mit einem ufoähnlichen Privathubschrauber vom Dach unseres Hochhauses starteten, um eine überschaubare Stadtlandschaft zu überfliegen, mit Schluchten und Hochstraßen – so stellten wir uns das Leben im Jahr 2000 vor. Wie eine Synthese aus rationaler Kälte eines Le Corbusier und der romantischen Euphorie eines Frank Llyod Wright (Paul Nolte: Vorwärts in die Moderne, in: cicero, November 2004).

Diese Zukunftsvorstellungen der 60er- und 70er Jahre haben sich nicht bewahrheitet. Stattdessen haben wir die Dresdner Frauenkirche wiederaufgebaut und den Umweltschutz ins Politikbewusstsein gehoben. Statt der neuen Freizeitwelt ist Arbeit i. S. von Erwerbsarbeit von entscheidender Bedeutung geblieben. Mehr Arbeit ist sogar angesagt und nicht weniger.

Zerstoben sind auch Visionen von einer heilen Welt, von der einen Wahrheit. Das Zeitalter ideologisch einheitlicher Weltbilder ist zu Ende. Aber braucht man deshalb keine Bilder der Zukunft mehr? Richtig ist, es gibt nicht die eine Wahrheit; es gibt viele Wahrheiten; es gibt mehr Suchen und Fragen als Sicherheiten. Viele, sehr unterschiedliche Zukunftsbilder dringen auf uns ein. Aber dafür haben auch Wahlmöglichkeiten und Gestaltungsmöglichkeiten zugenommen. Um sie nutzen und angesichts schneller Veränderungen die Entwicklungen steuern zu können, darf man nicht wie früher Gegenwart und Zukunft trennen. Was wir heute tun oder versäumen, bleibt nicht ohne Auswirkungen. Wir tragen mehr Verantwortung für die Zukunft, weil sie uns näher gerückt ist, wie jüngst ein Kultursoziologe geschrieben hat.

Im Unterschied zur Diskussion vor dem Jahr 2000 scheint uns Zukunft weniger abstrakt. Der Diskurs über sie ist weniger visionär. Er ist pragmatischer und nüchterner geworden. Hätten wir damals schon, statt auf die Bilder zu schauen, den Vordenkern zugehört, wäre vielleicht manches schon abgearbeitet, was uns heute als Mühlstein um den Hals hängt. Renommierte Wissenschaftler haben bereits in den 70er Jahren davor gewarnt, dass der demographische Prozess, der ein Vierteljahrhundert in die falsche Richtung gelaufen ist, ein Dreivierteljahrhundert braucht, um gestoppt zu werden. Daher ist es heute nach Meinung einiger Demographen „30 Jahre nach 12“. Das betrifft nicht nur die Kinderlosigkeit, sondern auch die damit zusammenhängenden sozialen Sicherungssysteme und die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik.

Die Idee des Wachstums hat zwei Jahrhunderte lang die europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik geprägt. Ohne Wachstum kein Wohlstand, keine Arbeitsplätze, keine ausgeglichenen Staatshaushalte. Doch die Wachstumsraten der Vergangenheit sind vergangen. Und nun?

Wir brauchen auch in Zukunft Wachstum, und es ist nicht richtig, dass Wachstum nicht mehr möglich ist. Wer heute davon redet, es ginge ohne Wachstum, ist ein Phantast oder er hat die erste Million schon auf dem Konto. Aber richtig ist, dass der Automatismus – mehr Wachstum, mehr Beschäftigung – nicht mehr funktioniert. Warum das so ist und was daraus folgt, darüber lohnt das Nach- und Vordenken.

Deshalb halte ich auch nichts davon, kurzerhand das Ziel „Vollbeschäftigung“ aufzugeben. Wir müssen ihm vielleicht nur einen anderen Sinn geben. Was sind die Wachstumsmärkte der Zukunft? Wie müssen wir uns aufstellen, um davon zu profitieren? Was heißt das für Bildung, Ausbildung, Beschäftigung?

Ohne Arbeit kein Wohlstand, aber Arbeit allein reicht zur Sicherung des Sozialstaats nicht mehr aus. Andere Faktoren treten in den Vordergrund. Die zunehmende Kinderlosigkeit war bekannt und wurde verdrängt. Bereits 1979 hat Kurt Biedenkopf auf die „Interdependenz der Bevölkerungs- und Arbeitsplatzentwicklung“ hingewiesen. „Ist Arbeitslosigkeit unser Schicksal?“, mahnte er 1981 an. Ebenso wie bereits 1979 die Staatsverschuldung als programmierte Krise (von Miegel) vorausgesehen und 1981 eindringlich auf die Weiterentwicklung unseres Rentensystems als Zukunftsaufgabe hingewiesen wurde.

Dies sind nur einige Beispiele. Nicht die Vor- und Querdenker haben versagt in Deutschland. Die Politik hat die Mahnungen nicht gehört, man wollte die Zeichen an der Wand nicht sehen. Politik agiert und denkt vielfach in Wahlzyklen und agiert reaktiv, wenn der Problemdruck zum Handeln zwingt oder Mehrheiten schon da sind. Erforderlich ist aber ein langfristiges Erkennen von Problemen und „sanftes“ Umsteuern. Denn sonst stimmt alte Wahlkämpferregel doch: „Kassandra wählt man nicht“ – und wer Einschnitte verspricht, wird abgewählt.

Mit vielen Problemen haben wir zu tun. Ich will vier große Herausforderungen der Zukunft benennen:

  1. globalisierte Wirtschaft und Arbeitsmarkt;

  2. der Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft und die wachsende Bedeutung von Bildung;

  3. der demographische Wandel mit seinen Konsequenzen für soziale Sicherungssysteme und seinen Komponenten: verlängerte Lebenserwartung und Geburtenrückgang;

  4. das Leben in einer Welt, und damit in einer in Unordnung begriffenen und sich immer schneller verändernden Welt. Wir können nicht mehr zwischen nationaler und internationaler Politik trennen. Die Risiken sind global und deshalb muss auch die Verantwortung dafür global sein.

Alle diese Herausforderungen waren von Expertinnen und Experten seit Jahrzehnten prognostiziert. Insofern, könnte man zynisch anmerken, ist uns die Zukunft sehr vertraut.

Der Diskurs um Zukunft wird heute nicht mehr kulturell geführt und nicht mehr nur von Intellektuellen. Das Tempo der Veränderung und die Komplexität der Probleme macht wissenschaftliche Politikberatung und –begleitung zu einem Muss. Es wächst aber auch das Gefühl, dass Zukunft alle angeht. Deshalb brauchen wir mehr Beteiligungsmöglichkeiten für Wissenschaft, gesellschaftliche Gruppen, Interessenvertreter, Bürger und Politik. Die Zeiten der Kabinettspolitik, in denen Entscheidungen ex cathedra getroffen und dann dem Volk mitgeteilt wurden, sind vorbei. Die Bürger wollen heute schon bei der Entwicklung von Lösungen mitbeteiligt werden. Wer Lasten tragen soll, muss auch mitentscheiden und mitbestimmen können. Politik, die nicht verstanden wird und die nicht erklärbar ist, kann auch nicht mehr durchgesetzt werden. Sie hat keine Zukunft.

Ein immer wichtigeres Instrument, das auch direkten Einfluss auf die Gestaltungskraft von Politik nimmt, sind Umfragen. Im Mittelpunkt sehr vieler Erhebungen stehen vor allem die Ängste der Bürger vor Veränderungen. Knapp 60 Prozent der Befragten erwarten eine Verschlechterung ihrer finanziellen Situation (McKinsey, April 2006). Fast genau so viele (58 Prozent) befürchten, dass sie im Alter nicht mehr für Lebensunterhalt und Gesundheitskosten aufkommen können. Dieses sind die Ergebnisse der aktuellen McKinsey-Umfrage vom April 2006. Insofern ist es nicht so erstaunlich, wenn das Vertrauen in die eigentlichen Zukunftsgestalter, die Politik, schwindet.

42 Prozent der Deutschen – so Infratest Dimap vom 5. Mai 2006 – sind der Meinung, dass keine der Parteien wirksame Konzepte für die Lösung der Zukunftsprobleme Deutschlands besitzt. Wie diese Ergebnisse zeigen, gründen sie auf eine latente Unzufriedenheit. Angesichts der Fülle von Problemen sind 61 Prozent der Deutschen skeptisch, ob es einer der politischen Parteien gelingt, diesen Problemberg abzutragen.

In Deutschland sind Reformen zwingend notwendig, um die Handlungsfähigkeit des Staates auch in Zukunft zu garantieren. Dies stellt die politischen Akteure vor enorme Herausforderungen. Denn in Zeiten ökonomischer Knappheit und damit verbundenen Verteilungskämpfen muss die Politik Mehrheiten für unpopuläre Maßnahmen gewinnen. Zudem wird die Entscheidungsfindung in fast allen Politikbereichen immer komplexer, und in der Fülle von Details scheint der rote Faden für eine Zukunftsgestaltung verloren zu gehen.

Was also kann Politik in Zeiten, in denen es nicht mehr viel zu verteilen gibt, noch leisten? Drastische Einschnitte im wohlfahrtsstaatlichen Bereich bedürfen gerade in Schlechtwetterzeiten der Demokratie einer besonderen Legitimation. Insofern haben sich die Bedingungen des politischen Wettbewerbs in Zeiten ökonomischer Knappheit fundamental verändert. Dazu brauchen wir große Mehrheiten und die Integrationskraft von Volksparteien. Ihre Stärke war die kraftvolle Repräsentation verschiedener Lebensbereiche. In ihren Glanzzeiten gelang es ihnen, Generationen, Lebenserfahrungen, Biografien, Soziallagen und Wertbegründungen zu verklammern. Die Volksparteien brauchen diese Kräfte auch für die Gestaltung der Zukunft. Und wir brauchen andere politische Prozesse, Abläufe und partizipativere Verfahren.

Angesichts der aktuellen Zukunftsentwicklung erscheint dies notwendiger denn je. Deutschland – so der Wohlstandsvergleich der Deutsche Bank Research vom Mai 2006 – wird im internationalen Vergleich erst einmal weiter zurückfallen. Und dies trotz gestiegener Stimmung der Unternehmen, anziehender Konjunktur und verbessertem Privatkonsum. Deutschland fehlt, so das Fazit des Berichts, die Zukunftsorientierung.

Gefragt sind deshalb langfristige Strategien, die über die Tagespolitik hinausgehen und damit Politik und Parteien vor große Herausforderungen stellen. Wie sollten sich zukünftig (Volks)Parteien verstehen? Sie müssen über ihre traditionelle Rolle als Mehrheitsbeschaffer hinausgehen und Innovationsagenten für die Zukunft werden. Sie werden gezwungen, weniger zu reagieren als vorauszudenken. Sie müssten die Veränderungsprozesse frühzeitig erkennen und Maßnahmen einleiten und Mehrheiten schaffen - als Ideendienstleister auf dem Ideenmarkt. Sie brauchen mehr denn je den langfristigen Blick. Sie müssen den Bürgern Perspektiven eröffnen und Handlungsoptionen an die Hand geben. Für die Gestaltung der Zukunft brauchen sie ein großes Thema, Entschlossenheit zum Handeln und einen stabilen Überzeugungskern.

Lassen Sie mich zwei Zitate an den Schluss stellen, die gleichzeitig überleiten können zu dem Symposium, das sich anschließt. Das eine stammt von Arthur Schlesinger: „Democracy is not self-executing. It takes leadership to bring democracy to life. Great democratic leaders are visionaries. They have an instinct for their nation’s future, a course to steer...........“

Und das andere ist von James Mc Gregor Burns: „Leaders must offer moral leadership. They can express the values that hold society together. Most important, they can conceive and articulate goals that lift people out of their petty preocupations, carry them above conflicts that tear society apart and unite them in the pursuit of objectives worthy of their best efforts“.

Wir sind mitgefragt und das heutige Symposium gibt uns Gelegenheit dazu.

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11. Mai 2006
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Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

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Berlin Deutschland